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Die Aufgaben der Naturwesen – Gespräch mit einem Tannengeist
ОглавлениеUnter den Aufgaben der Naturwesen verstehen wir hier ihr Wirken, ihre Arbeit, ihre Denkweise und ihr Leben im Allgemeinen. Ihr ganzes Sein richtet sich nach ihrer persönlichen Lebensaufgabe. Die Naturwesen sind ihre Lebensaufgaben! So verwundert es nicht, wenn ihre Erzählungen und Berichte von dieser Einstellung stark geprägt sind.
Während wir Menschen nur während einer gewissen Zeitspanne arbeiten und nebenbei noch ein Privatleben führen, kennen die Naturwesen diese Unterteilung nicht. Für sie ist ihre Aufgabe Leben, Freude, Liebe und Seinszustand zugleich. Wir Menschen müssen verstehen, dass für die Naturwesen ihre Aufgabe „über allem“ steht. Sie ist der Grund ihrer Existenz, ihr Ansporn, ihr Lebensinhalt. Es durchdringt ihr ganzes Denken, Fühlen und Handeln. Es ist für sie selbstverständlich, dass jedes Wesen in ein ganz bestimmtes Handwerk „hineingeboren“ wird. Durch diesen Unterschied zum menschlichen Leben erscheinen einem gewisse Abläufe in den Geschichten der Naturwesen als fragwürdig oder sehr einfach und fast so, als hätten die Wesen gar keine andere Wahl. Zum Glück ist dies nicht der Fall. Die Naturwesen haben sehr wohl eine Wahl, was auch schön in der ersten Geschichte („Der Steinriese, der seine Aufgabe nicht mochte“) erklärt wird.
Meiner Meinung nach ist dies einer der größten Unterschiede, zwischen den Naturwesen und uns Menschen, abgesehen davon, dass sie keine festen Körper besitzen. Die Naturwesen kennen ihren Platz auf dieser Welt. Sie wissen um ihre Aufgaben und folglich auch um ihre Stärken und Schwächen. Auch sind ihnen die Regeln von Mutter Erde bekannt. Es sind dies weniger Gesetze, wie wir Menschen sie haben, sondern viel mehr Richtlinien, die einen großen Spielraum für individuelle Anpassungen lassen. So wächst ein Baum immer nach oben, aber niemand schreibt ihm dabei vor, dass er dies geradlinig tun muss. Es steht ihm frei krumm, verknotet, gegabelt oder wie auch immer er es möchte, gegen den Himmel zu gedeihen.
Und hier kommen auch die Naturwesen ins Spiel. Sie sind unter anderem auf der Erde, um den Pflanzen und Bäumen beim Wachsen zu helfen, sie gesund zu halten und den einzelnen Wurzeln den Weg zum Wasser zu erleichtern. Dazu braucht es natürlich auch all die Zwerge und Kobolde, welche emsig ihre Tunnel graben und so den Erdboden auflockern. Dank dieser Auflockerung fällt es auch den Wassergeistern leichter, zu den einzelnen Wurzeln der Bäume und der Pflanzen zu gelangen. Und so geht es endlos weiter. Ein Wesen reicht dem Anderen seine Hand und sie erschaffen so einen eigenen Zyklus, wie eine Spirale, welche unaufhörlich wächst und sich ausdehnt. Die Perfektion ist ihr Ansporn. Deshalb sind die Übergänge der einzelnen Aufgaben durch die verschiedenen Naturwesen fließend, sodass sie oft nicht mehr wahrgenommen werden.
Es wäre verheerend, wenn die Naturwesen plötzlich ihre Aufgaben niederlegen würden. Wer kümmert sich dann um die frische Luft, um das Wachsen der Pflanzen, darum, dass das Wasser sauber fließen kann und die scheinbar stummen Dinge beseelt werden? Wer würde dann den Tieren helfen, für sie sorgen und über ihre Sicherheit wachen?
Würde man sämtliche Aufgaben der Naturwesen aufzählen wollen, stieße man schnell an seine Grenzen, denn es gibt deren mehr an ihrer Zahl als wir Zahlen selbst kennen. Und jedes einzelne Wesen von ihnen ist wichtig. Jedes Einzelne von ihnen ist einzigartig.
Der Geist einer alten Tanne hat sich bereit erklärt und berichtet uns nun in seinen eigenen Worten ein wenig aus seinem Alltagsleben. Tannengeister sind stark auf ihr eignes Ökosystem konzentriert und so ist es auch schwieriger, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Über ihre spirituellen Aufgaben erzählen sie meist sehr wenig bis gar nichts. Dennoch haben sie eine kräftige Präsenz und ihre Gegenwart hat heilende Auswirkungen auf unsere Lungen.
Tannengeist:
„Geboren wurde ich aus Liebe und Dunkelheit. Meine Mutter hat mich in ein winzig kleines Etwas gesteckt. So harrte ich, vergraben in ihrem dunklen Leib, wusste nicht wer und was ich war. Ich schlief viel, sammelte Kräfte und versuchte mich zu orientieren. Zu Beginn sind auch wir Naturwesen etwas hilflos, so, wie ihr Menschen es als Babys seid. Allerdings kann unser Zustand nicht so ganz mit dem eurigen verglichen werden. Ich erinnere mich gerne an diese Dunkelheit zurück, denn in ihr lernte ich zuzuhören. Die Erde ist voller Leben und überall wispern und lachen seine Bewohner. Gelegentlich kamen einige Zwerge vorbei und lockerten die Erde um mich herum etwas auf und erklärten mir, dass ich nach oben wachsen müsse. Als dies aber nicht ging, tauchten zarte Dryaden auf. Sie trugen frische Wassertropfen in ihren Händen und besprühten mich damit, denn sie sind dafür zuständig, dass wir Bäume genügend Wasser haben. Was für eine Wohltat das gewesen ist. Nun konnte ich wachsen. Ich begann mich zu recken und zu strecken, wurde neugierig auf die Welt über mir.
Beim Durchbrechen der Oberfläche halfen mir wiederum die Zwerge. Mit ihren Hacken ließen sie die ersten Sonnenstrahlen durch und dann hörte ich das Singen. Viele, viele Feen und Elfen sangen Lieder, begrüßten mich hier oben. Die Lieder erzählten von meinem neuen Zuhause, vom Wald und meinen Nachbarn. Dann kamen die anderen Baumgeister, die gerade um mich herum wuchsen. Sie zogen mich hoch und hießen mich in ihrer Mitte willkommen. Was das für ein Fest gewesen ist...
Ihr müsst wissen, dass ich die Tanne bin. So wie ihr von einem Geist beseelt seid, sind auch die Bäume beseelt, nämlich von uns. Wir Tannen sind Nadelbäume und als solche unterscheiden wir uns von anderen Baumarten. Wir leben, denken und wachsen in der Gemeinschaft. Wir mögen die Nähe und Gedrängtheit zueinander, dass Geflecht unserer Wurzeln und die steilen Berghänge. Unser Zusammenhalt gibt uns Kraft.
Die ersten Jahre kümmerte ich mich um nicht Vieles mehr als zu wachsen. Ich lehrte von den älteren Tannengeistern, was die Aufgaben einer Tanne sind. Bald konnte ich mit meinen Ästen die ihren berühren – nun war ich wahrlich ein Teil der Gesellschaft. Und jeden Frühling kamen die Rehe und aßen meine frischen Triebe weg. Nun ja, ich ließ sie gewähren. Es sind schöne Tiere und nicht undankbar. Sie lassen einem immer die Hälfte übrig und außerdem kommen sie bei uns alten Bäumen oft nicht einmal mehr an die untersten Äste.
Je größer ich werde, umso mehr Gäste habe ich. Ameisen und andere Insekten klettern bis an meine Spitze. Ich mag ihr Gekrabbel, denn sie putzen mir gleichzeitig noch meine Rinde. Und irgendwie mögen sie meine Rinde auch.
Ich wachse, wir wachsen, immer weiter und höher hinauf. Unsere Wurzeln greifen gut in die kargen Böden, haften sich an Felsen fest, halten den Hang zusammen. Mit jedem Jahr werde ich schöner und stattlicher. Und je höher ich komme, desto mehr habe ich den Überblick und umso nützlicher bin ich für unsere Gemeinschaft.
Viele Luftgeister kommen, um sich auf mir auszuruhen und streichen dabei ihren Schmutz an mir ab. Das erste Mal war ich darüber sehr empört, bis mir erklärt wurde, dass ich die Kraft hätte, alles wieder zu reinigen. Dadurch, dass ich mit der Erde verbunden bin, kann ich ihre Nährstoffe immer erreichen. Es ist ein aufwändiges Unterfangen und soweit mir bekannt ist, haben eure sogenannten Wissenschaftler eine gute Erklärung dafür gefunden.
Natürlich mögen wir die Sonne. In ihrem Licht zu stehen ist wunderschön; es ist voller Kraft und Energie. Ihr seht, wir sind also ein kurzer Zwischenstopp für die Luftgeister, und sobald wir ihren Schmutz wieder in reinen Stoff gewandelt haben, ziehen sie weiter. Ich persönlich mag die Sylphen. Sie sind so leicht und lustig, wenn auch manchmal etwas nervös. Aber sie haben es nicht einfach, die armen Kleinen. Immer mehr von ihnen gehen an all dem Schmutz zugrunde, verlieren sich darin, und wir sind zu Wenige, um allen helfen zu können...
Was mache ich, was machen wir, sonst noch... Vögel und Eichhörnchen leben mit uns und sorgen dafür, dass die Insekten nicht unsere ganze Rinde essen. Dafür essen die Eichhörnchen unsere schönen Zapfen. Aber auch die lassen wir gewähren. Sie sind viel zu frech und zu hübsch, als dass wir es ihnen übel nehmen könnten. Und lustig mit ihren buschigen Schwänzen sind sie dazu.
Wenn es regnet, halte ich mit meinen Baumfreunden den Erdboden zusammen und helfe den Dryaden beim verteilen des Wassers an alle Pflanzen. Selbstverständlich behalte ich einen großen Teil immer für mich selbst, schließlich habe ich genügend Mäuler zu stopfen. Bei Sturm biete ich vielen Tieren Schutz. Die Sturmgeister sind mir manchmal etwas zu hektisch und sie können nie still stehen für ein kurzes Schwätzchen. Dafür helfen sie den Luftgeistern sich zu erholen, und sie bringen immer neue Geschichten aus fernen Ländern mit.
Wir Tannen mögen die Stille und die Routine, wir mögen die Ruhe der Berge und den weiten Himmel über uns.
Im Winter sorgen wir dafür, dass der Boden nicht ganz zufriert, denn sonst haben es die armen Erdbewohner gar zu kalt. Außerdem bieten wir vielen Tieren Schutz vor Schnee und Eis. Vom Winter habe ich nicht allzu viele Erinnerungen. Diesen verbringe ich ein einer Art Dämmerzustand, sammle Kraft für den Frühling. Andere Bäume wie die Buchen und Eichen, die ihr ganzes Laub abwerfen, schlafen sogar noch tiefer als wir Tannen. Wir aber mögen den Schnee und die Kälte, dann ist es so friedlich. Dann kann man wunderbar träumen...
Das ist ungefähr das, was ich tue. Nebenbei bin ich, wie alle meine Baumfreunde, ein Wissenshüter. Ihr könnt mich mit einer Bibliothek vergleichen und wer höflich fragt, der bekommt vielleicht eine Antwort. Es gibt so vieles, was wir wissen und gerne mit der Welt teilen, aber dafür muss man die richtigen Fragen stellen...“