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1. Mit Haut und Haar

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Ich bin (vor vielen Jahren und in der DDR) mit einer genetisch vererbten und vererbbaren Hautkrankheit auf die Welt gekommen, einer Ichthyosis, einer Fischschuppenhaut. Unter den Erbkrankheiten mit autosomal-dominantem Erbgang zählt sie zu den selteneren, jeder Hunderttausendste leidet darunter. Leidet — das ist kein gunstbuhlerisches Wort, es trifft den Kern. Bei der Fischschuppenhaut entwickelt sich die Hornschicht der Haut übermäßig, manchmal bildet sie schmutzig grün oder braun verfärbte, verhärtete Platten, besonders im Bereich der Gelenke, für gewöhnlich aber wirkt sie dem Schuppenpanzer der Fische, dem Schuppengeflecht der Schlangen nicht unähnlich. Alleine das würde ausreichen, die Haut zu hassen, weil sie bei den Mitmenschen Befremden erregt (wer denkt dabei — wenn er etwa zu meiner Generation gehört — nicht an den Film »Der Amphibienmensch«?). Aber darüber hinaus verschafft sie mir auch noch physische Plagen: Dort, wo sie Falten bildet und obendrein stark beansprucht wird, reißen ihr bei nasskaltem Wetter klaffende Wunden, durch die man manchmal bis auf die Knochen blicken kann. Vor allem die Knöchel an Fingern und Füßen sind betroffen, so dass es ein paar Mal schon so weit gekommen war, dass ich weder ohne Schmerzen laufen noch ein Stück Papier zwi­schen den Fingern halten konnte. Und wenn ich zu schwitzen beginne, verbreitet die Haut über den gesamten Körper ein Gefühl, als würde ich mich in einem riesigen Nagelkasten um und um wälzen; überall sticht und piekt es, und weil ich mich in der Öffentlichkeit dagegen nicht wehren kann, indem ich mich kratze, ohne in Verdacht au geraten, von Flöhen befallen zu sein, versuche ich's auf der Straße, in der Bahn mit Selbstbeherrschung, mit Autosuggestion, und gerate dann in einen Zustand von Trance.

Dies erzähle ich so ausführlich, um klarzustellen, welche Rolle mei­ne Haut in meinem Leben spielt, nämlich eine der Hauptrollen. Auf alles, was mit Problemen der Haut au schaffen hat, reagiere ich besonders sensibel, nicht nur in Hinblick auf mich selbst, sondern grundsätzlich. Erscheinen mir womöglich deshalb jene Arztpraxenschilder in den Sei­tengassen der Städte, dort wo der Putz verwittert, so suspekt: Kli­nik für Haut- und Geschlechtskrankheiten? Haut & Geschlecht, dass dies irgendwie zueinander in Beziehung steht, irgendwie miteinander verknüpft sein muss, habe ich schon immer unterschwellig wahrgenommen. Damit meine ich nicht den kosmetischen Aspekt, nicht »Skin, Sex, Society and Symbolism" (nach einem Buchtitel von Wendy Cooper, New York 1971), sondern ich meine den genetischen As­pekt, etwa dergestalt, dass »auch in den Geschlechtschromosomen, und hier fast ausschließlich im X-Chromosom, ... eine Reihe von heute bekannten Erbfaktoren« liegt (wie es damals in H.-A. Freyes Humangenetik. Einführung in die Erblehre des Menschen von 1978 hieß, allerdings war klar, dass diese Erbfaktoren mit der Geschlechtsbestimmung primär nichts zu tun haben).

Ich löste für mich die Klammer der Zurückhaltung auf und betone: primär nicht. Sekundär, tertiär, vielleicht doch. Jedenfalls schien es Ausnahmen zu geben. An dieser Stelle sei betont, dass wir hier von den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sprechen, also von einer Zeit, zu der an die Erfolge in der Genforschung, wie wir sie heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennen, noch nicht zu denken war, geschweige denn dass in der Gesellschaft ein allgemeines Bewusstsein für Transsexualität (Transgenderismus) und Intersexualität entwickelt gewesen wäre. Um so hellhöriger wurde ich, als in der DDR-Familienzeitschrift WOCHENPOST Mitte der sechziger Jahre der Bericht über einen Franzosen ver­öffentlicht wurde, der sich — ohne fremdes Zutun, wenn ich mich recht entsinne — von einem Kann in eine Frau verwandelte. Leider kann ich keine Quellenangabe mehr machen, jedoch ist der Bericht ge­treulich in meinem Gedächtnis optisch abgespeichert, ich habe ihn wohl mehrmals gelesen und muss mich im Nachhinein wundern, warum meine Eltern ihn nicht vor mir, der ich vielleicht dreizehn Jahre alt war, versteckt hiel­ten bei all der Prüderie, die unseren Alltag ansonsten bestimmte. Dem dreispaltigen Text waren Reproduktionen dreier Fotos beigegeben. Ein etwa dreißigjähriger Mann im strengen Straßenanzug, der verstört und leicht pausbäckig ins Objektiv der Kamera blickt und ein drei- oder vierjähriges Mädchen an der Hand hält. Derselbe Mensch, nun auf dem Weg zur Frau, im hochgeschlossenen, en­gen Kostüm, auf eine gouvernantische Art hager, ohne das kleine Mädchen. Schließlich sie im petticoatgewuschelten, taillierten Sommerkleid, wahrscheinlich aus Kunstseide, wie sie lachend, scheinbar befreit ausschreitet und wie­der das drei- oder vierjährige Mädchen wieder an der Hand führt. Es handelte sich wohl um den Fall einer der überaus seltenen Intersexformen, aber das ist jetzt meine nachträgliche Interpretation. Dass so etwas Überhaupt möglich war, beeindruckte mich sehr, denn schon damals wollte ich nicht länger ein Junge bleiben, hatte allerdings bereits gelernt, dass die geburtliche Geschlechtszuweisung unumkehrbar sei. Deswegen beeindruckte mich am allermeisten der Ärztekommentar. Solche Fälle, hieß es da, gingen einher mit Hautkrankheiten sowie mit Störungen der Nierenfunktion. Da hatte ich es wieder: Haut & Geschlecht. Beides war auf eine ata­vistische Weise miteinander verknüpft. Und wenn mir meine Ichthyosis zur Beweisführung nicht ausreichen sollte - diesmal wurde mir ein weiteres Argument frei Haus geliefert, ein urologisches. Damals kränkelte loh gerade an einer Nierenbeckenentzündung, obendrein war ich (übrigens bis ins frühe Erwachsenenalter) Bettnässer. Bedurfte es etwa weiterer schlagender Indizien dafür, dass auch ich auserwählt war, eines Tages das Geschlecht zu wechseln? Längst bevor ich diesen Artikel in der WOCHENPOST gelesen hatte, war ich besessen von dem Gedanken, eigentlich ein Mädchen zu sein. Jetzt endlich hatte man mir bewiesen: Das war nicht so verrückt, wie ich befürchtet hatte.

Täglich untersuchte ich meinen Körper nach etwaigen Veränderungen. Abends im Bett wünschte ich zu wissen, wie lang meine Haare sein würden, wenn ich da» 18. Lebensjähr erreicht habe (wozu man heute erklären muss, dass zu jener Zeit die Jungen meines Alters einen kurzen, ausrasierten Fassonschnitt zu tragen hatten, erst während der Pubertät, die mit den 68-er-Revolten zusammenfielen, ließen wir uns die Haare aus Protest schulterlang wachsen, machten damit aber an dem Gymnasium, das in der DDR »Erweiterte Oberschule« hieß, wenig Eindruck, weil wir einem quasi militärischen Drill unterlagen, weshalb man uns einfach befahl, zum Friseur zu gehen, widrigenfalls würden wir der Schule verwiesen).

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