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2. Auf nach Canossa

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Viele, viele Jahre schleppte ich meine Geheimnisse mit mir herum als eine unsichtbare Last, die auf meine Schultern drückte. Nicht zuletzt auch deswegen, weil ich nicht wusste, was mit mir los war. Den Begriff ›Transsexualität‹ kannte ich nicht, er kam im Sprachgebrauch der DDR nicht vor. Noch heute glauben deshalb viele, dieser Staat habe gar keine Regelung zur Geschlechtsangleichung besessen. In Wirklichkeit jedoch war in der DDR bereits am 27. Februar 1976 eine »Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten« erlassen worden, während die BRD erst am 10. September 1980 nachzog, dann allerdings gleich in Form eines Gesetzes. Dass es im Osten Deutschlands für die Transsexuellen keine Öffentlichkeit gab, mag man im Nachhinein als fatal empfinden, denn die Betroffenen hatten auf diese Weise große Schwierigkeiten, die kompetenten Ansprechpartner zu finden, insofern sie überhaupt erst einmal zu einer Selbstdiagnose gelangt und auf einigermaßen verständnisvolle Hausärzte getroffen waren. Andererseits dürfte ihnen die allgemeine Unwissenheit der Bevölkerung in dieser Sache bei ihrer Sozialisierung im »neuen« Geschlecht förderlich gewesen sein, weil ihnen keine aus dem Voyeurismus entspringende Arroganz entgegenschlagen konnte, wie dies heute oft der Fall ist. Mir zumindest hat das große gesamtstaatliche Schweigen nicht geholfen. Vielleicht war ich in dieser Hinsicht ein wenig naiv oder zu unbeweglich. Lange Zeit versuchte ich, mit Hilfe von Fachliteratur, die ich in einer Spezialbuchhandlung meiner Heimatstadt erwarb, hinter die medizinischen Gründe für meine Befindlichkeit zu kommen und hatte mich dabei auf die Zytogenetik versteift. Leider traf alles, was ich dazu las, nie wirklich auf mich zu. Erst als im Vorfeld der bundesdeutschen Gesetzgebung Fernsehberichte zur Transsexualität gesendet wurden (ich erinnere mich an einen Beitrag, in dem eine wunderschöne Frau mit ihrem Auto die Grenze passierte und dem Beamten mit charmanter Geste und zierlicher Hand ihren Ausweis reichte, worauf der Mann versteinerte), fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Nun konnte ich nicht mehr anders. Ich musste mich mitteilen, widrigenfalls hätte es mich zerrissen.

Die erste, der ich den Offenbarungseid leistete, war meine Ehefrau. Allerdings vollzog sich meine Demaskierung in Etappen. Ich bin kein sehr draufgängerischer Mensch und scheue überdies, andere zu ver­letzen (sei es nun körperlich oder seelisch). Ich begann mit Rollentauschspielen beim Geschlechtsakt und bezog nach und nach die Verkleidungsszenerie mit ein. Meine Frau gestattete mir, innerhalb dieses stark eingegrenzten, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ausschnittes unserer Wirklichkeit, einige ihrer Klei­dungsstücke zu benutzen, ohne dass sie meine Identität als Mann hätte in Frage stellen müssen. Um weitere Verwirrung zu vermeiden, betonte sie das Clowneske des Rollentauschs und bediente sich aus meiner Gar­derobe mit Schlips und Jackett. Das nützte mir natürlich überhaupt nichts, weil ich mich nicht für verkleidet hielt, nicht für falsch gekleidet, und weil ich meine Versuche, mich auch nach außen hin meiner eigent­lichen Identität zu nähern, durchaus nicht als ein Spiel empfand. So erhöhte ich, während ich bat, beim Beischlaf »unten liegen« zu dürfen, den Einsatz und raunte davon, dass ich lieber eine Frau wäre. Später zeigte ich meiner Frau die Winterhalbstiefel, die ich mir in einem An-&-Verkauf-Geschäft zugelegt hatte (Secondhand sagten wir damals noch nicht). Je mehr ich eiferte, desto mehr zog sie sich auf ihre professionelle Strategie der Gesprächsführung zurück (meine Frau arbeitete als Sozialfürsorgerin in einer städtischen Beratungsstelle). Sie lauschte mir aufmerksam, speicherte meine Wünsche protokollarisch in ihrem Gedächt­nis und — unternahm nichts.

Ich litt zu dieser Zeit wahrscheinlich weniger unter der Transsexualität als darunter, »für nichts und wieder nichts« meine Seele auf dem silbernen Tablett dargereicht zu haben, denn meine Ehrlichkeit hatte mir nichts »eingebracht«. Damals glaubte ich noch an den kapitalfetischistischen Mythos, eine Leistung müsse zwangsläufig eine Gegenleistung nach sich ziehen. Weil ich — als geübter Televisionsvoyeur — auf eine Fortsetzung der begonnenen Serie drängte und gleichzeitig Unmengen an Alkohol konsu­mierte, um die Frau in mir zu ersäufen, setzte ich die Frau neben mir so unverschämt unter Druck, dass sie sich scheiden lassen wollte. Schon bewahrte sie die Gerichtsformulare in ihrem Schreibtisch auf. Aber die Vorstellung, uns voneinander zu trennen, hielten wir auch nicht aus.

Obwohl sie es von Berufs wegen hätte besser wissen müssen, glaubte meine Frau noch immer, die Transsexualität ließe sich wegtherapieren. Nach einem »Rückfall« — ich hatte mich, während die Kinder in der Schule weilten, eines samstags demonstrativ in Minilederrock und Stöckelschuhen an den Frühstückstisch gesetzt — besorgte sie mir einen Termin bei einer Psychiaterin. Aber im Grunde erreichte sie genau das Gegenteil von dem, was sie hatte erreichen wollen: Die Psychiaterin durchschaute ihre Absichten (schon deswegen, weil sie von meiner Frau und nicht von mir um Hilfe antelefoniert worden war) und gab mir zu verstehen, dass ich meine Lage nur verschlimmerte, wenn ich meine Neigung nicht für mich annahm, sondern gegen sie ankämpfte. Als ich meiner Frau dieses Resultat meiner ersten Begegnung mit Frau Dr. Niendorf kundtat, brachten wir uns beide zum Heulen, denn wohin eine Haltung, in der ich mich als Frau auslebte, konsequenterweise führte, war klar, vielleicht für die anderen eher als für mich, denn für mich gab es immer noch allerhand technische Probleme.

Weinen reinige die Augen, heißt es in einem Sprichwort. Da bin ich mir nicht so sicher. Ich nehme eher an, es neutralisiert die Gefühle, indem es sie wässert. Jedenfalls lebte meine Frau mit mir seitdem in einer Art antiseptischen Laboratoriums, wir vermieden sogar, aneinander Hautkontakt zu bekommen, wohl weil sie immer wieder auch vor sich selbst beteuerte, nicht lesbisch zu sein (womit sie mich, auf diesem Umweg, doch als so etwas wie eine Frau anerkannte). Ein Dauerzustand konnte ein solches Beisammenleben nicht sein, alleine wegen der Unaufrichtigkeit, die in der Verschweigung lauerte. Warum meine Frau glaubte, es könnte genügen, einfach wegzugucken, weiß ich nicht. Vielleicht gehört die Vogel-Strauß-Politik doch zur Urausstattung menschlicher Verhaltensweisen, oder manch eine hat ihre Büroarbeit verinnerlicht und glaubt, die Hälfte der Aktenvorgänge erledigt sich von selbst, wenn man sie nur lange genug liegen lässt. Für mich war die Aussicht, »etwas« könnte »noch länger dauern«, mörderisch. Als wir bereits voneinander geschieden waren und getrennt in zwei Städten lebten, hatte meine Exfrau lange Zeit Probleme damit, mich in den Briefen mit meinem neuen Namen anzureden. Auch heute noch verkehren wir miteinander nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Unser Umgang hat sich nie wieder normalisiert.

Am schmerzlichsten war für mich der Gedanke an unsere Kinder und die verpasste Chance, sie nicht nur aufwachsen zu sehen, sondern sie wie selbstverständlich mit meiner Transsexualität erwachsen werden zu lassen. Dr. Paderewski, mein Psychologe an der Universitätsklinik, den ich von 1990 an pflichtgemäß konsultierte, hatte uns den Rat gegeben, die Kinder, die damals noch jünger als zehn Jahre und seiner Meinung nach »genau im richtigen Alter« waren, mit der Wahrheit zu konfrontieren. Sie seien alt genug, um zu verstehen, wovon wir reden, aber noch zu jung, um alle Konsequenzen zu begreifen und vor ihnen zu verzagen. So würden sie nach und nach mit der Transsexualität aufwachsen und vertraut werden wie mit ihrer Muttersprache. Zunächst folgten wir der Empfehlung. An einem Wochenende — ich wohnte schon außerhalb — sagten wir »es« den Kindern. Ich kleidete mich um und schminkte mich, um zu zeigen, was genau ich meinte. Dr. Paderewski behielt recht. Die Kinder verkrafteten die Nachricht und verarbeiteten sie spielerisch. Sie stopften sich Apfelsinen unter die T-Shirts und stolzierten lachend durch den langen Korridor unserer Wohnung.

Leider haben wir an diesen ungezwungenen Umgang mit dem Problem nie wieder anknüpfen können. Das war natürlich zu allererst den äußeren Bedingungen unseres Lebens geschuldet. Ich zog in eine andere Stadt und meine Frau ließ sich von mir scheiden. Eine Weile traf ich meine Kinder noch auf exterritorialem Gebiet. Mal nahm ich sie in den Zirkus mit, in den ich alleine nie gegangen wäre, weil ich ihn hasse, mal fuhren wir auf dem Teich der Kreisstadt Tretboot, wobei eines meiner Kinder eine Sandale verlor, deren Boden aber Gott sei Dank aus Holz gefertigt war, so dass sie auf dem Wasser schwamm und von mir wieder eingefangen werden konnte. Ein letztes Mal war ich der Held. Sobald die Hormonsubstitution auch dergestalt anschlug, dass sich an mir Brüste entwickelten, die von Woche zu Woche deutlicher sichtbar wurden, brach meine Frau den Kontakt zwischen mir und meinen Kindern ab. Natürlich nicht offiziell und ausdrücklich. Dass sie das nicht durfte, wusste sie. Sie ließ sich am Telefon von ihren Kolleginnen verleugnen (es handelte sich um ein Diensttelefon, denn auch noch kurz nach der so genannten Wende besaß im Osten Deutschlands kaum jemand ein privates), sie schob irgendwelche Krankheiten der Kinder vor, oder dass sie sich im Chorlager aufhielten bzw. lernen müssten. Ich selbst war mit meiner neuen Arbeit — einer von mir gegründeten und geleiteten Wochenzeitung in der Stadt meinen Kindheit, die ich zunächst ganz alleine betrieb, bevor wir nach etwa einem Jahr zu siebent waren — so beschäftigt, dass ich die familiären Querelen mehr und mehr aus dem Auge verlor. Natürlich spielte dabei auch ein stark ausgeprägter Egozentrismus eine Rolle, wie bei fast allen Transsexuellen. In der Phase des Coming Out war unsereins so heftigen Attacken von allen Seiten ausgesetzt, dass uns gar nichts anderes übrig blieb, als eigennützig und selbstsüchtig aufzutreten, wenn wir überleben wollten. Das klingt genauso dramatisch, wie es sich verhielt. Die ständigen Angriffe gegen mich, die Steine, die man mir in den Weg legte, führten letztlich dazu, dass ich meine Arbeit verlor und von da an beruflich nie wieder ganz auf die Beine kam. Mir bleibt zu hoffen, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zwischenzeit zum Besseren gewendet haben. Allerdings kommen mir Zweifel vor allem bei den Berichten junger Transsexueller über ihre Erlebnisse in der Schule. Zu meinen Kindern habe ich erst wieder eine enge Beziehung aufbauen können, nachdem sehr viel Zeit vergangen und ich mittlerweile fünfzig Jahre alt geworden war. Ich lud sie zum Abschlusskonzert eines Chores ein, den ich zwanzig Jahre geleitet hatte und nun wegen etwas, das man heute Burnout nennt, verlassen würde, und sie kamen.

Die zweite, die von meiner frühen Mitteilungswut über keine transsexuelle Veranlagung erwischt wurde, war eine (kunst-)handwerklich außerordentlich begabte Freundin, die in einer Tischlerei arbeitete und gleichzeitig Grafikerin und Malerin war. Mittlerweile zimmert sie sich ihre Wohnzimmerschränke selbst (mit riesigen Glastüren) und leitet einen Malzirkel. Sie ist geschieden und hat zwei Kinder. Nicht nur die Seelenverwandtschaft zwischen uns beiden als Künstlerinnen war also hilfreich bei meinem selbsttherapeutischen Vorstoß, sondern auch die Tatsache, dass Beate ohne Mann lebte. Durch sie, die eine sehr schöne Frau war, habe ich zum ersten Mal so richtig begriffen, dass ich andere Frauen für erotisch stark ausstrahlend halten kann, ohne sie begehren zu müssen, ja sogar dass Zärtlichkeit, die man sich unter dieser Voraussetzung entgegenbringt, etwas ist, das Männer mit Frauen überhaupt nicht kennen, eben weil es jeden Besitzanspruchs, jedes kolonisatorischen Eindringungsversuchs entbehrt und — statt Mittel zum Zweck zu sein — ganz sich selbst genügt.

Bei allem Verständnis für meinen Konflikt vermochte Beates letzte Skrupel aber nicht abzulegen (heute weiß ich, dass es eine Art spiegelbildlicher Reaktionen gibt, was in diesem Falle meint: auch ich war zu jener Zeit unfähig, meine Skrupel abzulegen, folglich hat sich Beate unbewusst nicht veranlasst gesehen, es ihrerseits zu tun). In einem ihrer Briefe schrieb sie mir (und da kündigte sich ein Dilemma an, das mich fortan immer wieder behelligte): etwas zu verstehen, wäre die eine Sache, etwas »mitzumachen« wäre eine andere und wenn ich sie, Beate, besuchte, sollte ich »kommen wie immer« — also, in der Interlinearübersetzung, mit den Attributen des Mannes.

Als ich den entscheidenden Satz mehrmals laut las, kriegte ich einen faden Geschmack auf der Zunge. Das »Mitmachen« verströmte ein Aroma von Taschendiebskumpanei. Wieso »mitmachen«? Hatte ich denn zum großen Coup geblasen? Offensichtlich ja. Rollenzwang scheint sich nicht nur auf die eigenen Vorschriften zu beziehen, sondern auch auf das Bild, das man von einem anderen Menschen hat. Auch da erfolgt wohl eine spiegelbildliche Reaktion, weil man in die Beziehung zu einem anderen Menschen viel eigene Arbeit investiert hat und sich deswegen im Bild von dem anderen Menschen selbst wiedererkennt. Vielleicht hatte Beate Angst, sich in meinem Spiegel nicht mehr als Frau sehen zu können, wenn ich sie nicht als der Mann, der ich anatomisch bin, begehrte. Vielleicht wäre auch sie wie meine Frau eines Tages mit dem Eingeständnis herausgerückt: Ich bin nicht lesbisch. Vielleicht gäbe es solche Schwierigkeiten im Umgang miteinander nicht, wenn niemand den Wechsel von dem einen Geschlecht ins andere wahrnähme (i. S. v. am anderen beobachten, mit ansehen). Die Veränderung ist es, die bange macht, die Freiheit oder gar Ungezügeltheit einer Selbstverwirklichung verunsichert die Danebenstehenden, nicht etwa der Zwang zu einem jahrhundertealten Moralkodex, nicht die Vergewaltigung unserer hermaphroditisch-bisexuellen Veranlagungen.

Dass selbst eine Künstlerin Befangenheit in ihrer Geschlechterrolle äußert, beweist entweder die Zählebigkeit der Geschlechterrollen, oder die Verschiedenartigkeit der Künstlerinnen, oder die Unbrauchbarkeit der feministischen Theorien. Oder alles zusammen.

Gundula kenne ich seit der Zeit unseres gemeinsamen Studiums. Damals war sie verheiratet mit dem Prototyp von einem Macho. Von dem wurde sie verprügelt. Er hatte eine Menge Kraft in den Armen, denn nebenher war er Sportruderer. Gundula war damals schon Mutter zweier Kinder, eines Jungen und eines Mädchens, später, in einer weiteren Ehe, hat sie noch ein Mädchen und noch einen Jungen geboren, und zwar zu Hause, nicht in der Klinik. Das Mädchen aus erster Ehe starb, als es etwa drei Jahre alt war, an einem Gehirntumor. Gundula machte sich Vorwürfe, am Tod des Kindes schuldig zu sein. Sie glaubte, durch übertriebene Fürsorglichkeit bei ihrem Kind Stresssituationen ausgelöst zu haben, im Verlauf derer sich die Krankheitssymptome verschärften oder gar erst herausbildeten. Hinzu kamen die Versagensängste in einer Partnerschaft, in der sie ohnehin als unfähig apostrophiert wurde. Man muss wissen, dass Gundula zu jener Zeit bereits promovierte Philologin gewesen ist, ein Umstand, der ihren ingenieurpraktischen Patriarchen eher veranlasste, Häme über seiner Frau auszugießen. Gundula verlor jede Selbstsicherheit, jede Zuversicht, allen Glauben. Sie begann, so stark unter Depressionen zu leiden, dass sie sich in Psychiatrische Behandlung begeben musste. Obwohl ihr Arzt in Fachkreisen nicht eben den besten Ruf genoss, war der Therapieerfolg verblüffend. Als ich vor Jahren Gundula mit in das Probenlager meines Chores nahm, wo sie mir als Korrepetitorin aushelfen sollte, kam sie - übernächtigt, ohne Geld und Jacke - von der Abschiedsfeier ihrer Gruppe. Beim Laufen verschränkte sie die Arme vor der Brust und machte kurze, schleifende Schritte, bei denen sie die Knie nicht durchdrückte. Selten blickte sie vom Boden auf. In einer der Proben, als ich ein rührseliges deutsches Volkslied paukte, weinte sie plötzlich, und doch spürte ich schon damals, dass sie mir Erfahrungen voraus hatte, die sie einmal stärker machen würden als mich. Diese Erfahrungen ließen sich in zwei Begriffen kategorisieren: ›Wahrheit‹ und ›Intensität‹. Noch während des Probenlagers listete sie mir die vielen (nur scheinbar geringfügigen) Unwahrheiten meines Alltags auf, die beschönigenden Schwindeleien, mit deren Hilfe ich mich durch die Chorvorstands-Diplomatie mogelte. Dass sie alles, was sie tat, mit Ausschließlichkeit tat — im Gegensatz zu uns anderen —, war nicht zu übersehen. Hatten wir vor ihr überhaupt Angst, Trauer, Hass, Liebe, Freude gekannt? Am Abendbrottisch in der Gaststätte des Dorfes brachte Gundula auch mich zum Weinen. Sie massierte mir Schläfen und Hinterkopf. Meine Gedanken schwappten aus wie ein Eimer Wasser, den man verschüttet. Warum ich weinte, weiß ich nicht. Womöglich aus Scham.

Als ich mich Gundula später mit einem Brief anvertraute, hatte sie wieder geheiratet. Wie sie selbst, war ihr Mann beim Neuen Forum. Ein Aussteiger, der bei der Kirche als Hausmeister arbeitete und später als Mitherausgeber einer Zeitung in Erscheinung trat (als die Zeitung Pleite machte, funktionierte man das Ganze zur Druckerei um). Gundula hatte mittlerweile eine Selbsthilfegruppe nach den Prinzipien der Emotion Anonymous gegründet und innerhalb des Neuen Forums eine Arbeitsgruppe »Frauen Mütter Familie«. In beiden versuchte ich Fuß zu fassen, was mir aber nicht so recht gelingen wollte. Vielleicht auch deshalb, weil Gundula‘s Haltung zu meiner Transsexualität von einem Pietismus geprägt war, der seine mystisch-spiritualistischen Wurzeln nicht leugnete. Da ich weiß, dass vor allem das Christentum über die Kanonisierung der Heiligen Schrift, speziell aber mit den randgruppenfeindlichen zehn Geboten wesentlichen Anteil hat an der Diskriminierung auch der Transsexuellen, ist es mir unmöglich, in einer für mich lebenswichtigen Angelegenheit einen solchen religiösen Index zur Grundlage meines Handelns zu machen. Es hieß: Ich dürfe in Gottes Schöpfung nicht eingreifen. Ich entgegnete: Dann dürfte ich mich auch nicht umbringen wollen, weil ich es nicht mehr aushalte. Dann dürfte ich nur noch es nicht mehr aushalten. Und während ich es nicht mehr aushalte, müsste ich warten, bis das geschieht, was Gott mit mir vorhat. Bloß was hat er vor? Meine Standartfrage damals lautete: Was fangt Ihr mit einer perforierten Appendix an? Vor der Operation erst einmal abwarten, was Gott dazu meint? Mir fiel auf, dass mich Gundula immer wieder als Transvestit bezeichnete. Zunächst hielt ich das für einen Versprecher, bald irritierte es mich. Ich fragte sie auf den Zopf zu, ob sie nicht den Unterschied kenne zwischen Transvestiten und Transsexuellen. Es stellte sich heraus: Sie kannte ihn nicht. Wir hatten monatelang über einen Sachverhalt verhandelt, der ihr im Grunde völlig unbekannt war, obwohl sie »so Leute kannte«, einen, der früher in der Gruppe war und jetzt eine Frau ist (aber wohl auch nicht glücklicher, wie Gundula sich beeilte hinzuzufügen) und eine, die da arbeitet, »wo die Operationen gemacht werden« (und erneut beeilte sich Gundula hinzuzufügen: das geht mit Warteliste und dauert lange, zwei Jahre). Ich will im Nachhinein nicht ungerecht erscheinen. Gundula hat mir in einer Phase, in der ich so egoistisch war — so egoistisch sein musste — wie vorher selten, über eine schwere Lebenskrisis hinweggeholfen mit sehr viel Geduld, überraschenden Einsichten und Wärme (wenn ich heute alte Briefe hervornehme, die ich seinerzeit geschrieben habe, oder in meinen Tagebucheintragungen von damals lese, wird mir bewusst, was für ein Stinkstiefel ich war und um wie viel mehr ich das Bemühen meiner Freundinnen wertschätzen muss, mit mir auszukommen). Aber unsere untaugliche Versuchung der Transsexualität ist typisch. Die Betroffenen sehen keine Veranlassung, auf sich aufmerksam zu machen, im Gegenteil, also bleiben für gewöhnlich ihre Aphorismen unveröffentlicht, den Moralisten hingegen lassen freie Hand diejenigen, die schweigen, und so war seinerzeit, als es noch kein Privatfernsehen gab, die Entrüstung über die Geschlechtskonvertiten allenthalben groß, allerdings auch der Dilettantismus bei der Aufzählung der Gegenargumente. Ein Bremer, der übers Wochenende zu einem mehrtägigen Treffen unserer EA-Gruppe angereist war, sagte mir in einer Pause unter vier Augen, er glaube nicht daran, dass es eine Seele in einem falschen Körper gebe, im gleichen Atemzug forderte er mich auf, ihm meine bis auf die Minute der Geburt exakten Lebensdaten zu überantworten, weil er mir aus denen ein Horoskop erstellen wolle, unter anderem, um den prozentualen Anteil meiner Weiblichkeit festzustellen. Da war der Punkt erreicht, an dem ich nach Luft schnappte. Überhaupt — wenn schon »endogener Mythos« (Siegmund Freud), dann bestehe ich darauf, mein Horoskop nicht für die Minute angesetzt zu bekommen, in der ich dem Mutterleib entrissen wurde, sondern für die Hundertstel Sekunde der Konzeption, für den Urknall sozusagen.

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