Читать книгу Verrückt genug fürs Leben - Sophie Bassignac - Страница 4

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Es war das Jahr meiner Schwester. Wir feiern Silvester abwechselnd bei mir und bei ihr. Wenn Agnès an der Reihe ist, uns zu empfangen, wissen wir, dass wir einen schönen Abend verbringen und vor allem gut essen werden, denn Kochen ist ihr Beruf. Sie hat ein Restaurant in einer Fußgängerzone im 15. Arrondissement, das immer ausgebucht ist. Wie schon erwähnt, ist meine Schwester sensibel. Ein paar Monate nach dem Drama waren bei ihr die Sicherungen durchgebrannt, die seit ihrer makabren Entdeckung in der Garage geschmort hatten. Am Tag des mündlichen Abiturs hatte Agnès vor einem verstörten Lehrer, puterrot und schnaufend wie ein Ochse, nacheinander ihre Kleidungsstücke abgelegt und am Ende in Slip und BH im Prüfungsraum gestanden. Sie wurde aus dem Verkehr gezogen und irrte dann jahrelang zwischen Psychiatern und Entziehungskuren hin und her, bis sie in der Küche eines Onkels landete, der Gastwirt war und sie wieder auf die Spur brachte.

Agnès ist eine intelligente Frau, und ihre immer mütterliche Küche ist eine subtile Mischung internationaler Kultur und französischer Tradition. Alles interessiert sie, und sie probiert ständig etwas Neues. Sie hat keine Kinder, aber einen Mann, den sie zusammen mit ihrer Berufung im Restaurant unseres Onkels gefunden hat. Antoine, Mathestudent und in den Ferien Tellerwäscher, war dort beschäftigt. Dicker Kopf, sanft und ruhig wie ein Labrador. Er unterrichtet in der Vorbereitungsklasse für die Hochschule und spielt samstags früh mit seinen Schülern Fußball. Eigentlich sollte ich nicht sagen, dass Agnès und Antoine keine Kinder haben. Sie haben zwei – meine, umständehalber. Da Philippe ständig auf Reisen ist und auch ich ziemlich oft unterwegs bin, haben unsere Kinder zwei Zuhause. Seit Végas Geburt vor sechzehn Jahren hat keiner von uns dieses Arrangement jemals infrage gestellt, weil alle auf ihre Kosten kommen. Agnès und Antoine haben dadurch zwei schon fertige Kinder gewonnen, Philippe und ich die für unsere jeweiligen Leidenschaften unverzichtbare Freiheit. Und Louis und Véga haben die Möglichkeit, bei den einen zu erhalten, was man ihnen bei den anderen verweigert, genießen also die Privilegien von Scheidungskindern, ohne unter den Unannehmlichkeiten zu leiden. Unsere geteilte Fürsorge gleicht einem kleinen selbst verwalteten Unternehmen, in dem jeder etwas zu sagen hat. Zwangsläufig knirscht es manchmal. Aber nicht mehr als anderswo.

Meine Schwester hat wenige Freunde. Von ihren verrückten Jahren hat sie ein tiefes Misstrauen gegen zufällige Begegnungen und neue Gesichter bewahrt. Die wenigen Auserwählten, die sie bei sich empfängt, werden dafür wie Kranke verhätschelt und wie Könige ernährt. Wir kamen als Letzte und wurden von ihr mit großem Pomp empfangen, das ist ihre Art. Unter der Kochschürze trug sie eins dieser Kleider, deren Geheimnis nur sie kennt und die man in keinem Geschäft findet. Seit ihrer Kindheit kleidet sich Agnès in Grün. Sie sagt, dass Grün sie begeistert, und fügt hinzu, sie könne nicht erklären, weshalb. Eine Goldkette, fein wie ein Spinnenfaden, schwang im Rhythmus ihrer Bewegungen an ihrem Hals. Meine Schwester hat den gleichen flachen Hintern und den gleichen Knochenbau wie ich, ist aber zehn Zentimeter größer, was einen großen Unterschied macht.

An jenem Abend waren Agnès’ übliche Gäste da. Mickey ist ihr amerikanischer Küchengehilfe, ein mit Maori-Tattoos bedeckter herausragender Patissier. Die Kinder lieben ihn. Véga, fasziniert vom blauen Spitzenmuster auf seinen Unterarmen, hat sich inzwischen zwar abgewöhnt, auf seinem Schoß zu sitzen, betrachtet ihn aber hingerissen und nostalgisch aus der Entfernung. Die Cuaults, ein schwerreiches, diskretes Paar, saßen nebeneinander auf dem Sofa und nippten freundlich an ihrem Champagner. Die beiden machen immer den Eindruck, als sei es für sie eine große Ehre, zu meiner Schwester eingeladen zu sein. Ich mag sie gern. Vor allem die Frau, die sich aus ihrer frühen Kindheit die Fähigkeit zu spontaner und rührender Begeisterung bewahrt hat. Sie lacht nie, ohne dabei in die Hände zu klatschen. Die Cuaults lauschen andächtig und trinken ohne Zurückhaltung, ohne etwas von ihrem bürgerlichen Geheimnis zu offenbaren. Ich vermute, dass sie meiner Schwester geholfen haben, die Anteile ihres Geschäftspartners zu kaufen, als der sie im Stich gelassen hat.

Der Abend kündigte sich an, wie er tatsächlich verlief: ruhig, freundlich und leicht. Zumindest dem Anschein nach. Denn im Leben findet alles auf zwei Ebenen statt. In jedem Augenblick. Es gibt den Putz an der Oberfläche, den unser Wortschatz beschreiben, verstehen und erzählen kann. Und eine tiefer liegende Ebene, auf der das Leben nicht in Echtzeit abläuft; wenn man will, kann man versuchen, sie im letzten Moment zu erwischen, bevor sie sich entzieht und auf immer für unsere Erfahrung verloren ist. Allein mit meinem Blick bewaffnet, habe ich sehr früh eine dezente Aufmerksamkeit für alles entwickelt, was sich um mich bewegt. Ich frage mich immer, wie es bei den anderen um dieses subsidiäre Bewusstsein steht. Die Erfahrung hat mich gelehrt, bei den Künstlern, die ich zu Unrecht als vollwertige Mitglieder dieser Familie zwanghafter Beobachter angesehen hatte, zu differenzieren. Einige, zu denen ich gehöre, spionieren unter dem Deckmantel von Müßiggängern, Rentiers oder Ganzjahresurlaubern auf eigene Rechnung vom Aufstehen bis zur Nachtruhe. Andere machen sich nicht die Mühe und beschäftigen sich nur mit Ideen. Wie machen sie das nur? Das Leben ist doch keine alte Geschichte!

Ich rede bei solchen Abendgesellschaften nicht viel. So kann ich mich ganz auf die faszinierende Mechanik der Körper konzentrieren. Der Marionettenspieler ist ständig auf der Suche nach unbekannten Gesten. Sie tauchen auf wie neue Worte im Alltagsvokabular, aus dem Nichts oder aus Filmen und ausländischen Serien übernommen. Das ist ein ständiges work in progress, in dem Natur und Kultur eine bewegte Beziehung eingehen. Ererbte, gelernte, nachgeahmte, natürliche oder künstliche Gesten, Ticks und Macken. Jeder von uns sendet Signale aus, die ich erfasse und klone. Die Menschen ahnen gar nicht, wie sehr sie mir gehören. Ich bin ein Spiegel, in dem sie sich nicht sehen. Mickey hat das nervöse Trommeln seiner Finger nie erkannt, wenn Théodora, meine Marionette, es exakt nachahmte. Ebenso wenig wie Philippe sein Nicken, mit dem er bestätigt, was er hört. Oder Louis das Schulterzucken, das sein fehlendes Selbstvertrauen verrät. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie ich die Liebkosung von Agnès’ Händen wiedergeben soll, die sich wie heilende Pflaster auf die Arme ihrer Tischnachbarn legen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester nichts merken wird, wenn eins meiner Geschöpfe das endlich schafft. Und dennoch, dennoch, und das ist mein heimlicher Triumph, spüren alle, dass ich von ihnen spreche. Sie wissen nicht warum, aber alle teilen mit meiner Holzpuppe eine Verwandtschaft, die sie verwirrt.

An jenem Abend gab es einen neuen Gast mit recht interessanter Gestik. Es war Agnès’ Nachbar. Mit seiner Glatze und seinem Vertreteranzug hätte er genauso gut ein gerade freigelassener Häftling, ein Mönch in Zivil oder der Bipolare sein können, der das Unglück in eine Kriminalgeschichte bringt. Mit seinem Athletenkörper und dem Kopf eines geschorenen Mädchens erzeugte der Mann das intellektuelle Unbehagen, das ein Oxymoron, eine störende Dualität in uns auslöst. Ich beobachtete ihn fasziniert und hörte ihm kaum zu. Er dehnte beim Sprechen die Halsmuskeln von rechts nach links, während er mit gespreizten Beinen und hängenden Armen auf der Sofalehne saß wie ein Tennisspieler, der zwischen zwei Sätzen Atem schöpft. Da er gerade von einem Aufenthalt in Korea zurückgekommen war, stand er beim Aperitif im Mittelpunkt, gab sich jedoch bald geschlagen, überrollt von den üblichen Insiderwitzen unserer kleinen Truppe.

Ein Abendessen bei meiner Schwester folgt immer dem gleichen Protokoll. Es gibt keinen Raum für Pathos, und wer sich weigert, die Regeln einzuhalten, verschwindet schnell von der Bildfläche. Der neue Nachbar gehörte wohl zu dieser Gruppe, denn ich haben ihn bei Agnès nie wiedergesehen. Andere waren zu Tode gelangweilt und verdufteten freiwillig. Dabei herrscht so viel Freundlichkeit. In Agnès’ Dekor eines englischen Cottage spricht man nicht über die Arbeit. Meine Schwester meint, das sei unangenehm für diejenigen, die nicht mit interessanten Berufen aufwarten können. Sie sagt, dass die Reichen und die Armen, die Chefs und die Untergebenen, die Geldsäcke und die Arbeitslosen bei ihr alle gleich seien. Abgesehen von mir, die ihr manchmal als Ventil dient, erträgt sie keinen Streit und versucht ihn nach Kräften zu vermeiden. Agnès ist eine Wundergeheilte. Sie ist für uns alle Die-die-ihren-Vater-aufgehängt-gefunden-hat-und-dreißig-Minuten-mit-ihm-in-der-Garage-geblieben-ist-bevor-sie-uns-gerufen-hat. Das ist ihre Meisterleistung, ihr unsichtbares Tattoo. Der Geruch ihres Unglücks umschwebt sie so diskret wie hartnäckig und erinnert uns ständig daran, dass wir wachsam bleiben müssen. Also spielen wir mit. Und wenn man bei einem Abendessen nicht von dem spricht, was man tut, spricht man von dem, was man ist und was man denkt. Man erzählt Geschichten. Es kommt sogar vor, dass man Unsinn erzählt, und das kann sehr interessant werden. Am Anfang ist es ziemlich riskant, aber mit der Zeit werden wir Asse der surrealistischen Entgleisung, des poetischen Hauchs und der Schwerelosigkeit.

Der Abend schnurrte und knisterte wie ein gutes Feuer. Ich fühlte mich wohl. Ich trinke keinen Alkohol. Die jahrelangen Exzesse meiner Schwester haben mich fürs Leben von dieser üblen Gewohnheit abgebracht. So bewahre ich meine Klarheit, während sich die der anderen um mich herum eintrübt. Ich erkenne die Bruchstellen, sehe, wie sich die Gesten allmählich von den Worten lösen und selbstständig machen. Die Gabeln verfehlen ihr Ziel und kratzen über die Teller, die Köpfe senken sich und lauschen im Stimmengewirr einem geheimen Gesang, jeder einem anderen. Über die Blicke legt sich trotz des Lachens ein Schleier von Wehmut, denn die Trunkenheit ist nie nur fröhlich. Die Verfremdung ist angenehm, auch wenn sie von der Befürchtung begleitet ist, dass Agnès wieder versinkt. Jedes Mal zähle ich ihre Gläser, das ist ein Reflex, den ich mit meiner Mutter teile, aber ich vertraue ihr. Ich bin fast sicher, dass sie nicht rückfällig wird. Sie weiß, dass sie aufpassen muss, und sie weiß auch, dass ich ihr meine Kinder nur unter dieser Bedingung überlasse.

Agnès servierte den Kaffee im Salon, wo Véga und Louis mit Monopolygeld pokerten. Nachdem der falsche Mönch aus der Nachbarwohnung das Diner nahezu in Schockstarre hinter sich gebracht hatte, legte er wieder los. Er sprach vom I Ging, an das er glaubte. Ich hatte seit dem Schulhof, der Zeit von Shit und Duftstäbchen, nicht mehr von dieser chinesischen Wahrsagerei gehört. Für Nichteingeweihte: Man sucht die Antwort auf eine Frage, die einen beschäftigt, mit Hilfe von Münzen und Berechnungen, die auf Hexagramme verweisen, rätselhafte Prophezeiungen, die man interpretiert, wie es einem passt. In diesem Moment hörte der Abend für mich auf zu schnurren und zu knistern. Der gesegnete, schwebende Augenblick galt nichts mehr, weil es darum ging, sich mit Münzen und Stöckchen in die Zukunft zu versetzen. Die Kinder waren begeistert von der Ablenkung, und der Mönch fing mit ihnen an. Sie waren schnell ernüchtert, denn die Aussagen des I Ging sind nicht die einer Wahrsagerin, die dir von endlich erwiderter Liebe und märchenhaftem Geldeingang erzählt. Da sich die Prophezeiung des Zelebranten als unverständlich erwies, machten sie sich nicht einmal die Mühe, ihre Enttäuschung zu verhehlen, er war zu frisch zum Ritter der Tafelrunde erkoren, um Schonung zu verdienen.

Als nach Philippe und Mickey ich an der Reihe war, verkündete ich, das interessiere mich nicht. Ich hasse es, wenn jemand an meine Zukunft rührt. Meine Lebensweise und vor allem meine Arbeit schließen jede äußere Einmischung aus, die mich von meinen Grundsätzen abbringen könnte. Wahrsagerei kann sich für einen Künstler als fatal erweisen. Da er außergewöhnlich abergläubisch ist, muss er jeden Kontakt mit den Würfeln vermeiden. Um meine Zurückhaltung zu begreifen, muss man sich nur den Schaden ausmalen, den ein kleiner sibyllinischer Satz wenige Tage vor einer Vorstellung im Kopf eines Schauspielers anrichten kann. Oder in dem eines Akrobaten, wenn das Hexagramm die Möglichkeit eines Schritts ins Leere offenbart. Das Ungreifbare ist unser Feld, und es muss rein bleiben. Der Künstler muss den Worten, Gedanken, Bildern ihren Raum lassen, er darf ihnen nie zuvorkommen und auch niemandem erlauben, ihr Tempo zu beeinflussen.

Alle rügten mich, sie waren reichlich beschwipst und schauten oft auf die Uhr, weil Mitternacht näher rückte.

»Lucie, jetzt fehlst nur noch du. Stell dich deiner Zukunft, Schatz«, drängte Philippe und schenkte mir einen feuchten Blick.

Plötzlich war ich sehr gereizt. Weil ich es hasse, wenn man mich zwingt, und vor allem, weil diese dämliche Geschichte mit dem I Ging an eine Sorge gerührt hatte, die von der Atmosphäre des Abendessens bis dahin überdeckt worden war. Ich bewahrte von meiner Begegnung im Kino ein komisches Gefühl zwischen Euphorie und Beklemmung, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass mir dieser ärgerliche Scharlatan den nahen Tod meines Unbekannten mit der betörenden Stimme prophezeite.

Philippe wollte begreifen, warum ich mich weigerte mitzuspielen. Er bombardierte mich mit Fragen. Ich wollte ihm nicht von Alexandre Lanier erzählen, erst recht nicht vor meiner Schwester.

»Ich sehe überhaupt keine Unannehmlichkeit im Schicksal!«, verkündete er lachend.

Die bloße Erwähnung dieses Wortes löste bei mir sofortige Klaustrophobie aus. In dem gemütlichen Salon starrten mich alle an und warteten auf meine Antwort. Wer wenig spricht, erlangt das Privileg, dass alle zuhören, verliert aber das Recht auf Banalitäten. Also wog ich meine Worte ab.

»Jeder kennt die Versuchung des Schicksals, des Unausweichlichen, der Deutung im Nachhinein, die uns eine bequeme Logik von der Stange anbietet, Ursache-Wirkung-Ursache-Wirkung und so weiter, und die uns ohne großen Aufwand von unseren Fehlern und unseren seltsamen Entscheidungen reinwäscht. Diese Romantik hat mich oft in Versuchung gebracht. Ich habe damit gespielt. Die Geschichte umschreiben, den Zufall widerlegen. Den Zufall, der uns ebenso verunsichert wie die Leere. Sie zu füllen ist eine Versuchung, der man nur schwer widerstehen kann.«

Meine Künstlervisionen bringen meine Umgebung oft aus der Fassung. Sie amüsieren sich nie darüber und akzeptieren sie wie barocke Geschenke, die ihr Kuriositätenkabinett bereichern. Philippe, Agnès und die anderen spürten, wie ernst es mir war, und ließen mich zu Ende sprechen, ohne dazwischenzureden.

»Das Leben ist kein linearer Verlauf zwischen unserer Geburt und unserem Tod, Punkt A und B, auch kein perfekter, in sich geschlossener Kreis wie in den Märchen. Wenn wir daran glauben, ignorieren wir unsere Irrwege, ihre Schönheit und ihre grundlegende Nutzlosigkeit. Das Schicksal ist nur die wiedergelesene und korrigierte Geschichte unseres Lebens, eine Geschichte, die mit dem Ende anfängt, von den anderen am Tag nach unserem Tod geschrieben.«

Philippe lächelte. Er war zufrieden. Mein Gedankennippes hatte mühelos einen Platz auf seinem Regal gefunden, zwischen einer uralten Theorie über die familiäre Übertragung bestimmter Gesten und einer anderen, die er besonders mochte, über die Bedeutung der Stille beim Marionettentheater.

Verrückt genug fürs Leben

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