Читать книгу Verrückt genug fürs Leben - Sophie Bassignac - Страница 6

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Jedes Programm, das strenge Disziplin erfordert, muss eine Toleranzspanne enthalten. Meine Toleranzspanne wurde im Handumdrehen ganz und gar von Alexandre Lanier beansprucht. Gleich am Tag nach unserem Gespräch bat ich ihn, seinen Text zu lesen und die zahlreichen Bühnenanweisungen auswendig zu lernen. Ich schlug ihm vor, sich in die Ecke des Ateliers zu setzen, aber er sagte, er wolle lieber zu Hause arbeiten, und verschwand, wobei er vergaß, mir seine Adresse und seine Telefonnummer zu geben, obwohl ich ihn darum gebeten hatte. Alexandre Lanier vergisst. Das ist seine Art, »nein« zu sagen, ohne es zu sagen. Drei Tage lang hörten wir nichts von ihm. In dieser Zeit antwortete der Radiosprecher, der Mann mit der goldenen Stimme, endlich auf meine Nachrichten, und wir verabredeten uns für die folgende Woche. Ich war erleichtert. Ich hatte einen Ausweg, falls mein Erzähler endgültig verschwunden war, dem, das vergaß ich nicht, recht wenig am Leben lag.

Ich schreibe alle meine Texte selbst, ohne Unterstützung anderer, allein auf dem Land, wo ich am Rand eines Dorfes ein Haus habe. Dorthin ziehe ich mich zurück, um meine Stücke zu erfinden. Ich benutze große Hefte, in die ich auch viele Zeichnungen mache. In dieser Entwurfsphase unterwerfe ich mich einer Routine, die durch nichts gestört werden darf. Sobald ich anfange zu schreiben, packt mein Unterbewusstsein seine Schätze aus. Dann stelle ich fest, dass die wie durch einen Zauber erscheinenden Inspirationen schon ihren Weg durch meinen Kopf gemacht haben. Manche Ideen erweisen sich als undurchführbar, neue Bilder drängen sich auf. Der riesige Spielraum reduziert sich zunehmend zu einem Miniaturschauspiel unter der Lupe. Der Sinn des bizarren Produkts meiner Phantasie wird erst am Ende sichtbar. Ich habe nie eine vorgefasste Idee. Ein Kritiker hat gesagt, bei mir lerne man nichts. Das stimmt. Ich schreibe Märchen für willige Erwachsene, ich erschaffe poetische und zeitlose Bilder, die wie Träume funktionieren. Ich bin nicht intelligent genug, um eine Themenkünstlerin zu sein. Ich lasse die Dinge auf mich zukommen und entdecke im Nachhinein Obsessionen, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich habe meine Achillesferse zu einem Trumpf gemacht und spiele mit meinen Ungereimtheiten, meinen Widersprüchen und meiner Schwierigkeit, mit Konzepten umzugehen. Niemand gibt es direkt zu, aber bei denen, die mich kennen, spüre ich deutlich die Verblüffung, wenn sie meine Vorstellungen besuchen. Sie entdecken darin jedes Mal eine Verspieltheit und eine Freiheit im Ton, die ich mir im wahren Leben nicht erlaube. Wenn meine Schreibarbeit abgeschlossen ist, gebe ich die Hefte meiner Tonmeisterin und meinem Beleuchter. Sie fügen ihre stets hilfreichen Vorschläge hinzu. Dann gehe ich mit meiner Managerin Annetta Schlumberg, die mich seit meinen Anfängen begleitet, Mittag essen. Ich erkläre ihr mein Projekt, das sie mit mir durchgeht, bevor sie die Theaterdirektoren und Festivalleiter in Frankreich und im Ausland kontaktiert.

Meinen Raum zu teilen war eine kleine Revolution, zu der ich mich zwang, nachdem ich zwanzig Jahre lang mit einer Stimme aus dem Off gearbeitet hatte. Mit Alexandre Lanier ließ ich zum ersten Mal einen Dritten auf die Bühne, die ich bisher allein mit Théodora geteilt hatte. Das war ebenso aufregend wie beängstigend, denn auf der Bühne unterhalten Marionette und Mensch eine komplexe Beziehung. Sie ziehen sich an und stoßen sich ab. Eine zusätzliche Person kann das Leben, das ich meinem Geschöpf einzuflößen suche, jederzeit töten. Die Marionette wiederum kann durch ihre

Eigenart und ihre gewaltige Anziehungskraft den Schauspieler zum Hampelmann machen.

Neben der Premiere, einen Fremden auf der Bühne zu dulden, stellte ich mich einer weiteren Herausforderung. Zum ersten Mal hatte ich ein Thema. Ich verließ meine poetischen Bilder, um mich einer Realität zuzuwenden, die ich unbedingt teilen wollte. Einige Monate zuvor hatte ein junger Marionettenspieler, der ein Praktikum im Atelier absolvierte, mich dazu gebracht, ins kalte Wasser zu springen. Beim Essen hatten wir über das zunehmende Verschwinden der Tiere gesprochen, und der junge Mann hatte im Brustton der Überzeugung verkündet:

»Unsere Nachkommen werden in einer Welt ohne Elefanten und ohne Frösche leben. Na und! Es wird ihnen nicht das Herz brechen, denn man kann sehr gut ohne sie leben. Was wir nie gekannt haben, fehlt uns nicht.«

Ich hatte in seiner Analyse und an seiner Stimme die unerträgliche Sorge gespürt, es könnte als reaktionäre Regung aufgefasst werden, den Tod der Elefanten zu beweinen. Das hatte mich zutiefst erschüttert.

Der Tod der Schönheit erschreckt mich, denn er ist der Tod des Glücks und die Negation meines Berufs. Ich habe keine militante Neigung, aber ich habe die künstlerische Schöpfung immer als beispielhaften Versuch angesehen, das Glück zu beschreiben. Natürlich würde ich mit einer nostalgischen Théodora nicht die Welt ändern, auch wenn sie noch so berührend war, aber meine Empörung war so groß, dass mir die Poesie nicht mehr genügte. Dabei mache ich mir nicht die geringste Illusion über den Platz und die Rolle des Künstlers in einer Welt, die ihm mehr denn je schmeichelt, um ihm die Zähne zu ziehen und ihn wirkungslos zu machen. Mir scheint, wir sind nicht mehr sehr gefährlich. Wir übernehmen unseren Teil an Verantwortung, wir prangern an, was uns empört, wir schreien unsere Wut heraus, aber der Mainstream spült uns mit allem anderen weg. Die Zeit ist unser Feind, und wenn sie durchdreht, zwingt sie uns zu einer grelleren Darstellung, damit man uns sieht, so wie wir dem Freund in der Ferne mit großen Bewegungen winken, damit er uns in der Menge entdeckt. Wir erleben jetzt alle die Versuchung, Aufsehen zu erregen, und verlieren dabei an Feinheit und Subtilität. Trotzdem, trotz all meiner Vorbehalte, hatte ich den Ehrgeiz, meine Missbilligung in Szene zu setzen.

Alexandre kam am Vormittag, nachdem er sich drei Tage nicht gemeldet hatte, also kein Selbstmord. Mit einer halben Pobacke auf dem Arbeitstisch sitzend blätterte er in dem Manuskript, das ich ihm bei unserer letzten Begegnung gegeben hatte. Unzählige bunte Markierungsstreifen ragten am Rand daraus hervor.

»Das ist eine ziemlich romantische Vision des Daseins, was? Engel, Einhörner, Vögelchen …«

Er machte sich über mich lustig. Ich war fassungslos. Ich präsentierte ihm auf dem Silbertablett die unverhoffte Chance auf ein neues Leben, und er erlaubte sich, kleinlich zu sein.

»Womit hatten Sie gerechnet? Mit Shakespeare? Koltès? Tut mir leid, ich bin nur Marionettenspielerin.«

Er verdrehte die Augen und lächelte schwach. Wieder ein Ausweichen.

Ich war noch nicht fertig.

»Zu sehen, wie allmählich die Meisen und Bienen aus meinem Garten verschwinden, hat wohl kaum was Romantisches. Und wenn Sie Lust haben, dem Ruf nach kollektivem Selbstmord zuvorzukommen, der sich deutlich abzeichnet, ist das Ihr Problem, nicht meins.«

Alexandre Lanier verbirgt seine Betroffenheit nicht. Er spielt damit. Meine Antwort hatte wie eine Ohrfeige geknallt, und im Profil betrachtet, erholte er sich nur mit Mühe von meiner heftigen Reaktion. Ohne es zu wissen, hatte er einen wunden Punkt berührt. Ich gebe zu, dass ich mich mit meinen Texten nicht so wohlfühle wie mit der Führung von Théodora. Schreiben ist für mich ein zweiter Beruf, der nicht immer von selbst läuft, die Kritik verletzt mich, weil sie berechtigt sein kann. Alexandre war jedenfalls mächtig dreist. Die Atmosphäre war bleiern, und ich rechnete damit, ihn ein für alle Mal verschwinden zu sehen.

Clara mischte sich ein, als er das Atelier gerade verlassen wollte. Sie wollte Stimmproben machen, ging auf Alexandre zu, ohne sich darum zu kümmern, was gerade ablief, und befestigte ein Mikro an seinem Revers. Sie bat ihn, die erste Seite des Textes zu lesen. Er zögerte kurz, dann setzte er sich und schlug das Manuskript auf. Ich setzte mich in eine Ecke des Ateliers – mit dem Rücken zu ihm, um mich konzentrieren zu können. Endlich würde ich erfahren, was in ihm steckte.

Ich erinnere mich daran wie an einen magischen Moment. Nach wenigen Sekunden war ich überzeugt, eine seltene Perle entdeckt zu haben. Er las mit seiner würdigen, wunderbar bedächtigen Stimme, mit der Sicherheit eines Märchenerzählers und einem ausgeglichenen Redefluss. Meine Sätze waren wie verwandelt. Ich hätte wetten können, dass er den Text, über den er sich eben noch mokierte, bereits auswendig gelernt hatte. Leider hielt die göttliche Überraschung nicht lange an, denn schon drängte sich eine andere, eisige, unerbittliche Tatsache auf. Dieser Mann machte sich mit verstörender Leichtigkeit Gedanken zu eigen, die er nicht teilte, Bilder, die ihn eiskalt ließen, ohne dass seine Stimme etwas davon verriet. Unfassbar mühelos gewährte er mir ein Almosen und verspottete mich dabei.

Irgendwer hat mal gesagt, man solle diejenigen, die sterben wollen, niemals zwingen, am Leben zu bleiben. Sie lassen uns für unsere Hartnäckigkeit büßen und versuchen uns unablässig zu überzeugen, dass alles gleich viel wert ist, nämlich nicht viel. Alexandre Lanier hatte mir soeben bewiesen, dass mein Text nicht viel wert war.

Clara, Paul und ich sind es gewöhnt, konzentriert zu arbeiten. Wir reden wenig, und meistens ist es im Atelier ganz still. Alexandres vibrierende Stimme hat alles verändert. Nach einer Woche Proben hatte er durch seine bloße Anwesenheit unsere Routine über den Haufen geworfen und uns seinen Rhythmus aufgezwungen. Sein Körper gab ununterbrochen Signale von sich, Verzweiflung, Ärger, auch Verlangen. Sein pfeifender Atem wurde von langen, lauten Seufzern unterbrochen. Er war außerstande, unbemerkt zu bleiben, lief herum, wenn er überlegte, und redete los, sobald er etwas zu sagen hatte. Das konnte nicht warten. Er war förmlich von Nervosität zerfressen und reagierte sich mit diversen unnötigen Gesten ab. Seine immer weißen Hemden waren makellos, die Cordhosen perfekt gebügelt, und die groben englischen Schuhe schienen eifrig gewienert zu werden. Es sah aus, als verhinderte nur die Kleidung, steif wie eine Uniform, dass sich seine Glieder im Raum verteilten. Alles an ihm trug dazu bei, die Atmosphäre jeden Tag etwas mehr zu elektrisieren. Clara verstummte völlig, und ihr Blick schleuderte Hassblitze, sobald er näherkam. Paul machte im Wortsinn den Buckel krumm und richtete nie direkt das Wort an ihn. Besorgt beobachtete ich dieses Psychodrama ohne Geschrei. Heute frage ich mich, warum ich Alexandre die Macht in meinem Atelier übernehmen ließ, ohne einzugreifen und ihn auf seinen Platz zu verweisen. Sicher wegen seines Schauspielertalents, das ihn unersetzlich gemacht hatte.

Théodora ist mein Geschöpf und mein Idol. Heute schläft sie in ihrer Schatulle, nachdem sie zwanzig Jahre lang meine einzige Obsession gewesen ist. Ich kann noch nicht in der Vergangenheit von ihr sprechen. Alle, die sie kennengelernt haben, sagen, dass sie strahlt, dass sie fasziniert bis zum Grauen. Sie ist eine außergewöhnliche Marionette. Sobald sie die Bühne betritt, hat sie das Publikum in der Hand. Sie ist so groß wie ein zehnjähriges Kind. Ihr Kopf hat die Form eines Schulps. Sie hat keine Augen, keinen Mund, keine Ohren und keine Haare. Nur ihre lange, schmale Nase deutet ihre Menschlichkeit an. Sie spricht nicht. Ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Wünsche und ihre Pläne werden uns nur durch ihre Gesten offenbart. Außer Clara und Paul hat niemand sie je leblos gesehen. Immer bin ich da, damit man sie aufrecht, erhaben und geheimnisvoll wahrnimmt. Ich bin ihr Demiurg, aber ich bin auch ihre Dienerin, ihre eifrige Zofe, bereit, auf jeden ihrer Wünsche zu reagieren. Mir ist bewusst, dass meine Leidenschaft für eine Gliederpuppe extravagant ist. Dabei ist sie leicht zu verstehen. Théodora ist die Person, ja, die Person, mit der ich im Leben die meiste Zeit verbracht habe.

Nach zehn Tagen Probe hatte Alexandre Théodora noch nicht gesehen. Ich wartete, bis er seinen Text beherrschte, bevor ich ihm seine Partnerin vorstellte. Er entdeckte sie eines Morgens, vor sich hin träumend auf einer Chaiselongue ausgestreckt. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, eine Hand an der Wange. Eine winzige kreisende Bewegung ihres weißen Gesichts deutete an, dass sie ein mitreißendes Lied sang. Ich bewege sie inzwischen mit solcher Sicherheit, dass ich meine Finger spielen lassen kann, ohne sie anzuschauen. Deshalb konnte ich Alexandre beobachten, als er mein Geschöpf entdeckte. Seine Fassungslosigkeit überraschte mich nicht. Ich bin daran gewöhnt. Aber ich hatte noch nie gesehen, dass sich jemand so heftig von Théodora abwandte. Als sie sich von ihrer Chaiselongue erhob und auf ihn zuging, versteckte Alexandre sein Gesicht in den Händen und stieß einen Entsetzensschrei aus, dann rannte er hinaus, ohne sich umzudrehen.

Nachdem ich an jenem Abend die Kinder geküsst und Philippe angerufen hatte, der irgendwo auf Dienstreise war, dachte ich über alles nach. Ich versuchte zu begreifen. Alexandre war selbstmordgefährdet, das durfte ich nicht vergessen. Der Selbstmordkandidat spielt mit dem Tod. Er zwickt ihn, um ihn zu reizen, er provoziert ihn. Er nähert sich ihm, dann entfernt er sich wieder, um Atem zu holen und noch eine Weile zu leben. Théodora ist ein Kadaver, dem ich Leben einhauche. Hatte er das wahrgenommen? Hatte er in ihr einen Geist gesehen, der aus dem Jenseits zurückgekommen war, um ihn vor dessen Grauen zu warnen? Hatte ihn Théodora spüren lassen, dass man sich bei diesem Spiel schnell die Finger verbrennt?

Ich war überzeugt, meinen Erzähler verloren zu haben. Und ehrlich gesagt hoffte ich es auch. Ich ertrug die ständigen Wandlungen dieses ungreifbaren Menschen nicht mehr, der von einem Tag zum anderen, manchmal von einer Stunde zur anderen, bezauberte, reizte, erstaunte oder enttäuschte. Bei Sturm konnte ich noch nie arbeiten.

Verrückt genug fürs Leben

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