Читать книгу Verrückt genug fürs Leben - Sophie Bassignac - Страница 5

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Mein Atelier liegt im Hinterhof eines chinesischen Restaurants. Es besteht aus einem großen, dunklen Raum, den ich noch finsterer mache, indem ich die Fenster mit dicken schwarzen Vorhängen abdunkle. Ich arbeite bei Kunstlicht. Ein Marionettenspieler spielt ständig mit den Schatten, der Leere und der Nüchternheit, und ich muss die Bühnenatmosphäre so gut wie möglich nachbilden. Manchmal sehe ich mehrere Wochen lang kein Tageslicht. Alexandre Lanier kam um 18.10 Uhr und ersparte mir so, danke, Alexandre, die Qual des Wartens. Er war bleich. Ich dachte kurz, dass ich, während er seinen Selbstmord verpatzte, mit meiner Familie in einem benachbarten Arrondissement Silvester gefeiert hatte. Das machte mich traurig.

Ich erinnere mich sehr genau an unser Treffen, denn ich hatte an jenem Abend die Gewissheit, einen besonderen Menschen zu treffen, von einer Beschaffenheit, die ich nicht kannte. Irgendein Philosoph hat gesagt, dass uns die anderen vor der Wiederholung retten. Das stimmt, aber nicht immer und nicht bei allen. Ich würde hinzufügen, dass bei einer Begegnung, egal welcher Art, alles sofort vorhanden ist. Vom ersten Augenblick an erhalten wir irritierende Indizien, die uns warnen sollten. Aber man hat uns eingebläut, dass mit den anderen alles gut abzulaufen hat, und ohne es auch nur zu merken, modellieren wir die Seltsamkeit nach unserem Maß, um sie vertraut und erträglich zu machen. Wie dem auch sei, und selbst wenn ich an jenem Abend die Tragweite nicht erfasste, hat sich mir jedes Wort, jeder Satz eingeprägt wie ein Siegel ins weiche Wachs.

Ich bat ihn Platz zu nehmen, die auf Böcken liegende Tischplatte zwischen uns diente als Pufferzone. Ich hatte schlechte Erinnerungen an die Einstellungsgespräche, die ich mit meinen Schauspiellehrlingen absolviert hatte, und wollte die Erfahrung nicht wiederholen, die sich unerwartet als ziemlich demütigend erwiesen hatte. Ich hatte deprimiert feststellen müssen, dass die meisten Kandidaten nicht wussten, wer ich war und was ich tat. Es ist unangenehm, den Leuten zu sagen: »Ich bin berühmt, wissen Sie, und in meinen Kreisen ist Théodora, meine Marionette, ein Star.« Ich musste auch die ewigen Missverständnisse ausräumen, die an meinem Beruf hängen, das ist mein Schicksal, aber ich gewöhne mich nicht daran. Nein, ich mache kein Kindertheater. Nein, ich bin nicht hinter einer Puppenbühne versteckt. Nein, ich bin keine Bauchrednerin. Nein, ich habe meine Karriere nicht damit begonnen, die Bärchen in den Weihnachtsschaufenstern zu animieren. Und so weiter. Ich musste mich Leuten, die sowieso nicht geeignet waren, verkaufen, als wäre ich die Anfängerin. Zu meiner großen Überraschung hatten mir alle das Gefühl gegeben, ich würde beurteilt, nicht andersherum. Aber das war nicht das Schlimmste. Noch mehr schockierte mich ihre Nachlässigkeit. Ich habe einen sehr exakten Beruf, der jede Form von Dilettantismus ausschließt. Die Marionette ist ein Geschöpf, das durch Nachlässigkeit leicht auf ihren skandalösen Status eines Dings verwiesen wird. Unbekümmert, unverschämt und leichtfertig setzten meine Schauspiellehrlinge auf ihren Charme, ihre Jugend oder den Namen der angesehenen Theaterschule, an der sie gelernt hatten. Schließlich und vor allem hatte keiner von ihnen die nötige Ausstrahlung, mit einer perfekten Marionette in einen Dialog zu treten. Théodoras Kraft und Schönheit hätten sie zermalmt.

Alexandre Lanier ist nicht der nachlässige Typ. Was als Erstes auffällt, wenn man ihn trifft, ist vielmehr sein Geheimnis. An jenem Abend, mir gegenüber im Atelier, quoll ihm der Geruch nach Geheimnis aus allen Poren. Es umwaberte ihn wie die wattigen Ektoplasmen, die auf den Fotos aus der Belle Époque um die Spiritisten herumschweben. Seine Gestik machte es nicht besser. Anders als bei den meisten Menschen vollzogen sich die Bewegungen seiner Hände, sein Nicken oder das Scharren seiner Füße ohne jeden Kontext. Sie begleiteten weder seine Worte, noch reagierten sie auf äußere Ereignisse. Diese unharmonischen Bewegungen ließen das beunruhigende Ungesagte des Alexandre Lanier erahnen. Seine winzigen und schmerzlichen Abwehrgesten vermittelten das Gefühl, er versuche sich seiner selbst zu entledigen.

Ich hatte keinen Lebenslauf vor mir, um mir bei meinem Gespräch zu helfen. Ich traute mich nicht, ihn nach seinem Alter, seiner Adresse und seinem Familienstand zu fragen. Das war schlichtweg unmöglich. Ihm gegenüber kamen mir viele Belanglosigkeiten plötzlich sehr vulgär vor. Da ich auch keine Lust hatte, seinen vertagten Selbstmord zu erwähnen, fragte ich ihn, was er beruflich mache. Das war offen und harmlos genug, um das Gespräch entspannt zu beginnen. Er antwortete mir, er habe gerade die Druckfahnen eines Buches über die verlorenen Filme von Georges Méliès abgegeben, an dem er zehn Jahre geschrieben hatte.

»Ein langfristiges Unternehmen, und ich hatte geplant, den möglichen Erfolg nicht zu erleben«, erklärte er und sah mich von unten an.

Alexandre Lanier sieht die Menschen von unten an. Als wären sie immer größer als er, was nur selten wirklich der Fall ist. Das ist seine Art zu schmeicheln, damit er besser schummeln kann. Nachdem er en passant, wie eine Anekdote, seine Selbstmordabsicht erwähnt hatte, erzählte er mir von seiner Arbeit.

»Ein großer Teil der Filme von Méliès ist verschwunden, an Privatpersonen verkauft. Die meisten existieren nicht mehr oder verfaulen auf irgendwelchen Dachböden. Es gibt nur noch die völlig verrückten Drehbücher. Und die haben mir Lust gemacht, dieses Buch zu schreiben. Die Geschichten sind präzise und genau getimt. Es gibt Hunderte davon. Der Arzt, der sich anschickt, das Bein eines Gichtkranken abzusägen, die Frau mit drei Köpfen, der betrunkene Clochard, der es nicht schafft, seinen Mantel anzuziehen, die Hypnotisierte, die von ihrem Magnetiseur ausgezogen wird. In jener Zeit entdeckte sich das Kino als Meister der Illusion, und Méliès spielte endlos damit. Sie erschaffen mit Ihren Marionetten auch Illusionen.«

Lanier war die Welt, in der ich mich bewege, nicht ganz fremd, sicher durch Méliès, der zu unserer Kaste gehört. Mein Name war ihm vertraut, er hatte von Craig, Recoing und Schönbein gehört, Genies, die außerhalb meines Sonnensystems niemand kannte. Dann erklärte ich ihm in groben Zügen mein Stück. Er wollte Théodora sehen. Ohne es näher zu erklären, sagte ich ihm, er müsse ein wenig warten. Ich habe das Prinzip, meine leblose Marionette niemals Nichteingeweihten zu zeigen. Fast alle Marionettenspieler sind da etwas phobisch. Dann sprachen wir über seine Rolle als Erzähler. Ich erklärte ihm, sein Text werde nicht vorab aufgenommen, er müsse bei jeder Vorstellung anwesend sein, auf einem Stuhl am Rand der Bühne, von einem Scheinwerfer beleuchtet. Er müsse sich verpflichten, mich während der gesamten Laufzeit des Stücks bei meinen Tourneen durch Frankreich und andere Länder zu begleiten, also für die Dauer von vielleicht einem Jahr, vielleicht auch zweien, wenn sich neue Termine böten. Wir müssten uns unverzüglich an die Arbeit machen, denn die Premiere würde Ende März in Lissabon stattfinden, zur Eröffnung eines neuen Festivals. Er versicherte mir, er sei frei, und es sei für ihn kein Problem herumzureisen. Ich verheimlichte ihm die bevorstehenden Schwierigkeiten und vor allem, dass ich zum Monster werde, wenn ich mich an die Arbeit mache. Paul Petiteau, mein Beleuchter, ist ein Heiliger, und ich habe diverse Tontechniker verschlissen, bis ich Clara Heinz, halbstumm und durch nichts zu erschüttern, gefunden habe, die mich seit mehr als zehn Jahren begleitet.

Alles schien wunderbar einfach. Nur eine Kleinigkeit irritierte mich. Ich hatte Mühe mir vorzustellen, dass man sein Leben beenden kann, nachdem man zehn Jahre an einem Buch gearbeitet hat, das man nicht gedruckt sehen würde. Irgendwas stimmte da nicht. Was man erschafft, muss gezeigt werden, und man muss sehen, wie diejenigen reagieren, die entdecken, was man gemacht hat. Also nahm ich noch mal Anlauf und stellte ihm weitere Fragen nach Méliès und seinem Buch. Dann bat ich ihn, mir eine Kopie des Manuskripts mitzubringen.

Einen Erzähler zu engagieren war eine wichtige Entscheidung, und ich zauderte. War Alexandre Lanier mit seiner betörenden Stimme wirklich mein Mann? War es realistisch, aus diesem Unbekannten in kaum drei Monaten einen perfekten Schauspieler zu machen? Es war Wahnsinn, heute gebe ich es zu. Aber konnte ich diesem Selbstmordkandidaten sagen, dass er am Ende doch nicht der Richtige war? Vielleicht würde ich ihm damit sein Visum fürs Jenseits geben. Und wenn er, im Unterschied zu meinem Vater, überhaupt nicht die Absicht gehabt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen? Wenn ich bei jemandem Zweifel habe und den Bluff hinter der schmeichelhaften Fassade ahne, benutze ich eine Waffe, die zumindest bis dahin nie versagt hat. Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass unsere kulturellen Bezugspunkte für mich die äußeren Zeichen unseres inneren Reichtums sind, und ich bediene mich ihrer, um zu wissen, wer in unserer extrem verschlüsselten Welt wer ist. Was las er, und was interessierte ihn außer Méliès? Er war ein Fan von Visconti, von Der Leopard, vom Staub der Vergangenheit, der die alten, gestürzten Aristokraten in der Kirchenszene bedeckt. Dann erwähnte er die Fußspuren auf dem Strand in Ryans Tochter von David Lean.

»Und Robert Mitchum begreift, dass seine Frau ihn betrügt«, fügte er mit einem Blick von unten hinzu, während er mit dem Finger über die Tischkante strich.

Schließlich zitierte er Tati, der mein Gott ist. Ich wusste Bescheid. Ich hatte es mit einem intelligenten Mann zu tun, der zuhören konnte. Ganz zu schweigen von seiner Stimme, deren mächtige Wirkung auf mein Publikum ich bereits spürte. In diesem Moment war der berauschende Geruch seines Geheimnisses noch kein Hindernis. Es war nur ein diskreter Hauch, eine kleine, fast angenehme Brise.

»Und, interessiert Sie mein Angebot?«, fragte ich zum Abschluss.

»Warum vertrauen Sie jemandem, der nicht mehr leben will?«

Endlich war die Frage gestellt, die seit dem Beginn des Gesprächs im Raum stand.

»Ich vertraue Ihnen nicht besonders. Sie haben mir keine andere Wahl gelassen, als Ihnen zu helfen. Jetzt sind Sie am Zug. Ich habe getan, was ich zu tun hatte.«

Alexandre Lanier verabschiedete sich. Er ging, als er gehen wollte, wobei er Signale aussandte, die später zur Gewohnheit zwischen uns wurden. Er streckte die Brust raus und atmete langsam seinen Brustraum leer. Das alles, ohne mich aus den Augen zu lassen. Das heißt übersetzt: Es ist vorbei. Er verschwindet immer auf dieselbe leichte Art und Weise, ein Gleiten, der Gleitschritt eines Schlittschuhläufers. Es fehlt nur noch die indigoblaue Rauchsäule, wie sie Méliès einsetzte, um seine Teufelchen verschwinden zu lassen.

Verrückt genug fürs Leben

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