Читать книгу Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1-7 - Sophie Lang - Страница 20
Kapitel 2.2
ОглавлениеDie Drohne lässt uns passieren, weil sie uns erkennt, erklärt er mir. Weil alle Privilegierten in Sektion 0 einen Sender implantiert haben, der ihren Standort markiert und ihre Lebenszeichen überwacht.
Wir überfliegen Sektion 0. Sie ist nicht im Entferntesten so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Das Bild von Sektion 0, das bisher in meinem Kopf war, ist vollkommen anders. Ich kann die Stunden nicht zählen, in denen ich sie in meinem Kopf gemalt habe, mit dem Pinsel meiner Phantasie und den Farben meiner Gefühle, wenn ich an diesen Ort dachte. Abends in unserem Loft, wenn ich mit Jesse vor unserer Fensterfront saß und wir auf das New York der unwissenden Nunbones hinabsahen.
In meiner Phantasie war kein Raum für eine Umgebung, die Leben zuließ. Kein Platz für Pflanzen, Tiere oder Menschen, die einander lieben konnten. Kalte Wände aus Stahl und Beton bestimmten die Atmosphäre. Sektion 0 war für mich ein Bunker, aus dessen Schießscharten Befehle schossen. In meiner Phantasie lebten dort nicht einmal viele Menschen. Nur die Gesandten und ein paar Wissenschaftler, Ärzte, Elitekrieger und die Vollstrecker. Die Vollstrecker, in ihren kitschigen blutroten Uniformen, die die Drecksarbeit für die Gesandten erledigen, wenn wir uns nicht an die Sieben Gebote halten. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich nur an sie denke. Bestien in Menschengestalt, das und nichts anderes sind sie.
Mehr gab es in Sektion 0 nicht. Kein Ort, den man besuchen wollte. Nicht im Frieden und nicht im Krieg.
Mit Jesse habe ich mich oft über Sektion 0, den Stützpunkt des Widerstandes, unterhalten und wir haben unsere Gedanken und unsere Bilder im Kopf ausgetauscht wie Sammelkarten, die den Besitzer wechseln.
Jesses Bilder strotzten nur so von technologischen Waffen, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfhubschraubern, die nur auf den richtigen Zeitpunkt für den Gegenschlag warten.
Sektion 0 war für ihn der Stützpunkt der Armee der Guten. Er wollte immer schon hierher. Als Soldat, als Elitekrieger. Ich hoffe nicht als Vollstrecker!?
Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich daran gedacht, dass ich Sektion 0 vor ihm sehen würde. Ich schaue aus dem kleinen Seitenfenster des Helikopters. Schaue mit Adleraugen hinab und meine Bilder in meinem Kopf und die von Jesse werden übermalt, fortgewischt. Wir haben uns beide von Grund auf geirrt.
Ich habe noch nie eine so schöne Landschaft, so viel Grün gesehen. Ich beobachte den Schatten des Helikopters und bin atemlos. Die Schönheit der Landschaft unter mir raubt mir den Atem. Der Helikopter fliegt wie ein winziger Käfer über Wiesen, Hügelketten und sich wild windende Flüsse. Dort, in einiger Entfernung, stehen Bäume dicht zu einem Wald zusammengedrängt, als fürchten sie sich vor dem Lärm der Rotoren.
Keine Bunker! Kein Beton! Kein Stahl und keine Waffen! Statt Panzer raufen Hasen auf einer Wiese miteinander.
Wir überfliegen kurz darauf die grünen Hänge und ich sehe niedrige Wolken entlang der Bergflanke ziehen. Ich bin dem Boden, dem Grün so nah, fast kann ich nach ihm greifen. Die Grashalme werden von dem Wind der Rotoren auseinander gepeitscht und wir steigen und steigen und schrauben uns hoch in den Himmel, erreichen den höchsten Punkt, schweben über ihn hinweg und gleiten in einiger Höhe über einen kristallklaren See. Ich stelle mir vor, dass man in ihm bis zum Erdinneren tauchen könnte.
Ich lehne meine Wange auf die Scheibe, um mit meinen Augen in seinen Tiefen abzutauchen und erstarre. Die Scheibe hat das verursacht, sie hat mich erschreckt. Sie ist eiskalt.
»Gefällt dir der See?«, fragt er. Ich atme seinen Geruch ein, der mich an frischen Schnee und knackendes Eis erinnert. Ich habe aufgrund der Naturwunder fast vergessen, dass ich nicht der einzige Passagier bin. Ein paar endlos lang erscheinende Sekunden schaue ich ihn schweigend an. Ich entscheide mich, ihm nicht zu antworten und er akzeptiert es.
»Der See liegt direkt im Krater eines Vulkans. In Sektion 0 gibt es einige davon. Aber keine Angst, sie sind seit Menschengedenken erloschen. Manche sagen, eine unterirdische Höhle führt vom See direkt in das Meer. Das finde ich jedes Mal zum Fürchten, wenn ich mir das vorstelle.« Das finde ich auch, sage aber nichts. Schweige ihn weiter andächtig an.
Es bleibt nicht bei diesem einen Berg, der vor vielen tausend Jahren einmal Feuer gespuckt hat. Und plötzlich kommt mir die Landschaft bekannt vor. Als erinnere ich mich an einen vergessen geglaubten Moment. Ich war schon einmal hier! Ich spüre einen kalten Schauer, der meinen Nacken überfällt.
Was war das? War es tatsächlich eine Erinnerung? Kann das möglich sein?
Nie gab es auch nur ein winziges Kräuseln auf dem totenstillen Ozean meiner Vergangenheit. Meine Vergangenheit schwieg, war ruhig, alle Erinnerungen erloschen, unabrufbar gelöscht, weil sie sie mir genommen haben. Bis dieser scheinbar Fremde aufgetaucht ist.
Seine Anwesenheit hat mich erinnern lassen. An etwas aus der Zeit vor der smaragdgrünen Flüssigkeit, die sie mir in den Kopf gespritzt haben und die alle meine Erinnerungen wie Schwefelsäure weggeätzt hat. Aus welchem Grund?
Ich erinnere mich an die Vulkane. Die Erinnerungen sind noch da, sind nicht gelöscht, weggeätzt. Sie sind nur verblasst und warten nur darauf, dass ich einen Weg zu ihnen zurück finde.
Die smaragdgrüne Injektion hat gar nichts gelöscht. Sie hat lediglich den Weg versperrt. Stahltüren in meinen Kopf eingebaut und verriegelt. Ich werde sie in Stücke reißen. Ich werde mich wieder an mich erinnern. Jetzt, da ich weiß, dass sie noch da sind, werde ich mich an alles wieder erinnern. An alles, was war. Wer ich war. Wer ich bin. Wer er ist.
In den Tälern zwischen den Vulkanen entdecke ich nun Dörfer und an den Hängen schier endlose Reihen von Gewächsen, die formlos in den Himmel wuchern.
»Wir nennen diese Dörfer die Vitaminkapseln. Die Vulkanerde ist sehr fruchtbar. Die Wärme ist selbst nach tausend Jahren noch zu spüren. Du gräbst drei Meter tief und kannst dir in dem Loch einen Tee kochen. Hier wachsen die süßesten Früchte und hier reift der beste Wein. Hast du schon einmal Wein gekostet?«, fragt er und ich blicke in seine Augen.
Der Helikopter fliegt einen weiten Bogen und ich habe die Möglichkeit, viel mehr zu sehen von dem Bergdorf, das unter uns liegt. So überschaubar, friedlich und geschützt. Der alte Kirchturm überragt alles andere. Er ist das unangefochtene Zentrum des Dorfgeschehens. Frauen in schwarzen Roben stehen dort auf dem Kirchplatz und schauen zu uns empor. Kinder winken dem Helikopter fröhlich vom daneben liegenden Schulhof zu. Niemand scheint hier vor irgendetwas Angst zu haben.
Plötzlich verändern sich die Scheiben des Helikopters. Werden für meine Augen undurchdringlich, wie das vom Wasserdampf beschlagene Glas unter der Dusche in meinem Skygate.
Was soll das? Jetzt fühle ich mich tatsächlich wie eine Gefangene. Vielleicht bin ich das ja auch. Eine Gefangene, und der Helikopter ist der Gefangenentransport. Und er? Er ist der Aufseher, mein Wächter. Der Aufpasser, damit ich nicht flüchte. Was totaler Quatsch ist. Wie sollte ich das anstellen?
»Nur eine Sicherheitsmaßnahme. Nichts weiter, über das du dir Gedanken machen solltest«, sagt er. Er hat sich mir gegenüber in seinen Sitz geschnallt und sieht mich von unten bis oben an. Seine Blicke sind mir unangenehm.
Ja, ich fühle mich tiefer und tiefer wie eine Gefangene, seine Gefangene oder wie ein erworbener Besitz. Seinen Besitz. Ich schließe meine Augen. Vielleicht hilft es mir dabei, meine desolate Lage auszublenden und ich versuche ein wenig zu schlafen.
Alles bewegt sich. Ich weiß nicht, wie lange ich weg war. Mir kommt es vor wie ein paar Sekunden, aber der Himmel ist schon dunkel. Der ganze Helikopter und seine Passagiere (mich eingeschlossen) werden von heftigen Turbulenzen durchgeschüttelt.
Reine Sicherheitsmaßnahme, erinnere ich mich und blicke durch den schmalen Spalt meiner fast geschlossenen Lider und ich sehe, wie er sich mit seinen Fingern an seinem Sitz festkrallt und seine Lippen aufeinander presst.
Gerne würde ich eine fiese Bemerkung fallen lassen, aber die Turbulenzen rütteln mich durch und ich spüre meine Verletzung wiedererwachen und sie zwingt mich in die Defensive. Es tut höllisch weh!
Ich will den Schmerz einfach runterschlucken, aber es geht nicht. Es ist, als habe jemand ein Feuer in meinem Bauch entfacht, das bis auf mein Bewusstsein alles in die Luft sprengt. Ich schließe meine Augen, beiße mir fast die Unterlippe entzwei und der Schmerz, er droht mich in Stücke zu reißen, mich zu verbrennen, als habe jemand ein Fass Säure auf mich geschüttet, die meine Haut und mein Fleisch durchlöchert und mein Inneres, samt aller Knochen, auffrisst.
Ich bin es gewohnt, Schmerzen zu ertragen, aber meine Schmerzskala, die bis zehn reicht, zerreist es in diesem Moment.
Ich beiße mir auf die Zähne, schone meine Lippen, presse meine Fäuste so krampfhaft zusammen, dass sich meine Fingernägel wie Dolche tief in meine Haut bohren. Jetzt nur nicht losbrüllen, nicht schreien, bloß keine Schwäche zeigen. 7. Gebot! Himmel! Oh Gott, hilf mir, das zu ertragen. Ich sacke zusammen und dann, plötzlich, als habe er mich tatsächlich gehört, fällt der Zeiger um zwei, drei Schmerzpunkte und ich habe Zeit durchzuatmen, mich zu erholen. Meine Kleider (beziehungsweise das, was von ihnen übrig ist) sind schweißnass. Zum Glück ist es Schweiß und kein Blut. Die Naht hält. Asha hat wieder einmal einen guten Job gemacht. Ich muss an sie denken und der Schmerz in meiner Brust, sie im Stich gelassen zu haben, ist fast schlimmer als der meiner Wunde.
Ich wünsche mir jetzt zum ersten Mal, dass wir bald dort sind. Wo auch immer dort ist. Sind wir noch über den Vulkanen? Ich wünsche mir, dass sie sich um mich kümmern, wer auch immer sie sind. Nicht, damit ich überlebe. Zumindest nicht nur deshalb, sondern weil mein Überleben eine Notwendigkeit ist, um mein Versprechen einzulösen. Ich will endlich ankommen, weil ich nicht weiß, wie lange ich diese körperlichen Qualen noch ertragen kann. Gott, bitte hilf mir, denn wie eine Flut bricht der Schmerz erneut über mir zusammen und lässt mein Herz für eine Sekunde aussetzen und mich vergessen, wie man atmet. Meine Knie zittern und verzweifelt versuche ich, mich an das 7. Gebot zu halten. Dann, nach ein paar unendlichen Sekunden, geht der Anfall wieder vorbei.
Die Schmerzen kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Das ist das einzig Positive. Ich weiß, wann es wieder soweit ist. Ich zähle die Minuten bis zur nächsten Explosion. Sieben, Sechs, Fünf, gleich geht es wieder los. Sie kommen etwa alle zehn Minuten, aber die Abstände zwischen den Schmerzwellen werden von Mal zu Mal kürzer. Ich halte den Atem an. Zählen, zählen, atmen, dann geht es vorüber und so ist es auch, bis zur nächsten Welle.
Er beobachtet mich, aber ich gestatte ihm keine Schwäche zu sehen, aber der Schweiß auf meiner Haut ist ein mieser Verräter. Vier, drei, zwei, jetzt geht es wieder los. Jetzt schon? Ich kann nicht mehr! Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit dem ich versuche, stark zu sein.
ICH KANN NICHT MEHR!
Ich klammere mich an den Sitz und schreie dagegen an. Gegen meine Schwäche und die Schmerzen. Brülle mir die Seele aus dem Leib, bis meine Stimme keine Stimme mehr ist, sondern nur noch ein ängstliches Wimmern.
Er sagt etwas zu mir, berührt meine Hand, aber die Worte und seine Berührung schaffen es nicht bis in meinem Verstand. Ich sehe ihn kaum, er sieht aufgeschreckt und verzweifelt aus. Sein Gesicht, seine Worte, seine Hände werden fortgerissen von der nächsten Schmerzwelle, die an mir bricht wie gezündetes Dynamit.
Noch etliche weitere schreckliche Anfälle schütteln mich durch und ich bekomme es gar nicht mit, als der Helikopter landet, bemerke nur in der kleinen, kurzen Verschnaufpause, wie still es plötzlich um mich herum geworden ist und dass ich ganz alleine bin. Er ist hinausgestürmt, nur der Schmerz ist noch bei mir geblieben und ich erwarte noch die nächste Welle, bevor er zurückkommt und sie, für die ich keine Namen habe und keine Gesichter kenne, mich endlich von diesen unmenschlichen Qualen befreien werden. Ich spüre, wie sich meine Gedärme zusammenziehen, auf die nächste Attacke vorbereiten und ich werde wieder schreien, so laut ich noch kann, weil das das Einzige ist, das ich tun kann.
Oh Gott, dieses Mal ist es anders, noch gewaltiger. Keine Welle! Schlimmer! Ich schreie… schreie… schreie. Wünsche mir, dass es aufhört. Ich bitte. Ich fluche. Bitte um Gnade. So wie die vielen Male zuvor. Bitte, es soll einfach aufhören. Es – tut – so – weh. Die Erkenntnis, dass ich hier ganz alleine sterben könnte, macht mir eine Höllenangst. Ich schreie meine Todesangst in das Inferno aus Schweiß, Schmerzen und Blut.
Blut?
Mir läuft es kalt über den Rücken und dann, plötzlich, ist es vorbei?
Plötzlich!?
Irgendwie?
Mir fehlt das richtige Wort.
Vielleicht: befreiend?!
Tränen steigen in meine Augen.
Ein Teil von mir ist gestorben, um zu leben. Ja, genauso fühlt es sich an.
Die Schmerzen sind noch da, aber sie fließen langsam ab. Ebbe. Ich schaue unter mein durchnässtes Shirt, will meine Wunde und das Blut sehen und bin sprachlos.
Da ist etwas. Ich habe ein neues Tattoo und seine Konturen leuchten weiß, als hätte jemand in mir ein kleines Licht angezündet. Ich lege vorsichtig meine Hand darauf. Draußen höre ich jetzt Stimmen. Seine Stimme ist auch dabei und die von anderen. Helfer, Mediziner, Unbekannte. Hoffentlich keine Vollstrecker.
Ich spüre eine minimale Bewegung unter meiner Hand, auf meinem neuen Tattoo. Ich bin verblüfft. Es bewegt sich! Das Tattoo bewegt sich! Himmel!
Haben mich die Schmerzen jetzt doch in den Wahnsinn getrieben? Und die Wunde? Sie blutet nicht. Ich werde das überleben.
Gleich kommen sie zu mir in den Helikopter. Die Schmerzen sind noch immer da, aber ich kümmere mich nicht um sie, denn mich beflügelt ein Glücksgefühl, das nicht hierher passt. Sterbe ich jetzt doch noch? Ich blicke an mir hinab und betrachte erneut das Tattoo der Bestie auf meiner Haut, wie es sich zusammenringelt, einem kleinen Drachen ähnlich und nur noch sachte leuchtet. Fast so, als würde es sich auf mir Schlafen legen.
Es existiert, es atmet auf seine Weise und es ist ein Teil von mir. Und dann hört es ganz auf zu leuchten und liegt ganz ruhig da. Nicht zu spät, damit es mein Geheimnis bleibt, denn jetzt ist er zurückgekommen.