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2 Angehörige: »Und wie kommen Sie damit klar?«

Seit über einem Jahrzehnt beschäftige ich mich nun mit der Krankheit Demenz. Zuerst als Angehörige und dann durch meine Arbeit für Ilses weite Welt.

Für Angehörige ist es unglaublich schwer zu akzeptieren, dass ein geliebter Mensch sich unaufhaltsam verändert. Er sagt auf einmal Dinge, die verletzen können. Er tut Dinge, die er selber nie für möglich gehalten hätte. Und man selbst steht völlig hilflos, traurig oder sogar entsetzt daneben. Nicht nur neben dem Betroffenen, sondern auch neben sich selbst. Schließlich schaut man als Angehöriger in der Regel nicht nach innen, um zu sehen, was mit einem selbst passiert. Dabei wäre auch das wichtig, denn die Krankheit verändert alle Beteiligten.

In den ersten Jahren der Krankheit meiner Großmutter rasten wir durch eine Achterbahn der Gefühle. In der einen Kurve brausten wir mit Hochgeschwindigkeit durch die Wut, im Looping drehten wir uns mal um die Freude, um im nächsten Moment von der Trauer ausgebremst zu werden. Die wohl schwierigsten Situationen für uns waren die, in denen wir in unserer Wut und Verzweiflung gefangen waren. Wir konnten die Unterstellungen meiner Großmutter nicht verstehen und als Krankheitssymptome begreifen. Stattdessen haben wir alle Angriffe persönlich genommen, sie an uns rangelassen.

Ein kleines Beispiel: Weihnachten, das Fest der Liebe. Das war es auch immer bei uns – bis Alzheimer unser Gast wurde. Großmutter Ilse versteckte ihre Geschenke bis Heiligabend in ihrer Wohnung, wie jedes Jahr und wie bei wohl fast jeder Familie. Als nun die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten und wir festlich gekleidet auf Omi warteten, um endlich den gemütlichen Teil des Fests zu beginnen, kam Ilse wutentbrannt runter und schnauzte uns alle an: »Ihr habt meine Geschenke geklaut!« Meine Mutter brach in Tränen aus, ich versuchte zu schlichten, und mein Vater kümmerte sich um den Wein. Es dauerte Stunden, um die Stimmung wieder einigermaßen herzustellen. Meine Mutter war aufs Tiefste gekränkt, meine Großmutter fühlte sich nicht verstanden und hatte sich in ihre Welt zurückgezogen, während mein Vater und ich hilf- und ratlos zurückblieben. In ihrer Krankheit hat meine Großmutter die Geschenke an den abstrusesten Orten versteckt. Monate später fanden wir sie zum Beispiel in der Wanduhr, unter der Matratze oder in ihrem Kleiderschrank.

Als sie nun ohne Geschenke zu uns kommen musste, hat sie das natürlich als zutiefst unangenehm und peinlich empfunden. Es ist aber typisch für Demenzkranke, eigenes »Versagen« auf andere zu schieben. Hätten wir das gewusst, wären viele Tränen nicht geflossen.

Heute, nach vielen Fortbildungen, Gesprächen mit Experten und Betroffenen, ist mir klar: Unsere Unwissenheit hat uns um die wenigen schönen Erlebnisse gebracht, die in der Situation überhaupt noch möglich waren. Ja, es ist nicht einfach, mit dieser Krankheit zu leben, für keinen der Beteiligten. Aber man kann mit und an ihr wachsen und bis zum Schluss gemeinsame schöne Momente erleben.

Zuneigung und Liebe, Mitleid und Dankbarkeit, Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl bringen Menschen dazu, ihre demenzkranken Angehörigen zu betreuen und später zu pflegen. Diese Gefühle sind ohne Zweifel das, was Familien, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Sie führen pflegende Angehörige aber auch geradewegs in ein Dilemma: Denn mit der Übernahme von Betreuung und Verantwortung für den demenzkranken Partner, die Eltern oder Großeltern machen die meisten Angehörigen zwei schwerwiegende Fehler: Sie stellen ab diesem Moment ihre eigenen Bedürfnisse vollkommen hinten an. Und sie bleiben weitgehend uninformiert über das Krankheitsbild – sei es weil sie es nicht wahrhaben wollen oder weil sie sich scheuen, Rat zu suchen. Aber so erfahren sie auch nicht, worauf es beim Umgang mit Demenzkranken besonders ankommt.

Dabei beginnen die Probleme in der Regel schon sehr früh. Nämlich dann, wenn man erkennen muss, dass ein Familienmitglied zusehends sein Verhalten ändert und immer weniger mit den Alltagsanforderungen zurechtkommt. Für die meisten Angehörigen ist die Zeit, die bis zu einer Diagnose vergeht, besonders bedrückend, weil sie sich völlig hilflos fühlen: Viele Reaktionen und Verhaltensweisen des Betroffenen können sie sich einfach nicht erklären. Man kennt sich seit Jahrzehnten – und nun solche Aussetzer? Dahinter eine beginnende Demenz zu sehen, das können oder wollen die meisten nicht. In der Familie darüber zu sprechen würde so vieles in Frage und auf den Kopf stellen … Also lässt man es lieber.

So verändert sich ein Mensch mit Demenz

Ganz zu Beginn einer demenziellen Erkrankung steht der Verlust von Kraft, Energie und Spontaneität. Das empfinden die meisten aber nicht gleich als ungewöhnlich oder unnormal, sondern schreiben es dem Alter oder außergewöhnlichen Belastungen zu. Bald darauf kommen leichte Gedächtnisstörungen und Gemütsschwankungen hinzu, die Betroffenen lernen und reagieren langsamer. Sie meiden alles Neue und bevorzugen das, woran sie gewöhnt sind und was sie kennen. Ihr fortschreitender Gedächtnisverlust beginnt, sich auf den Alltag auszuwirken: Sie sind durcheinander, vergessen schnell und beurteilen Situationen falsch.

Im darauf folgenden Zeitraum können Demenzkranke zwar einige Aufgaben noch alleine erfüllen, brauchen aber vielleicht schon Hilfe bei der Bewältigung anspruchsvollerer Angelegenheiten. Morgendliches Waschen und Anziehen klappt vielleicht noch ganz gut, wenn die Kleidung schon bereitliegt, aber die korrekte Einnahme von Medikamenten zum richtigen Zeitpunkt gelingt nicht mehr ohne Unterstützung. Sprache und Auffassungsgabe werden langsamer, und die Betroffenen vergessen oft mitten im Satz, was sie sagen wollten. Sie können sich außerhalb des Hauses verirren oder vergessen, Rechnungen zu bezahlen. Wenn Menschen mit Demenz spüren, dass sie die Kontrolle verlieren, können sie depressiv, irritiert und unruhig werden. An Ereignisse, die lange zurückliegen, erinnern sie sich gut, aber das, was gerade erst passiert ist, können sie sich nur schwer merken. Ihre zeitliche und örtliche Orientierung geht verloren.

Wenn der Gedächtnisverlust fortschreitet, erfinden Demenzkranke Worte und neigen zum sogenannten Konfabulieren: Wenn sie Lücken in ihrer Erinnerung spüren, füllen sie diese mit objektiv falschen Begebenheiten oder Informationen, die sie in dem Moment aber für wahr und real halten.

Bald erkennen sie auch bekannte Gesichter nicht mehr, anerzogene Verhaltensmuster verlieren sich: Höfliche Umgangsformen etwa weichen einer frappierenden Offenheit, die verletzend und in der Öffentlichkeit auch peinlich wirken kann. Auch das sexuelle Verhalten kann sich ändern – dazu mehr in Kapitel 8.

Im Endstadium können die Betroffenen nicht mehr kauen und schlucken. Sie haben Gleichgewichtsstörungen und zunehmend Schwierigkeiten beim Gehen. Ihr Gedächtnis ist nur noch sehr schwach und sie erkennen niemanden wieder. Sie verlieren die Kontrolle über Blase und Stuhlgang, benötigen intensive Pflege. Die mittlerweile oft Bettlägerigen erkranken an Infektionen wie Lungenentzündungen oder an anderen Krankheiten. Diese oder Organversagen führen schließlich zum Tod.1

Oft sind es schwerwiegende Anlässe, die das Thema »Demenz« zum ersten Mal zur Sprache kommen lassen: Leben die Betroffenen allein, dann fällt häufig erst nach einem ernsten Zwischenfall auf, dass sie (bereits seit längerer Zeit) nicht mehr alleine zurechtkommen. In der Regel bringen Stürze mit entsprechenden Verletzungen das Thema auf den Tisch, bedingt durch Schwächeanfalle, Ohnmacht, Gangunsicherheiten und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Oder die Angehörigen bemerken, dass sich jemand regelrecht vernachlässigt: Manche haben nicht ausreichend getrunken und gegessen, andere haben zum Beispiel vergessen, notwendige Medikamente gegen chronische Beschwerden einzunehmen. Mediziner empfehlen angesichts solcher Umstände einen Demenztest (siehe auch Kapitel 1).

Leben Menschen mit beginnender Demenz mit Partner oder Familie zusammen, dann beginnt es häufig zu kriseln, weil die Vergesslichkeit als Gleichgültigkeit oder Desinteresse gedeutet wird. Zudem will der Betroffene selbst nicht wahrhaben, dass er sich verändert. Einerseits versucht er es zu verdrängen und zu vertuschen, andererseits packen ihn Angst, Trauer oder auch Wut, die sich in Gefühlsausbrüchen oder Depressionen äußern und die Angehörigen oft rat- und fassungslos zurücklassen. Nicht selten zerbrechen daran Partnerschaften, entfremden sich Familien, bevor jemand die Möglichkeit einer beginnenden Demenz auch nur in Erwägung zieht.

Wird nach Untersuchungen und Tests die Diagnose Demenz gestellt, können sich die Reaktionen der Angehörigen stark unterscheiden: Einige sind entsetzt und fallen aus allen Wolken. Andere hingegen sind geradezu erleichtert, weil sie nun einen Grund für die rätselhaften Veränderungen bei dem Betroffenen haben – endlich hat das Kind einen Namen.

Und dann kommen die Fragen …

»Warum ich?« Es ist häufig diese eine verzweifelte Frage, die auf die Diagnose »Demenz« folgt und auf die es keine Antwort gibt. Sie treibt den Betroffenen und weckt tiefe Angst: vor dem, was noch kommt, und davor, von nun an als geisteskrank zu gelten.

Die Münchnerin Helga Rohra hat mit 54 die Diagnose Demenz erhalten, war am Boden zerstört und erzählte erst einmal niemandem davon: »Ich habe befürchtet, dass ich ausgeschlossen werde. Man bekommt ja diesen Stempel: Die ist nicht mehr zurechnungsfähig.«2 Mittlerweile gilt sie jedoch in der Öffentlichkeit als Sprecherin für Menschen mit Demenz und vertritt deren Anliegen im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG e. V.), als Gast in Talkshows und mit Vorträgen auf Demenzkongressen. Im Herbst 2011 hat Rohra außerdem ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Aus dem Schatten treten. Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzkranke einsetze, unterstützt wurde sie dabei vom Sozialpädagogen Falko Piest, weil sie selbst nicht mehr schreiben kann.

Christian Zimmermann erfuhr mit 57 Jahren von seiner Demenz. Fünf Jahre später verfasste er zusammen mit Peter Wißmann ebenfalls ein Buch: Auf dem Weg mit Alzheimer. Wie sich mit einer Demenz leben lässt. Für den gelernten Werkzeugmacher und ehemaligen mittelständischen Unternehmer, Ehemann und Vater einer Tochter sind »Menschen mit Alzheimer oder Demenz keine Wesen ohne Verstand und Geist, es sind Wesen mit veränderten Verstandesleistungen. Ich kann immer noch sehr wohl denken. Ich habe zwar Probleme, mir neue Dinge zu merken, und es ist für mich recht schwierig, mich in einer neuen Situation zurechtzufinden. Aber mein Verstand ist nicht weg.«3

Diese Beispiele zeigen: Demenz ereilt die Betroffenen nicht schlagartig wie ein Unfall, es ist ein schleichender, zu Beginn unmerklicher Prozess. Einerseits macht es das für die Angehörigen nicht einfach, andererseits ist es aber auch eine Chance: Die Angehörigen können zusammen mit dem Betroffenen überlegen: Was soll nun geschehen? Wie gehen wir mit dieser neuen Situation um?

Christian Zimmermann, der ja aus eigener Erfahrung spricht, hat einen guten Rat für die Angehörigen: »Das größte Missverständnis ist: Man sieht immer nur die Defizite und denkt nicht an die Ressourcen, die Betroffene auch noch haben. Dabei müsste man auf die gerade bauen – und mit Verständnis und etwas Zeit sind da noch eine ganze Menge.« Zudem fordert er die an Demenz Erkrankten direkt auf: »Wir sollten dort Unterstützung annehmen, wo sie hilfreich für uns ist, und wir sollten uns gleichzeitig mit Vehemenz gegen alle Versuche wehren, uns Dinge abzunehmen, die wir sehr gut noch alleine können – auch wenn diese Versuche von Menschen kommen, die uns sehr nahestehen und uns Gutes tun wollen!«

Prof. Konrad Beyreuther, seit 25 Jahren Alzheimerforscher, bestätigt die Schwierigkeiten derjenigen, die der erkrankten Person so nahestehen: »Das Problem ist, dass der Patient und der Angehörige, der pflegt, beide schwerst betroffen sind.«4

Wie sich die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ändern

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow stellte fest, dass sich die Bedürfnisse von gesunden, erfolgreichen und glücklichen Menschen nach einer bestimmten Rangordnung einteilen lassen: Erst wenn ein Mensch für sich die Bedürfnisse einer Stufe erfüllt sieht, versucht er die nächste zu erklimmen.


Nach Abraham M. Maslow: Motivation und Persönlichkeit, 1981

Menschen mit Demenz hingegen folgen mit ihren Bedürfnissen nicht diesem hierarchisch angelegten Muster. Der Psychogerontologe Tom Kitwood stellte fest, dass »Menschen mit Demenz oft ein unverhülltes und beinahe kindliches Verlangen nach Liebe zeigen«.5 Sind Grund- und Existenzbedürfnisse erfüllt, dann stellt er die psychischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz deshalb als fünf große, einander überschneidende Bereiche dar, die sich im zentralen Bedürfnis nach Liebe vereinen.


Nach Tom Kitwood: Demenz, 2004

Menschen mit Demenz brauchen Trost, weil sie den Verlust von Fähigkeiten ertragen müssen. Sie brauchen starke soziale Bindungen, um Sicherheit zu erleben. Sie wollen einbezogen sein in das Geschehen um sie herum, weil sie Anerkennung brauchen. Sie wollen aktiv im Leben stehen, beschäftigt sein, weil sie darin Ihre Selbstachtung erfahren. Und sie brauchen angesichts ihrer schwindenden Fähigkeiten fortlaufend Belege für ihre Identität.6

Wer mit einem demenzkranken Menschen zusammenlebt, ist nicht nur persönlich schwer betroffen von Verlust und Trauer. Er muss sich auch jeden Tag neu auf die im Laufe einer Demenz stark wandelnden Bedürfnisse des Betroffenen einstellen. Und er muss dabei immer genau spüren, wann Unterstützung nötig ist oder wo Helfen völlig fehl am Platze ist beziehungsweise eher Verärgerung oder gar Aggression auslöst. Das ist schon für speziell ausgebildete Altenpflegekräfte in der Gerontopsychiatrie eine große Aufgabe, die sie nur dann erfüllen können, wenn sie auch nach ihrer Ausbildung durch Fortbildungen und Reflektion (Supervision) weiterhin professionell begleitet werden.

Aber während professionelle Altenpflegekräfte nach ihrem Schichtdienst nach Hause gehen können, leisten Angehörige diese Arbeit in der Regel 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche viele Jahre lang, und zwar ohne jede Anleitung und Ausbildung. Sie haben sich die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz nicht als Beruf ausgewählt, sondern übernehmen diese Aufgabe aus Zuneigung und Liebe, Mitleid und Dankbarkeit, Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Und was für sie alles noch viel schwerer macht: Im Gegensatz zu Pflegekräften können sie keine professionelle Distanz wahren, um beim Umgang mit dem demenzkranken Menschen seelisch weitgehend unbelastet zu bleiben.

Stattdessen erleben sie einen Rollenwechsel: Aus der Partnerschaft wird schleichend eine Pfleger-Patient-Situation. Oder das Kind-Eltern-Verhältnis wird umgedreht und das erwachsene Kind ungewollt in eine Elternrolle gedrängt. Dieser Wechsel scheint dann vollzogen, wenn die fürsorgliche Tochter von der eigenen Mutter plötzlich mit »Mutti« angesprochen wird. Das allein kann schon für jede Menge emotionalen Zündstoff sorgen. Nicht selten brechen außerdem längst vergangene oder ungelöste familiäre Konflikte wieder von Neuem auf und belasten das Verhältnis zusätzlich.

»Meine Bedürfnisse bleiben auf der Strecke«

All das kann dazu führen, dass sich pflegende Angehörige vollkommen aufreiben – sowohl körperlich als auch seelisch. Wer dauerhaft stark belastet ist und auch nachts ständig geweckt wird, dessen Gesundheit ist nachweislich gefährdet. Hoffnungs- und Hilflosigkeit, Depressionen, Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Aggressivität – diese Leiden sind also nicht nur typisch für Demenzkranke, sondern auch für Angehörige, die sie pflegen. Aber nicht nur die Psyche leidet, auch der Körper reagiert auf Dauerstress oft massiv – beispielsweise mit Asthma, Rücken-, Muskel- und Kopfschmerzen, Migräne, Verdauungs- oder Hautproblemen.

So oft wie möglich sollten pflegende Angehörige deshalb ganz bewusst »Auszeiten« nehmen. Sie können sich dazu von Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Mitarbeitern eines Pflegedienstes stundenweise vertreten lassen oder Tagespflegeangebote und Betreuungsgruppen nutzen. Nur so können sie auf Dauer ihre körperlichen und seelischen Kräfte erhalten und stärken.

Hilfe anzunehmen ist also überlebenswichtig. Aber es gibt noch immer viele, die glauben, es sei ein Zeichen von Schwäche oder persönliches Versagen, wenn sie als Angehörige eines Menschen mit Demenz Hilfe und Unterstützung von anderen annehmen »müssen«. Sie sorgen und kümmern sich ständig um den demenzkranken Angehörigen, machen ihn zum Mittelpunkt ihres Lebens. Hält dieser Zustand an, dann glauben sie schließlich, dass kein anderer den Demenzkranken so gut versteht und mit ihm umzugehen weiß. Das bindet sie emotional noch enger an ihn und lässt ihnen noch weniger Raum für sich selbst – ein Teufelskreis.

Bei einer Angehörigenbefragung, die im Rahmen einer Untersuchung von Versorgungsstrukturen für Demenzkranke und ihre Angehörigen von der TU Dortmund durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass von den befragten Pflegenden etwa zwei Drittel professionelle Unterstützung in der Pflege in Anspruch nehmen. Die restlichen 33 Prozent lehnen Hilfe jedoch ab, weil sie glauben, ihre erkrankten Angehörigen würden Hilfe von Dritten nicht akzeptieren.7 Das entspricht umgerechnet 323 000 Angehörigen in Deutschland, die ohne jede Hilfe kämpfen, bis sie selbst krank werden – psychisch und körperlich.

Wo Angehörige Hilfe finden

Angehörige sollten sich deshalb unbedingt mit Menschen in ähnlichen Situationen austauschen: Kontaktmöglichkeiten gibt es in Tagespflegeeinrichtungen, Betreuungsgruppen, aber auch in Selbsthilfegruppen von Angehörigen demenzkranker Menschen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. ist die größte und in Deutschland bekannteste Selbsthilfeorganisation mit Büros und Angehörigengruppen in fast jeder Stadt und vielen kleineren Gemeinden.

Die erste Anlaufstelle für Angehörige ist in der Regel aber der Hausarzt oder Neurologe des Betroffenen. Doch vielen helfen Gespräche mit dem Arzt kaum weiter. Dies bestätigt auch der Demenz-Report des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.8 Demnach berichteten Pflegende und Angehörige immer wieder, manche Hausärzte wüssten zu wenig über Demenz. Sie täten entsprechende Symptome als bloße Alterserscheinung ab und gingen dann zur Tagesordnung über.

In vielen Gesprächen erzählen mir Angehörige ebenfalls immer wieder, was sie vermisst haben: Sie hätten sich über die Diagnose hinaus mehr Informationen gewünscht und eine Beratung darüber, wie es denn nun weitergehen kann. Ihnen hätte es oft schon genügt, vom Hausarzt »wenigstens mal eine Mappe mit Grundinformationen und einer Liste örtlicher Beratungsstellen zu erhalten«, wie es die Partnerin eines Demenzbetroffenen einmal formulierte.

Bis heute fühlen sich viele Familien also offenbar alleingelassen, schlecht informiert und vollkommen überfordert angesichts der vielen Entscheidungen, die sie nun treffen sollen. Daran hat sich wohl nur wenig geändert, seit meine Eltern und ich 2001 von der Demenzerkrankung meiner Großmutter Ilse erfahren haben.

Nach der Diagnose müssen die Familien nämlich nicht nur mit der Krankheit zurechtkommen und sie akzeptieren – was für die Betroffenen selbst genauso schwierig ist wie für ihre Angehörigen. Nun gilt es zudem, sich um praktische Dinge zu kümmern, Entscheidungen zu treffen, Informationen einzuholen. Um ein paar Stichworte zu nennen: Pflegeversicherung, Prüfung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), Pflegestufen, Pflegegeld, Pflegesachleistungen, Geld für zusätzliche Betreuungsleistungen, Pflegezeit, Familienpflegezeit, Kurzzeitpflege oder Verhinderungspflege, Tagespflege, niedrigschwellige Betreuungsangebote, Pflegehilfsmittel, Hilfsmittel und so weiter. Über 500 solche teils kruden Wortschöpfungen rund um das Thema Pflege sind seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 entstanden. Da brauchen betroffene Familien Übersetzer und kundige Führer durch den Pflegedschungel.

Die wenigsten wissen aber, dass seit 2009 speziell geschulte Pflegeberater »bei der Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlichen vorgesehenen Sozialleistungen« Hilfestellung geben. Dabei müssen sie laut Sozialgesetzbuch alle zusätzlichen Hilfsangebote berücksichtigen, die »auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind«9. Das heißt: Alle Angebote vor Ort von professionellen und ehrenamtlichen Anbietern sollen geprüft und eventuell miteinbezogen werden. Mittlerweile bilden sich auch immer mehr Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsangestellte und Sozialarbeiter/innen für die Zusatzqualifikation »Pflegeberater« fort. Die Pflegekassen beziehungsweise ihre Landesverbände müssen nämlich Pflegeberater bereitstellen, etwa in kommunalen Informationsstellen, Wohlfahrtsverbänden, Beratungsstellen für Senioren, Pflegestützpunkten oder Sozialstationen, aber auch bei privaten Versicherungsunternehmen, in stationären Pflegeeinrichtungen und bei ambulanten Pflegediensten.

Immerhin wächst auch die Zahl an Infoveranstaltungen zum Thema Demenz. Man kann zu solchen Veranstaltungen allein gehen oder natürlich zusammen mit dem betroffenen Familienmitglied. Ein möglicher positiver Effekt des gemeinsamen Besuchs: Die Aussagen des Fachmanns überzeugen vielleicht eher von der Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen – etwa dem Verzicht aufs Autofahren –, als wenn solche Vorschläge aus dem Familienkreis kommen.

In mehrteiligen Kursen, wie sie zum Beispiel die Anlaufstellen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. anbieten, lernen die Teilnehmer Methoden im Umgang mit verwirrten, depressiven und demenzkranken Menschen. So kommen sie mit dem betroffenen Familienmitglied besser zurecht und können seine manchmal merkwürdigen, verletzenden oder auch abstoßenden Verhaltensweisen leichter akzeptieren. Dort lernen Angehörige aber auch, mit den eigenen Gefühlen – Wut, Trauer, Schmerz – umzugehen.

Eigentlich sollte man sich über die zunehmende Zahl an Infoveranstaltungen und Kursen ja freuen. Aber leider werden diese vielfältigen Angebote noch immer zu wenig in Anspruch genommen – und zwar vor allem von den pflegenden Angehörigen. Obwohl gerade sie am nötigsten Unterstützung brauchen. Dabei gibt es überall in Deutschland bereits gute Beispiele dafür, dass Betroffene und ihre Familien gut beraten, betreut und begleitet werden – und zwar vom ersten Augenblick an, also sobald sie erfahren, dass ein Familienmitglied eine demenzielle Erkrankung hat. Zum Start von Ilses weite Welt war ich auch auf der Suche nach einem Experten für Angehörigenarbeit und habe so Martin Moritz kennengelernt. Er hat 2008 die erste Angehörigenschule in Deutschland gegründet: HAS Hamburger Angehörigenschule gemeinnützige GmbH. Sein Projekt stelle ich in Kapitel 10 ausführlich vor.

Auch die Krankenkassen haben erkannt, dass die Aufklärung und Information nicht ausreichend ankommt bei denen, die sie am nötigsten haben. Die AOK Rheinland/Hamburg hat beispielsweise deshalb eine Pflegeleitstelle Demenz und elf Pflegestützpunkte für ihre Versicherten eingerichtet. Hier werden Pflegende, die einen Angehörigen mit demenzieller Erkrankung versorgen, von mehr als 180 Pflegeberaterinnen und -beratern informiert. »Sie planen häusliche Versorgungen mit Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, primär zugehend, also indem sie Menschen zu Hause aufsuchen«, sagt Vorstandsvorsitzender Wilfried Jacobs. Er ist davon überzeugt, dass »die zugehende Pflegeberatung das Erfolgsrezept für eine pragmatische Vernetzung der Akteure in den Quartieren ist«.

Gut also, wenn Information und Unterstützung dort ankommen, wo sie tatsächlich gebraucht werden. Schlecht aber, wenn angebotene Hilfe gar nicht angenommen wird.

Kur oder Urlaub für Angehörige

Was sich viele Angehörige gar nicht bewusst machen: Wer jeden Tag rund um die Uhr einen Demenzkranken versorgt, muss nicht nur körperliche Höchstleistungen erbringen, sondern auch seelische Belastungen ertragen. Das führt zu Schlafmangel und Stress. Zudem neigen pflegende Familienmitglieder dazu, ihre eigenen Bedürfnisse einzuschränken und ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie einmal nur an sich denken. Sie vernachlässigen deshalb ihre sozialen Bindungen, Hobbys und Freizeitbeschäftigungen, achten meist wenig auf ihre Gesundheit und wollen eigene Beschwerden lange nicht wahrnehmen. Pflegewissenschaftler verwenden für diese – übrigens auch bei professionell Pflegenden häufig vorkommende – Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse den Begriff »Selbstpflegedefizit«.

Die meisten Betroffenen bezahlen für das tapfere Durchhalten mit ihrer Gesundheit: Erschöpfungsdepressionen, psychosomatische Erkrankungen, Angst, chronische Kopfschmerzen, chronisch degenerative (Arthrose) oder entzündliche (Arthritis) Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates und Stoffwechselerkrankungen sind häufig die Folge dieser Überforderung. Wenn Angehörige durch ihre Pflegetätigkeit krank werden, dann brauchen sie einen Arzt, der sich engagiert für ihre Interessen einsetzt – zum Beispiel bei der Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen speziell für pflegende Angehörige. Leider gibt es aber bislang nur wenige Angebote:

Kuren für Pflegende bietet zum Beispiel die AOK-Klinik Schloßberg in Bad Liebenzell an. Hier werden Kurteilnehmer in Gruppen drei Wochen lang von Fachpersonal psychologisch betreut. Sie nehmen teil an Angehörigenschulungen und Themengesprächskreisen, erlernen Techniken zur Entspannung und Stressbewältigung, verbessern durch Rückenschule und Wirbelsäulengymnastik ihre körperliche Konstitution. Sie können sogar einen Internetführerschein erwerben, damit sie Kommunikation und soziale Kontakte aufrechterhalten können.

Speziell für Frauen mit pflegebedürftigen Angehörigen hat das Müttergenesungswerk unter dem Motto »… und wo bleibt mein eigenes Leben?« ein ähnliches Programm entwickelt: Bei der Spezialkur für pflegende Angehörige im Antonie-Nopitsch-Haus in Bad Bevensen (Niedersachsen) steht die psychosoziale Therapie im Vordergrund. Das Therapiezentrum betreut währenddessen auch demenzkranke Angehörige.

Seit Januar 2012 können pflegende Angehörige im Alzheimer Therapiezentrum in Ratzeburg eine dreiwöchige psychosomatische Rehabilitation absolvieren, während demenzbetroffene Angehörige im benachbarten Pflegehaus wohnen können und dort betreut werden. Geschäftsführer Michael Stark will »den Betroffenen aus dem Teufelskreis heraushelfen. Denn sie möchten sich solange wie möglich in ihrem Zuhause um den Angehörigen kümmern, kommen aber selbst an einen Punkt, an dem sie körperlich und seelisch überfordert sind.« Meist stehe bei Demenz der Erkrankte im Mittelpunkt. Die Belastung der Angehörigen werde in der Regel kaum berücksichtigt, ergänzt Stark. In Ratzeburg gibt es Psychotherapie, medikamentöse Therapie, sozialtherapeutische Betreuung, Sozialberatung, Ergo-, Kreativ-, Musik- und Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Ernährungsberatung sowie Schulung über das Krankheitsbild Demenz und den Umgang mit dem Kranken.

Und Urlaub mit Demenzkranken? Geht das? Ja. Und kann manchmal »sogar kleine Wunder vollbringen«, verspricht Horst Weipert, Leiter der Sozialakademie AWO SANO der Arbeiterwohlfahrt in Potsdam. Weipert organisiert jedes Jahr Gruppenurlaube mit maximal zehn Personen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen an der Ostsee. »Da kommen sie endlich mal raus aus dem ewig gleichen Trott und erleben ihre Beziehung miteinander ganz anders und neu.«

Ähnliche Angebote gibt es auch von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) oder Vereinen wie Urlaub und Pflege e. V., deren Ehrenamtliche nicht nur Gruppenreisen für demenzkranke Menschen organisieren, sondern in Notlagen auch finanziell unterstützen. (Kontaktdaten im Anhang). Pflegeberater bei Krankenkassen, in Pflegestützpunkten und anderen Pflegeberatungsstellen geben außerdem Auskunft darüber, ob beispielsweise für die Pflege während des Urlaubsaufenthalts Mittel aus der Pflegeversicherung beantragt werden können.

Wenn Angehörige die Pflege nicht mehr alleine leisten können, empfinden sie dass, wie erwähnt, in vielen Fällen als persönliches Versagen. Das ist aber falsch. Denn gerade um körperlich und psychisch stabil zu bleiben, müssen Angehörige bereit sein, die Verantwortung für den demenzkranken Verwandten zumindest zeitweise komplett abzugeben. Sie müssen Zeit für sich selbst haben. Ihre enge emotionale Bindung kann sonst dazu führen, dass »Kümmerer« und »Schützling« zu einer kaum noch trennbaren, oft aber auch konfliktreichen Einheit verschmelzen.

Etwa ein Drittel der Pflegepersonen sind Ehe- oder Lebenspartner. Neben der Konstellation »Frau pflegt eigene Mutter« ist die Variante »Frau pflegt Ehemann« das zweithäufigste Muster. Etwa ein Drittel der weiblichen Pflegepersonen sind Ehefrauen und rund zwei Drittel der männlichen Pflegepersonen Ehemänner.10

Charakteristisch für pflegende Ehepartner scheint zu sein, dass sie besonderen Wert darauf legen und auch stolz darauf sind, die Bedürfnisse des Partners gut zu kennen und ihnen gerecht zu werden.11 Deshalb leben sie nur noch für den demenzkranken Partner, mit dem sie aber kaum noch kommunizieren können. Verhält sich der erkrankte Partner aber auffällig, unterstellen ihm pflegende Angehörige immer wieder Bösartigkeit und fehlenden guten Willen. Dann wiederum empfinden sie Schuldgefühle, weil sie oft aggressiv auf sein merkwürdiges Verhalten reagieren. Zudem haben sie selbst Angst, an Demenz zu erkranken. Angehörige leiden nicht selten an einer Depression, häufig tritt sie sogar erst nach dem Tod des Demenzkranken auf – dann, wenn sie eigentlich wieder das Leben genießen könnten.

Bevor man aber als Angehöriger in diese Lage zu geraten droht, sollte man entsprechende Entlastungsangebote annehmen: Ehrenamtliche Helfer oder die Mitarbeiter von Pflegediensten und Tagespflegeeinrichtungen vertreten stundenweise. Es ist für pflegende Angehörige auch möglich, Urlaub zu nehmen und dafür Vertretung in Form von Kurzzeitpflege zu beantragen (siehe Kasten). Aber wie das alles geht, das muss man erst mal wissen. Zudem braucht man Geduld, Energie und oft auch einen langen Atem, um zu seinen Rechten zu kommen. Welcher pflegende Angehörige aber hat schon diese Kraft? Und wie vielen geht stattdessen der lange Atem einfach aus?

»Wir sind nur für die pflegenden Angehörigen da …«

»Ich kann nicht mehr, bitte helfen Sie mir. Ich bin einfach am Ende und weiß nicht mehr weiter!« Die Frau am Telefon der Kontaktstelle in Potsdam spricht leise. In den nächsten Minuten erzählt sie, dass sie verheiratet ist, berufstätig und Mutter eines 12-jährigen Jungen. Seit drei Jahren kümmert sie sich außerdem um ihren demenzkranken Vater in dessen Wohnung. Seit sie dabei von einem Pflegedienst unterstützt wird, scheint aber alles aus den Fugen zu geraten. Ihr verwirrter Vater kommt nicht damit klar, dass morgens, mittags und abends ständig lauter fremde Leute plötzlich in seiner Wohnung stehen, um ihn an- oder auszuziehen, zu waschen oder auf die Toilette zu bringen. Deshalb hat er gedroht sich umzubringen. Von ihren drei Geschwistern erhält die Frau weder Rückhalt noch Unterstützung. Ihr Ehemann fühlt sich vernachlässigt und will die Familie verlassen, sollte sich nicht bald etwas ändern. Und der Arbeitgeber lehnt es ab, dass sie ihre Arbeitszeit reduziert. Zudem hat er sie abgemahnt, weil sie oft zu spät kommt – ein Leben mit Kind, Mann und pflegebedürftigem Vater lässt sich nun mal nicht punktgenau organisieren. Aber das Schlimmste für sie ist der Gedanke, dass sie eines Tages ihren Vater tot auffindet – erhängt an einem Türknauf, wie er es angekündigt hat. Das lässt sie kaum noch schlafen. Nun hat sie also angerufen in der zuständigen Kontaktstelle. Und hier reagiert man schnell: Ein Anruf beim Pflegebegleiterteam genügt, und schon am nächsten Tag nimmt Gerrit Friedrich Kontakt zu Frau G. auf.

Friedrich ist als einer von vier Projektinitiatoren (PI) verantwortlich für eine 30-köpfige Gruppe von Pflegebegleitern in Potsdam. Es sind Freiwillige, die sich seit 2006 ausschließlich um pflegende Angehörige kümmern. Sie sind dafür da, Menschen wie Frau G. zuzuhören. Pflegebegleiter sind oft die einzigen, die wirklich ermessen können, was die Betroffenen da leisten – Wertschätzung für ihren unermüdlichen und Kräfte raubenden Einsatz erhalten pflegende Angehörige sonst kaum. »Dass wir sie in ihrem Engagement bestätigen und sie ermutigen, ist ein besonders wichtiger Aspekt unserer Arbeit, aber nicht der einzige«, sagt Friedrich. »Wir verstehen uns auch als Teil eines gut ausgebauten Kontaktnetzwerks, zu dem auch pflegerische Einrichtungen, Dienste und Behörden gehören. So können wir für die überlasteten Pflegenden individuell Hilfen und unterstützende Leistungen ermitteln. Sie bekommen damit eine Chance, wieder zu sich selbst zu finden.«

Aber können diese Informationsarbeit nicht auch Mitarbeiter von Pflegestützpunkten leisten? »Wir alle können nur schwer ermessen, in welcher Situation ein pflegender Angehöriger ist«, sagt Friedrich und schaut dabei sehr nachdenklich. »Selbst eine Beratungsstelle muss man erst mal finden, dann einen Termin für ein Gespräch vereinbaren und noch jemanden finden, der einen so lange bei der Pflege vertritt. Allein mit diesem Aufwand ist man oft schon überfordert, wenn man schon den normalen Tagesablauf mit dem Demenzkranken gerade so eben hinbekommt.« Und dann beschreibt er, was die Vorgehensweise der Pflegebegleiter so besonders macht: »Wir begegnen diesen Menschen oft in ihrer größten Not und stehen ihnen in einer besonderen Art bei, nämlich nachbarschaftlich und unaufdringlich. Wir rufen an oder kommen vorbei, wir machen Vorschläge und bieten oft Lösungen, auf die sie selbst nicht kommen würden.«

Das Angebot der Pflegebegleitung geht zurück auf ein Projekt des Forschungsinstituts Geragogik e. V. in Witten unter der Leitung von Prof. Dr. Elisabeth Bubolz-Lutz. Ihr wichtigstes Anliegen: Sie wollte ein Unterstützungsnetz mit freiwilligen Helfern knüpfen, das pflegende Angehörige stärkt. Für ihr eigentliches Fachgebiet – Lernen und Bildung in alternden Gesellschaften – wollte Bubolz-Lutz mit ihrem Team darüber hinaus herausfinden, ob engagierte Menschen die dazu nötigen Kompetenzen durch selbstbestimmtes Lernen nachhaltig erwerben können. Das bundesweite Projekt der Pflegebegleitung wurde gefördert durch die Spitzenverbände der Pflegekassen und wissenschaftlich begleitet durch das Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) der Katholischen Fachhochschule Freiburg. Es dauerte fünf Jahre und endete 2008.

Aber mit Projekten ist das so eine Sache. Selbst dann, wenn sie erfolgreich sind, ist ihr Ende oft trotzdem besiegelt, wenn die finanzielle Förderung nicht darüber hinaus gewährleistet ist. Um die Pflegebegleiter vor diesem Schicksal zu bewahren, hat man aber schon damals vorgebaut und ein spezielles Konstrukt zur Bedingung gemacht: Jede »Pflegebegleiterzelle« in einer Kommune startet mit einem »Initiatortandem«, das aus einem hauptamtlichen und einem ehrenamtlichen Helfer besteht. Der hauptamtliche Helfer wird bezahlt von einer Trägerorganisation vor Ort, die außerdem Räumlichkeiten für Gruppentreffen und für die Organisation und Koordination der Gruppe zur Verfügung stellt.

In Potsdam hat die AWO SANO Sozialakademie diese »Patenschaft« übernommen. Um mir die Gelegenheit zu geben, einmal selbst mit Pflegebegleitern zu sprechen, hat Akademieleiter Horst Weipert zu unserem Gespräch den Projektinitiator Gerrit Friedrich und die Pflegebegleiterin Rita Kempa eingeladen.

Friedrich hat über den Förderverein Akademie 2. Lebenshälfte im Land Brandenburg e. V. 2005 einen für alle Pflegebegleiter obligatorischen 60-Stunden-Kurs absolviert. Seitdem trifft sich die Absolventengruppe regelmäßig, um Erfahrungen auszutauschen und sich gemeinsam weiterzubilden. Dafür werden entweder externe Experten eingeladen oder jeder übernimmt reihum ein Fortbildungsthema zu einem Bereich, in dem er selbst Experte ist. »Auf diese Weise habe ich viel über den Umgang mit Demenzkranken gelernt, zum Beispiel, was Musik alles bewirken kann. Und deshalb spiele ich heute nicht mehr nur für mich Gitarre, sondern jede Woche in einer Demenz-WG«, erzählt Friedrich. Das macht er zusätzlich zu seinen Einsätzen als Pflegebegleiter. »Ich erlebe jedes Mal, wie viel Schönes ich damit bei den Demenzkranken bewirken kann. Und das bringt mir selbst so viel, ich freu mich mit und bin glücklich. Ohne unsere regelmäßigen Fortbildungstreffen wäre ich da aber nie drauf gekommen.«

Rita Kempa hat der Zufall zu den Pflegebegleitern gebracht: Die IT-Spezialistin hatte zuvor in einem Ministerium gearbeitet und war ihrer gehbehinderten Mutter zuliebe in den Vorruhestand gegangen. Doch schon kurze Zeit, nachdem sie die Betreuung übernommen hatte, starb die Mutter. »Ich bin in ein Loch gefallen und wollte nun das, was ich für meine Mutter nicht tun konnte, für andere Menschen tun.« Deshalb beschloss sie, einen Kurs als Seniorentrainerin zu absolvieren. Als dieser nicht zustande kam, meldete sie sich zum Kurs der Pflegebegleiter an, »obwohl ich zuerst dachte, für Pflege bin ich ja nicht so geeignet. Aber: Wir pflegen ja schließlich auch nicht. Jetzt bin ich zwar erst seit zwei Jahren dabei, kann mir aber gar nichts anderes mehr vorstellen.«

Auch Rita Kempa empfindet die regelmäßigen, selbst organisierten Fortbildungen als eine große Bereicherung. »Wir laden Altenpflegekräfte, Anwälte, Ärzte, Hospizbegleiter, Vertreter von Krankenkassen oder vom Sozialamt ein und alle informieren uns bereitwillig über ihr Spezialgebiet. Ich glaube, weil sie auch spüren, dass wir etwas bewirken können. Diese Bestätigung, die wir von den Fachleuten erfahren, tut genauso gut wie das Gefühl, etwas für die pflegenden Angehörigen zu tun.« Aber auch die anderen profitieren von Kempas Spezialwissen: »Gerade überarbeite ich unseren Internetauftritt und helfe außerdem jedem Gruppenmitglied bei PC-Problemen.«

Hier schaltet sich Horst Weipert kurz ein: »Oft werde ich gefragt, ob man für freiwilliges Engagement denn wenigstens eine Entschädigung in finanzieller Form erhalten sollte, so eine Art symbolische Wertschätzung. Ich bin der Meinung, dass das nicht der richtige Weg ist, denn er führt geradewegs in die Ausbeutung. Freiwilliges Engagement darf nicht zu einer billigen Alternative für Arbeit im sozialen Bereich werden, wie sie schon heute von vielen verstanden wird. Und wie Sie am Beispiel der Pflegebegleiter sehen, kann Wertschätzung auch anders funktionieren.«

Mich interessiert, was jemanden dazu bringt, freiwillig zu helfen. »Ich war eigentlich schon immer so ein Kümmerer. Mich für Schwächere zu engagieren, war mir immer wichtig. Ich bin so aufgewachsen und habe es auch im Elternhaus nicht anders erlebt«, erklärt Gerrit Friedrich. Und auch Rita Kempa, deren Mutter bei der Volkssolidarität gearbeitet hat, ist seit Kindertagen daran gewöhnt zu helfen. »Allerdings wäre ich vor zwanzig Jahren nicht auf die Idee gekommen, mich freiwillig zu engagieren. Der Wunsch, das zu tun, ist erst später entstanden. Wissen Sie, mir geht es so gut, dass ich anderen einfach helfen will.«

Aber belastet es nicht auch, wenn man sieht, wie schlecht es anderen geht? »Ja, natürlich«, meldet sich Friedrich. »Es kann manchmal sehr frustrierend sein, aber da muss man sich dann auch sagen: ›Du kannst die Welt nicht retten!‹« »Aber so wie wir uns zusammen über jeden kleinen Erfolg freuen«, meint Kempa, »teilen wir auch den Frust miteinander und helfen uns, damit klarzukommen.«

Wer so tiefe Einblicke in den Alltag von pflegenden Angehörigen bekommt, der kann doch bestimmt beschreiben, woran es denn am meisten fehlt. »Anerkennung für ihren unermüdlichen Einsatz und die Wertschätzung ihrer Pflegearbeit. Das ist es, was die Angehörigen am wenigsten bekommen und am nötigsten brauchen«, antwortet Rita Kempa ohne zu zögern. Auch Gerrit Friedrich hat sofort eine Antwort parat: »Oft ist es gar nicht mal die Pflege, die so belastend ist, sondern der tägliche Kampf mit Pflegekasse, Krankenkasse und Behörden. Das alles zermürbt und macht die Pflege so zur Last.« Und Horst Weipert schließlich zweifelt daran, dass ambulante vor stationärer Pflege grundsätzlich der Königsweg ist: »Angehörige können die Pflege gar nicht in vollem Umfang leisten, darüber müssen wir eine Debatte führen!«

Die Potsdamer Pflegebegleiter lassen trotz allem nicht davon abhalten, ihr Bestes zu geben. Dafür gab es 2008 immerhin auch jede Menge Anerkennung, wie man in der Laudatio zum zweiten Platz des »Innovationspreises Pflege« des Landes Brandenburg lesen kann: »Bei der Umsetzung der Grundidee, dass nicht nur pflegebedürftige Menschen Unterstützung und Begleitung benötigen, sondern auch pflegende Angehörige, hat die Sozialakademie AWO SANO gGmbH Potsdam unter Einbeziehung von vielen Kooperationspartnern ein beispielgebendes Konzept für die Gewinnung, Schulung und dauerhafte Begleitung und Vernetzung von ehrenamtlichen Pflegebegleiterinnen und -begleitern entwickelt. Rund 300 Pflegebegleiterinnen und Pflegebegleiter sind inzwischen an zehn Standorten im Land Brandenburg tätig und zu einem festen Bestandteil der lokalen Altenhilfestruktur geworden.«12

Das ist sicher für alle hier in Potsdam eine wichtige Anerkennung, von der sie sich einen zusätzlichen Werbeeffekt versprechen. Aber Friedrich bringt es zum Schluss auf den Punkt, als er sagt: »Wenn sich die pflegenden Angehörigen ihren Kummer von der Seele geredet haben und wir sehen, wie sie langsam wieder aufblühen, weil wir ihnen zuhören und unseren Beistand anbieten, dann ist mir das viel mehr wert als alles andere.«



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