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Оглавление1 Ist das noch normal?
In unserer Kindheit wachsen wir gewöhnlich mit den Regeln unserer Eltern und Großeltern auf, später richten wir uns zunehmend nach Mitschülern und gleichaltrigen Freunden. Wir orientieren uns also am Verhalten unserer Mitmenschen und nennen das »normal«. Sobald jemand Dinge tut, die aus diesem bekannten und allseits akzeptierten Rahmen fallen, finden wir das unnormal, befremdlich. Wir distanzieren uns.
Ich bin mit meiner Großmutter Ilse und meinen Eltern aufgewachsen. In einem Mehrfamilienhaus in Hamburg wohnten Omi im zweiten Stock und wir zu dritt im Erdgeschoss. Unser Verhältnis war sehr herzlich und innig. Meine Großmutter war eine sehr schöne, stolze, lustige und gesellige Frau, ihr Mann war kurz vor meiner Geburt an einem Herzinfarkt gestorben. Der Zusammenhalt war sehr groß in unserer Familie. Die gemeinsamen täglichen Stunden am Mittagstisch mit anschließendem gemeinsamem Mittagsschlaf haben mir ein Urvertrauen geschenkt, von dem ich bis heute zehre.
Als meine Großmutter 82 Jahre alt war, ging von dieser gewohnten und gelebten »Normalität« ein Stück verloren. Unser Familienoberhaupt Ilse Bischoff stand auf einmal vor der Kaffeemaschine und stellte sie an, ohne Wasser eingefüllt zu haben. Eine Kleinigkeit? Natürlich, so was ist mir auch schon mal passiert. Aber schon bald darauf vergaß sie ihren Schlüssel und die Geldbörse an den unterschiedlichsten Orten. Und zwar mehrmals täglich – mal im Keller, mal an der Kasse im Supermarkt. Wenn wir sie aus der Küche zu uns riefen, lief sie ins Wohnzimmer. Und im Winter stand sie frierend im dünnen Kleid vor unserer Tür.
Anfangs konnten wir solche Begebenheiten noch mit Humor auffangen, aber das änderte sich schnell: Ilses Fehler, Irrtümer, Erinnerungslücken wurden immer häufiger. Es waren nur unsere Reaktionen, die ihr diese Ausfallerscheinungen überhaupt ins Bewusstsein brachten. Bald spürten wir ihre wachsende Verzweiflung, denn eines wurde ihr klar: Was ich tue, ist nicht mehr normal!
Der Arzt gab dann dem Unnormalen einen Namen: Alzheimer. Nun hatten wir zwar eine Bezeichnung für das, was mit Omi passierte, aber keine Ahnung, was Ilse und uns erwartete.
Neun Jahre haben wir meine Großmutter durch diese Krankheit begleitet. In dieser Zeit hat sich Ilse immer weiter von dem entfernt, was wir »Normalität« nennen. Aber mir kam sie immer näher. Dieser scheinbare Widerspruch hat mich stark beschäftigt und war sicher ein wichtiger Grund dafür, dass ich mich nach Ilses Tod entschlossen habe, mich künftig ausschließlich der Arbeit für und mit demenzkranken Menschen zu widmen. Und deshalb habe ich die Firma »Ilses weite Welt« gegründet.
Ich habe in dieser ganzen Zeit vor allem eines gelernt: Wir können Demenzkranke nur erreichen, wenn wir ihnen in ihrer und nicht in unserer Welt begegnen. Was einem Menschen in dieser Krankheit noch bleibt, wirkt auf den ersten Blick kümmerlich. Wer aber hingeht, genauer hinschaut, mitfühlt, der erkennt jedoch viel: die Individualität dieses Menschen, geprägt durch seine Erfahrungen und Werte.
Menschen mit Demenz leben in ihrer Welt, mit dem, was aus ihrem bisherigen Leben übrigbleibt: Erinnerungen und Gefühle. Und die sind absolut normal und real. Wir haben also keine andere Wahl, als unsere Regeln im Umgang mit Normalität neu zu definieren. Dazu müssen wir Mauern durchbrechen und eine Reise in eine andere Welt wagen. Es ist ein tägliches Abenteuer, das viel Geduld, Verständnis und Mitgefühl von uns verlangt. Die Belohnung? Wir verstehen, was es heißt, Mensch zu sein. Und zu bleiben.
Hohes Alter gilt als größter Risikofaktor für eine Demenz. Die Lebenserwartung steigt aber immer weiter, und ein heute etwa 40 Jahre alter Mann wird durchschnittlich erst mit 86 Jahren sterben, eine Frau im Schnitt mit 90 Jahren. »Durchschnittlich« bedeutet aber: Es werden sehr viele Menschen dieser Altersgruppe auch wesentlich älter. Ein Ende dieser Entwicklung ist gar nicht abzusehen – wer um die Jahrtausendwende geboren wurde, wird im Schnitt auch noch die nächste Jahrhundertwende erleben.
Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass etwa ein Drittel aller Menschen über 80 Jahre demenzielle Symptome aufweist. Grund genug also für die Forscher, die medizinischen Ursachen von Demenz genauer zu untersuchen. Zudem müssen sie Methoden und Mittel finden, die uns davor bewahren können, eine Demenz zu entwickeln.
Was aber ist Demenz eigentlich? Den Begriff der »senilen Demenz« für schleichenden Gedächtnisverlust, Wortfindungsstörungen, Verwirrtheit, Angstzustände, Orientierungslosigkeit und Verständigungsprobleme bei 70- bis 80-Jährigen hatte der Psychiater Emil Kraepelin bereits im Jahre 1890 eingeführt. Alois Alzheimer, ebenfalls Psychiater, erkannte diese Symptome jedoch bei einer Frau, die mit gerade mal 50 Jahren dafür eigentlich viel zu jung war. Weil er sich fragte, ob die Ausfallerscheinungen seiner Patientin eine eigenständige Krankheitsform sein könnten und warum ihr Leiden schon so früh einsetzte, untersuchte er nach ihrem Tod ihr Gehirn. Dabei entdeckte er Eiweißablagerungen und abgestorbene Nervenzellen, wie er und seine Kollegen sie bereits in den Gehirnen von hochaltrigen Patienten mit seniler Demenz gefunden hatten. Zwar konnten Alzheimer und sein Lehrmeister Kraepelin beide Demenzformen nicht klar voneinander trennen; dennoch erklärten sie die präsenile, also vorzeitige Demenz zu einer eigenständigen und von der senilen Demenz unterscheidbaren Krankheit. Später fasste man beide degenerativen Hirnleistungsstörungen dann doch unter einer Bezeichnung zusammen: Alzheimer.
Bis heute forschen Mediziner nach den Ursachen für den massiven Hirnsubstanzabbau, nach Heilungsmöglichkeiten, vorbeugenden Impfungen oder nach Medikamenten, die den Abbau der Nervenzellen im Hirn aufhalten oder wenigstens verzögern können. Deshalb landen weltweit Forschungsgelder in Milliardenhöhe in immer mehr wissenschaftlichen Projekten in diesem Bereich – auf nahezu 1 000 Alzheimerpatienten kommt ein Wissenschaftler. Prof. Konrad Beyreuther, Gründungsdirektor und Leiter des Heidelberger Netzwerks für Alternsforschung (NAR), sieht die gegenwärtige Forschungsarbeit jedoch durchaus kritisch: »Alzheimer ist natürlich ein Thema, das viele Wissenschaftler anzieht. Für den einen ist es sein Lebensthema, für den anderen ist es eine Gelegenheit, schnell eine Publikation zu machen und sich dann aus diesem doch sehr durch Konkurrenz geprägten Feld wieder zurückzuziehen. Man muss einfach auch feststellen, dass die meisten Arbeiten, die diese 25 000 Alzheimerforscher publizieren, sich im Wesentlichen um ein einziges Eiweiß drehen.«1
Der Effekt dieser einseitigen Forschung ist verblüffend: Die altersbedingte Abnahme von körperlichen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, also wahrnehmen, denken, erinnern, orientieren, planen, wird fast nur noch als krankhafter Abbau von Hirnzellen durch Ablagerungen von Eiweißmolekülen begriffen – und damit zu einem Problem auf der Ebene von Molekülen reduziert. Andere Faktoren spielen da kaum noch eine Rolle. Unverdrossen hoffen die Forscher, das Zellsterben im Hirn durch Vorbeugung zu verhindern oder durch Tests und Untersuchungen möglichst frühzeitig erkennen und wirksam bekämpfen zu können. Doch in einem älter werdenden Körper altern nun mal alle Organe, und ihre Leistungsfähigkeit lässt deutlich nach. Unser Denkorgan ist da keine Ausnahme.
Dabei ist es gar nicht sicher, dass Eiweißablagerungen und absterbende Nervenzellen im Hirn tatsächlich Demenz verursachen. Grund zu dieser Annahme gibt beispielsweise eine Langzeitstudie in einer Ordensgemeinschaft in den USA: 678 Nonnen der »School Sisters of Notre Dame« aus Kongregationen in Baltimore, Chicago, Dallas, Mankato, Milwaukee, St. Louis und Wilton haben sich dafür zur Verfügung gestellt. Ein Forscherteam der Universität von Kentucky um Professor David Snowdon darf seit 1986 Klosterarchive nutzen, regelmäßige Tests und Befragungen durchführen und die Gehirne der Nonnen nach deren Tod untersuchen.
Bei diesen Zelluntersuchungen entdeckten die Wissenschaftler tatsächlich Alzheimer-typische Veränderungen in den Gehirnen von im hohen Alter verstorbenen Nonnen. Allerdings waren diese Frauen, als sie noch lebten, nicht durch demenzielles Verhalten aufgefallen. Vielmehr waren sie bis zuletzt geistig rege gewesen. Die bei ihrem Tod 105 Jahre alte Schwester Matthia zum Beispiel kam ihren Aufgaben in der Krankenstation bis zuletzt ohne Beeinträchtigungen nach. Und dem Gehirn von Schwester Bernadette wurde Demenzgrad 6 bescheinigt, also Alzheimer im Endstadium. Allerdings schnitt die akademisch gebildete Nonne in sämtlichen Test über all die Jahre hinweg bis zu ihrem Tod durch Herzstillstand im Alter von 85 Jahren stets überdurchschnittlich gut ab.2
Auch Untersuchungen in England, Wales und den USA, bei denen die Gehirne von Menschen im Alter zwischen 70 und 103 Jahren obduziert wurden, ergaben, dass die Alzheimer-typischen Veränderungen genauso häufig bei psychisch gesunden wie bei Menschen mit Demenz auftraten.3 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden bereits 2001 und 2006 veröffentlicht. Und dennoch: Gehirnschwund und Eiweißablagerungen gelten den meisten Medizinern bis heute als eindeutiger Beweis für eine Demenz.
Als meine Oma Ilse seltsam wurde, dachte ich an alles – nur nicht an Eiweißablagerungen und Zellschwund in ihrem Gehirn. Das mag für Mediziner von hohem Interesse sein, aber für Angehörige und Mitmenschen stellen sich doch ganz andere Fragen. Und seit ich mich immer intensiver mit dem Thema Demenz auseinandersetze, frage ich mich vor allem auch, was das Nachlassen von körperlichen und geistigen Fähigkeiten in unserer Gesellschaft überhaupt bedeutet. Empfinden wir solche Verluste heute anders als noch vor 100 oder vor 50 Jahren? Wo hört nach unserem Verständnis heute »normales« Verhalten auf? Ab wann empfinden wir, dass ein alter Mensch seltsam und auffällig wird? Und: Ab welchem Zeitpunkt wird ein bestimmtes Verhalten nach unseren heutigen Begriffen krankhaft und damit ein Fall für die ärztliche Untersuchung?
Interessant ist hierzu eine Studie aus dem Jahre 1996: Menschen im Alter von 65 bis 85 Jahren wurden zur Art ihrer subjektiv empfundenen Gedächtnisstörungen befragt. 40 Prozent gaben allgemeine Gedächtnisprobleme an, ebenso viele hatten Wortfindungsstörungen und verlegten Dinge. 38 Prozent schrieben sich Zettel, 23 Prozent empfanden, dass sie langsamer im Denken wurden, 13 Prozent vergaßen die Namen von Freunden und Verwandten, 14 Prozent schätzten sich als vergesslich ein, acht Prozent gaben Konzentrationsprobleme an und vier Prozent hatten sich schon mal in der Nachbarschaft verlaufen. Bemerkenswert an dieser Studie ist, dass sie ausdrücklich mit »nicht dementen Personen« durchgeführt wurde.4
Schaut man sich heute, 16 Jahre später, die subjektiven Aussagen über Wortfindungsstörungen, Gedächtnis- und Orientierungsprobleme an, drängt sich schnell die Frage auf: Würde man diese Antworten nicht längst als Selbsteinschätzungen von Demenzkranken deuten? Und: Müssten sich die Studienteilnehmer heutzutage nicht längst schon einem Mini-Mental-Status-Test zur Erkennung einer Demenz (siehe Seite 23) unterziehen?
Natürliche Altersbegleiterscheinungen wie das Nachlassen von Gedächtnisleistungen werden heute angesichts einer übersteigerten Erwartungshaltung an die Vitalität im Alter viel stärker als krankhafter Verlust empfunden. Und die unzähligen im Internet angebotenen Selbsttests helfen Senioren auch nicht gerade dabei, gelassen alt zu werden.
Formen der Demenz
Die Leistungsfähigkeit unseres Hirns nimmt im Alter nicht automatisch ab, sondern wandelt sich. Angeborene Fähigkeiten wie zum Beispiel die Auffassungsgabe lassen allmählich nach. Fähigkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben – wie sprachlicher Ausdruck etwa –, bleiben weitgehend erhalten und können durch Lernen sogar noch erweitert werden. Es ändert sich allerdings die Art und Weise, wie wir lernen, weil unsere Auffassungsgabe eben nachlässt.
Schwindende Merkfähigkeit und Erinnerungslücken werden im Alltag zunächst einmal dem natürlichen Alterungsprozess zugeschrieben, das ist auch richtig so. Eine Demenz sollte man erst dann vermuten, wenn die Hirnleistungen so stark abnehmen, dass berufliche, soziale und ganz alltägliche Fähigkeiten spürbar beeinträchtigt sind. Und wenn die demenziellen Symptome nicht nur durch eigenes Empfinden belegt werden, sondern auch durch die Beobachtungen von Menschen im Umfeld.
Demenz ist keine eigene Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für unterschiedliche Erkrankungen mit teils völlig unterschiedlichen Ursachen. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen primären (90 Prozent) und sekundären (zehn Prozent) Formen der Demenz.
Primäre Demenzen beginnen direkt im Gehirn und sind nach heutigem Kenntnisstand irreversibel. Weniger als drei Prozent der primären Demenzerkrankungen treten bereits im Alter unter 65 Jahren auf – in Deutschland sind davon rund 20 000 Menschen betroffen.5 Diese Fälle werden aber überdurchschnittlich häufig in den Medien dokumentiert, denn solange ein Mensch noch mitten im Familien- und Berufsleben steht, wirkt der geistige Verfall besonders schockierend – und ist damit medienwirksamer als eine 85-jährige Alzheimer-Oma, die mit 20 weiteren demenzbetroffenen Bewohnern auf der Station eines Pflegeheims lebt. Bei 60 Prozent der demenziellen Veränderungen handelt es sich übrigens um eine Demenz vom Typ Alzheimer.
15 bis 20 Prozent der primären Demenzen machen vaskuläre Demenzen aus, deren Ursache Durchblutungsstörungen im Gehirn sind. Man schätzt, dass etwa ein Drittel der Menschen, die einen Schlaganfall überlebt haben, später an einer vaskulären Demenz leiden. Häufig gehen einem Schlaganfall mehrere Mini-Schlaganfälle voraus, sogenannte transitorisch-ischämische Attacken (TIA). Die direkten Auswirkungen einer solchen TIA – Taubheitsgefühle in Armen oder Beinen, unvermittelte Seh- oder Sprachstörungen, plötzliche Unfähigkeit zu lesen, zu rechnen oder zu schreiben – bilden sich meist wieder zurück. Die TIA können aber demenzielle Veränderungen hervorrufen.
Sekundäre Demenzformen entstehen als Folge von anderen Grunderkrankungen wie etwa Stoffwechselerkrankungen oder Infektionen. Diese Grunderkrankungen sind zumindest zum Teil behandelbar, manchmal ist auch eine Rückbildung der Demenzsymptomatik möglich.6
Die Auslöser und Ursachen für Demenzen oder demenzähnliche Symptome sind vielfältig und müssen durch sogenannte Differentialdiagnosen ermittelt oder ausgeschlossen werden:
Durchblutungsstörungen
Stoffwechselerkrankungen wie Schilddrüsenüberfunktion oder -unterfunktion, Unterzuckerung bei Menschen mit Typ2-Diabetes, gestörter Natrium- und Kalziumhaushalt
Sauerstoffmangel durch Herz- oder Lungenerkrankung
Schädel-Hirnverletzungen
Autoimmunkrankheiten (zum Beispiel Multiple Sklerose)
Alkoholismus (zum Beispiel Korsakow-Syndrom)
Tumore oder die Fernwirkungen von Karzinomen
Infektionen (zum Beispiel virale oder bakterielle Gehirn- oder Hirnhautentzündungen)
Mangelernährung (zum Beispiel Mangel an Vitamin B1, Vitamin B12, Folsäure oder Vitamin B6)
Vererbung (genetische Prädisposition)
Schwermetalle wie Blei bei dauerhaftem Kontakt über Jahre hinweg
Gifte (darunter Insektengifte und Lösungsmittel)
Medikamente (darunter Antidepressiva, Hypnotika, Sedativa, Wirkstoffe gegen Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck und Epilepsie)
Wenn die Diagnose Demenz heißt
Schon die Vielzahl der möglichen Auslöser erschwert also eine klare Diagnose; zudem kann es zu Verwechslungen kommen, denn die Symptome einer Demenz ähneln auch behandelbaren Erkrankungen wie einer Depression oder einem Delirium (akuter Verwirrtheitszustand). Ein Delirium kann ausgelöst werden durch eine Vergiftung mit Medikamenten oder durch Drogen (Alkohol), aber auch durch Flüssigkeitsmangel, Elektrolytverschiebungen oder durch Narkosen.7 Es gibt also nicht nur eine Fülle möglicher Ursachen für demenzielle Veränderungen, sondern auch viele Symptomähnlichkeiten, die zwar für eine Demenz sprechen, aber auch Ursachen haben können, die gar nichts mit Demenz zu tun haben. Das Fatale daran aber ist: Je älter ein Patient mit typisch demenziellen Symptomen ist, desto naheliegender und für alle nachvollziehbar scheint die Diagnose Alzheimer-Demenz.
»Viele Menschen mit einer vermeintlichen Demenz sind gar nicht oder jedenfalls nicht ausreichend diagnostiziert«, sagt Prof. Dr. Hans-Georg Nehen, Klinikdirektor des Geriatrie-Zentrums Haus Berge im Elisabeth-Krankenhaus in Essen. Er legt deshalb bei einer Diagnose besondere Maßstäbe an: Die Untersuchungen und Tests mit seinen Patienten werden von einem vierköpfigen Gremium durchgeführt, das aus einem Nervenarzt, einem Facharzt für Geriatrie, einem Diplom-Gerontologen und einem Diplom-Pädagogen besteht. Außerdem fordert Nehen, in dessen Memory-Klinik auch Ex-Schalke-Manager Rudi Assauer behandelt wird: »Der Hausarzt sollte bei einem Demenzverdacht Voruntersuchungen durchführen und zur weiteren speziellen Differentialdiagnose den Patienten in eine Spezialambulanz überweisen.«
Um einer Demenz auf die Spur zu kommen oder sie ausschließen zu können, sind zahlreiche Untersuchungen nötig: Blut- und Urintests sowie Blutdruck- und Pulsmessung geben Hinweise auf eventuelle Mangelerscheinungen. Mit Seh- und Hörtests lassen sich mögliche Ursachen für demenzähnliche Symptome ergründen. Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) und die Computertomografie (CT) können vor allem behandelbare Demenzursachen nachweisen, etwa Gefäßverengungen oder -verletzungen und Mikroblutungen.
Schließlich lässt sich mit sogenannten psychometrischen Testverfahren ermitteln, wie stark Hirnleistungen und Fähigkeiten eingeschränkt sind:
Demenz-Detektionstest (DEMTECT): Fünf Aufgabenblöcke zu den Funktionen, die schon im Frühstadium einer Demenz beeinträchtigt sein können: Neugedächtnisbildung, mentale Flexibilität, Sprachproduktion, Aufmerksamkeit und Gedächtnisabruf.
Mini-Mental-Status-Test (MMST), auch Mini-Mental State Examination (MMSE): Eignet sich zur Messung des genaueren Schweregrades bei mittleren bis schweren Demenzen. Der Test umfasst diese Aufgabenkomplexe: zeitliche, örtliche, situative und personelle Orientierung, Merk- und Erinnerungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Sprache und Sprachverständnis, Lesen, Schreiben, Zeichnen und Rechnen.
Uhrzeit-Zeichnen-Test (UZT): Alltagspraktischer Test, der sich besonders gut zur Erfassung visuell-räumlicher und konstruktiver Defizite eignet.
Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD): Gemischtes Verfahren aus alltagsrelevanten Wissensfragen und Aufgaben, zusätzlich sind die Einschätzung der Stimmungslage und die orientierende Abgrenzung von kognitiven zu depressiven Störungen möglich.8
Mit dem ADAS-cog-Test (Alzheimer’s Disease Assessment Scale, cognitive subscale) lässt sich das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit bestimmen.9
Die AFI (Alzheimer Forschung Initiative e. V.) empfiehlt die Kombination verschiedener Tests, da so die Aussagefähigkeit erhöht wird. Für eine gesicherte Diagnose ist meist eine Überweisung zum Neurologen oder Gerontopsychiater erforderlich, denn dort stehen neuropsychologische Tests, ausführliche neurologische Untersuchungsmöglichkeiten und bildgebende Verfahren eher zur Verfügung als beim Hausarzt.
Wie sinnvoll diese Empfehlungen sind, zeigt eine Untersuchung des Instituts für Allgemeinmedizin der Uniklinik Hamburg-Eppendorf: Die Studie beschäftigte sich mit »Inanspruchnahme und Kosten der ärztlichen und pflegerischen Versorgung von Patienten mit degenerativer Demenz in der Gesetzlichen Krankenversicherung«. Ergebnis: Bei der großen Mehrheit der Patienten mit neu diagnostizierter Demenz wird nicht gründlich nach den Ursachen gesucht.10
Gibt es auch andere Gründe für Demenz?
Je länger ich mich mit demenzkranken Menschen beschäftige, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass die Auslöser für eine Demenz häufig dort liegen, wo sie bislang nur wenige Experten vermuten. Es gibt offenbar Lebensbedingungen, die die Entwicklung einer Demenz begünstigen. Die seelische Gesundheit eines alten Menschen scheint dabei eine Schlüsselrolle zu spielen. Eine Reihe von Lebensumständen können das seelische Befinden mit fortschreitendem Alter jedoch ganz plötzlich oder auch schleichend aus dem Takt bringen: Das Gefühl, nutzlos zu sein und von keinem mehr gebraucht zu werden, gehört sicherlich dazu. Solche Gefühle können zum Beispiel leicht entstehen, wenn man in Rente geht, ohne sich rechtzeitig darauf vorbereitet zu haben. Auch der Tod des Partners – plötzlich und unerwartet oder nach langer Pflegebedürftigkeit – kann eine Rolle spielen. Oder wenn ein Mensch bereits viele Jahre seines Lebens alleine gewohnt hat und nach der beruflichen Phase die Kontakte zu anderen Menschen immer seltener werden.
Wer nur noch schwer gehen kann, schränkt ebenfalls seine sozialen Kontakte zunehmend ein. Wer schlecht sieht und hört, nimmt immer weniger von seiner Umwelt war, tauscht sich mit anderen kaum noch aus, ist häufig verunsichert und zieht sich zurück. Wer mit den eigenen altersbedingten gesundheitlichen Einschränkungen kaum zurechtkommt, unter Schmerzen leidet und daran verzweifelt, kapselt sich ab. Das Ergebnis ist im Prinzip immer das Gleiche: soziale Isolation, Einsamkeit, Traurigkeit, Unglücklichsein. So etwas kann schwermütig machen und schließlich in eine Altersdepression münden – und zwar nicht gerade selten. Der ärztliche Leiter des Zentrums für Geriatrie und Gerontologie Prof. Dr. Michael Hüll stellt fest, dass jeder zehnte Patient über 60 Jahre im Wartezimmer beim Hausarzt unter einer Depression leidet.11 Die Dunkelziffer wird höher geschätzt, weil viele Depressionen gar nicht erst erkannt werden. Sicher ist aber: Bis zum 80. Lebensjahr erkranken mehr Menschen an Depressionen als an Demenz.12
Aber auch verdrängte traumatische Erlebnisse oder Schuldgefühle können im Alter zurück ins Bewusstsein dringen und die psychische Verfassung eines alten Menschen nachhaltig beeinträchtigen. Die Unfähigkeit, sich mit dem Unverarbeiteten auseinanderzusetzen, kann letztlich ebenfalls in die Depression führen.
Dass allein zellbiologische Ursachen für eine Demenz verantwortlich sind, ist daher mehr als fraglich. Unsere Biographie, unsere vergangenen und aktuellen Lebensumstände, unsere Lebenszufriedenheit scheinen mir genauso damit zu tun zu haben wie unser aller Umgang mit Menschen, die aus der Leistungsgesellschaft »herausfallen«, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Vielleicht sollten wir die weltweite rapide Zunahme an Demenzerkrankungen in den vergangenen Jahren unter anderem auch als gesellschaftliches Phänomen betrachten? Und die Demenz möglicherweise als eine regelrechte Flucht ins Vergessen? Als einen letzten Ausweg, den jemand nimmt, weil er überfordert ist mit seinen unverarbeiteten Seelenqualen oder unterfordert, weil niemand ihn mehr braucht und er sich überflüssig fühlt?
Soziale Kontakte zu haben und zu pflegen, erhält nicht nur Menschen ohne Demenz seelisch gesund, auch für Demenzkranke bleiben schöne Erlebnisse mit anderen Menschen lebenswichtig. Ich erlebe es oft: Viele Familien, die einen Menschen mit Demenz zu Hause betreuen, isolieren sich immer mehr, vereinsamen. Demenzsymptome können sich auf diese Weise verstärken und die pflegenden Angehörigen selbst leiden oft so sehr, dass sich bei ihnen Depressionen entwickeln können. Dabei sehnen sich viele von ihnen nach Abwechslung und Erlösung aus der Patient-Pfleger-Situation – auch wenn es nur für kurze Zeit ist.
Kürzlich habe ich ein Projekt kennengelernt, das genau hier ansetzt und Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und damit Normalität ermöglicht – und dabei eigentlich noch mehr kann.
»Das Herz wird nicht dement …«
Pure Lebenslust empfinden und aus der Demenz zurückfinden in die Welt, die einem immer so vertraut war – würde eine gute Fee Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen drei Wünsche gewähren, stünde dieser an erster Stelle.
Hans-Georg Stallnig sieht nicht aus wie eine Fee. Stefan Kleinstück auch nicht. Aber die beiden erfüllen seit 2009 vielen Menschen genau diesen Wunsch. Stallnig, Inhaber einer Tanzschule in Köln, und Kleinstück, Koordinator des Demenz-Servicezentrums für die Region Köln und südliches Rheinland, haben eine bundesweit einzigartige Initiative gestartet: die Veranstaltungsreihe »Wir tanzen wieder« speziell für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Vor wenigen Monaten habe ich die zwei als ein perfekt eingespieltes Team auf einem Kongress zum Thema Demenz kennengelernt. Jetzt sitze ich ihnen wieder gegenüber. Es ist der Abend vor einem Seminar, das die beiden Kölner für Altenpflegekräfte und Tanzlehrer in Hamburg veranstalten – ihr Thema: Tanzen für Menschen mit und ohne Demenz in Tanzschulen.
Dass Musik und Tanz tief verankerte Fähigkeiten sind, die selbst Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz abrufen können, nutze ich ja selbst bei meinen Filmprojekten und Beschäftigungsangeboten für Menschen mit Demenz. Und natürlich gehören Tanztees, Singkreise, Sitztanzgruppen und therapeutische Bewegungsübungen zur Sturzprophylaxe zum beliebten Repertoire in Pflegeeinrichtungen. Was also ist nun das Besondere an diesem Projekt? Was unterscheidet es von den üblichen, mir wohlbekannten Angeboten? Ich bin gespannt.
»Wir haben vor allem die Menschen im Sinn gehabt, die mit Demenz zu Hause leben, rund um die Uhr versorgt und betreut von ihren Lebenspartnern oder den erwachsenen Kindern oder Schwiegerkindern«, erklärt mir Stefan Kleinstück. »So leben immerhin über 70 Prozent der Menschen mit Demenz in Deutschland. Sie und ihre Angehörigen erleben, wie sich ihre bisherige Beziehung immer mehr wandelt und schließlich in ein oft problematisches Patient-Pfleger-Verhältnis mündet.« Wie leicht sich die Rollen umkehren, habe ich ja selbst mit meiner Oma Ilse erlebt. Und ich spüre auch heute in vielen Gesprächen mit Angehörigen ihre große Verzweiflung in dieser Extremsituation: Wie soll das gut gehen, wenn man schrittweise Verantwortung für jemanden übernehmen muss, der doch ein Leben lang für sich und andere Verantwortung getragen hat?
»Genau hier setzen wir mit unserem Projekt an«, sagt Hans-Georg Stallnig. »Wir holen die Menschen mit unseren Veranstaltungen raus aus dieser unglücklichen Situation und bieten ihnen eine Gelegenheit, sich in einem anderen Zusammenhang gemeinsam wieder anders und neu zu erleben.« Dem Demenzexperten Kleinstück liegt ein weiterer Aspekt besonders am Herzen: »Familien mit einem demenzkranken Angehörigen meiden mehr und mehr die Öffentlichkeit – oft aus Scham oder Angst, dass sich der oder die Betroffene unangemessen verhalten könnte.« Das Rezept des Kölner Duos beschreibt er so: »Unsere Tanznachmittage und Tanzbälle finden ganz bewusst im öffentlichen Raum statt, also auch nicht in Einrichtungen der Altenpflege, sondern in Tanzschulen und Gemeindesälen. Und trotzdem können sich unsere Gäste in einer Umgebung bewegen, in der Demenz ganz selbstverständlich und normal zum Leben gehört. Angehörige sind hier endlich mal ihrer ›Aufpasserrolle‹ enthoben. Wie von ihnen die Anspannung abfällt, das können sie im Minutentakt erleben!«
Das ist das Stichwort für Tanzlehrer Stallnig: »Normalität bieten – das ist tatsächlich das Prinzip, das unsere monatlichen Veranstaltungen so beliebt gemacht hat. Diese intensiven eineinhalb bis zwei Stunden sind eben kein therapeutisches Angebot. Wir wollen Unterhaltung, Spaß und Ablenkung vom Alltag bieten – genau wie andere Freizeitangebote. Wer zu uns in die Tanzschule kommt und tanzen möchte, zahlt Eintritt und darf also auch mit professionellem Service rechnen.«
Am nächsten Tag merke ich, was damit gemeint ist. Wir erleben eins zu eins das, was auch Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen während der Tanzveranstaltungen erleben können. Die Aufgaben haben die beiden Profis klar verteilt: Zwar ist der Diplom-Sozialarbeiter Kleinstück ganz nebenbei auch passionierter Freizeittänzer – auf diese Weise hat sich das Duo auch kennengelernt. Aber nach einer kurzen Einführung von Kleinstück, dem Ideengeber und Initiator des Projekts, übernimmt Tanzlehrer Stallnig das Kommando für den Rest des Programms. Kleinstück sorgt währenddessen einfühlsam im Hintergrund dafür, dass keiner ohne Tanzpartner bleibt. Mit viel Charme kann er auch diejenigen mit einbeziehen, die (noch) nicht tanzen wollen, damit sie die Atmosphäre ebenso genießen können wie die von Stallnig mittlerweile ordentlich in Schwung gebrachten Paare auf dem Parkett des rundum verspiegelten Saals. Da wird formvollendet zum Tanz aufgefordert, und wer sich zum Beispiel bei den Veranstaltungen nur mit Unterstützung vom (Roll-) Stuhl erheben kann, darf sich im Takt zur Musik in den Armen von Kleinstück, Stallnig oder einem der freiwilligen Helfer wiegen, die für ihre Aufgaben bei »Wir tanzen wieder« eine sechsstündige Schulung absolviert haben. Genauso eine, wie wir sie heute erleben.
Die Teilnehmer dieses heutigen Seminars sind Altenpflegekräfte, Tanzlehrer und ich. Wir sind aber noch skeptisch: Menschen, deren Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit aufgrund ihrer Demenz bereits so stark eingeschränkt ist, dass sie die meiste Zeit im Rollstuhl verbringen, sollen plötzlich tanzen können? »Warum Sitztanz für Menschen, die noch stehen können?«, fragt Kleinstück ein bisschen provozierend in die Runde. »Wer noch aufstehen kann, der kann sich auch im Stehen zur Musik bewegen, und mag es noch so reduziert sein.« Die Musik, bekannte Melodien und der Rhythmus – das lässt tatsächlich keinen unberührt. »Das Herz wird nicht dement, das habe ich mit ›Wir tanzen wieder‹ gelernt«, ergänzt TanzprofiStallnig.
Menschen mit fortgeschrittener Demenz erkennen sich oft nicht mehr selbst in einem Spiegel. Sie stehen plötzlich einem scheinbar Fremden gegenüber, können leicht erschrecken oder in Panik geraten. In Tanzschulen aber gehören Spiegelwände zur Grundausstattung. »Wird das nicht zum Problem?«, möchte ich wissen. Die knappe Antwort: »Nicht ein einziges Mal während unserer bislang 40 Tanznachmittage und vier Tanzbälle«, schmunzelt Kleinstück, »sogar mit Glitzerkugel und Discobeleuchtung sind diese Menschen offenbar nicht überfordert, obwohl man weiß, dass Reizüberflutung Menschen mit Demenz stark beängstigen und verunsichern kann. Aber sie werden auch gleich verstehen, warum es dazu nicht kommt.« Damit leitet er zum praktischen Teil über, es übernimmt Stallnig.
Wir erleben im Seminar das gleiche Programm, das die beiden üblicherweise bieten: Auf einen langsamen Walzer folgen Foxtrott, Cha-Cha-Cha, Rumba – allmählich wird uns warm und die Stimmung ausgelassener. Jede Runde endet mit Applaus und mit etwas, das es so in Tanzschulen nicht gibt: Man bedankt sich beim jeweiligen Tanzpartner mit einer Umarmung und versichert sich gegenseitig, wie schön es war. Was zunächst ein bisschen aufgesetzt wirkt, kommt einem bald leicht über die Lippen und ist wirklich so gefühlt und gemeint. Die Wirkung aber ist verblüffend: So entsteht wie von selbst ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ich spüre, dass hier Wertschätzung und Achtsamkeit keine leeren Worthülsen sind.
Eine kleine Atempause gewährt uns nun ein Ratequiz: Wer am schnellsten die kurz angespielten Musikstücke erkennt, für den gibt’s eine kurze Rock’n’Roll-Einlage mit Stefan Kleinstück, der einen souverän durch die Figuren zu manövrieren verspricht. Noch ganz aufgedreht, platze ich beim ersten Stück mit meiner Antwort heraus, und schon stehe ich mit ihm in der Mitte der Tanzfläche. Himmel, mein erster Rock’n’Roll! Schon nach wenigen Sekunden fühle ich mich aber so sicher aufgehoben wie jemand, der seinen ersten Tandemsprung mit einem Fallschirmprofiunternimmt. Und das macht Hobbytänzer Kleinstück auch mit 80-jährigen Damen? »Klar, und sie sollten mal hören, wie die alle quieken – egal, ob sie mitmachen oder zusehen«, grinst er.
Das Erfolgsgeheimnis liegt in der Stimmung: Alle tanzen munter und beschwingt. Wie, das ist vollkommen gleichgültig. »Hier darf jeder wie er will und kann«, sagt Stallnig und ergänzt etwas leiser: »Als ausgebildeter Tanzlehrer muss man da anfangs ein bisschen schlucken.« Umso überraschter sind aber selbst die wettbewerbsgestählten Tanzprofis unserer Seminargruppe: »Die spüren sehr schnell, wie wenig es bei ›Wir tanzen wieder‹ auf korrekte Schrittfolgen ankommt und wie viel auf Erlebnisqualität, Gruppenzugehörigkeit und Wohlfühlen. Das macht die Profis auch in dieser Situation locker und kreativ«, ergänzt er. Seit ihrer Präsentation des Projekts »Wir tanzen wieder« auf einem Kongress des Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverbands (ADTV) erkundigen sich deshalb auch andere Tanzschulen nach dem Kölner Modellprojekt (Kontaktinformationen im Anhang).
Nachdem ich mich zum Seminarschluss von den beiden Stimmungskanonen aus Köln verabschiedet habe, sitze ich auf dem Weg zurück ins Büro in der U-Bahn. Und obwohl es draußen ungemütlich stürmt, lächeln mich die anderen Passagiere alle so freundlich an. Erst jetzt merke ich: Wie bei Bungee-Springern oder Extremsportlern ist auch in meinen Körper der Endorphinspiegel so hoch, dass ich dieses breite, zufriedene Grinsen für die nächsten Stunden nicht mehr aus dem Gesicht bekomme. Jetzt verstehe sehr gut, weshalb Stefan Kleinstück schon am Telefon so geschwärmt hatte: »Die Gäste von ›Wir tanzen wieder‹ kommen immer wieder zu uns, sie werden nämlich süchtig nach Glückshormonen.«