Читать книгу Telepathenaufstand - Sören Kalmarczyk - Страница 3
ОглавлениеDezember 2021
Alexander Braun verließ sein Haus – ein Wohnblock im Osten Berlins – und ging zu seinem Auto. Bevor er einstieg, um zur Arbeit zu fahren, machte er seine übliche Runde ums Auto. Die Konkurrenz hatte ihm schon ein paar Mal die Reifen zerstochen.
„Heute mal ohne Zwischenfälle, hm?“, murmelte er, als er einstieg.
Sein Rucksack mit der Trinkflasche und dem Karate-Anzug flog auf den Beifahrersitz. Der Zündschlüssel drehte und das Radio sprang an. Als er die kolumbianische Salsa-Musik hörte, die von einem USB-Stick kam, lehnte sich Alexander zurück, schloss die Augen und lächelte. Sofort dachte er an seine Verlobte Josephine.
Sein Lächeln wurde etwas frostig und er sagte leise: „Der nächste Chinese, der eine Fledermaus frisst, wird erschossen!“
Deutschland befand sich gerade mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie. Wenige Wochen bis Weihnachten und der nächste Lockdown war nur noch eine Frage der Zeit. Wegen der Pandemie steckte seine Verlobte seit 2 Jahren in Kolumbien fest. Sein Sohn Adriano stand nur noch ein halbes Jahr vor dem Schulabschluss.
Plötzlich riss Alexander die Augen auf. Irgendetwas hatte ihn aus den Gedanken gerissen.
Auf der anderen Seite der Straße sah er, wie eine Frau gerade versuchte, auf dem gefrorenen Boden wieder aufzustehen.
„Schon wieder“, raunte er sich in den schlecht rasierten Bart und stieg aus.
Während er sich seine Alltagsmaske aufsetzte und zu der Frau ging, dachte er kurz daran, dass er unmöglich hätte hören können, wie sie fiel. Die Musik in seinem Auto war so laut, dass sie die Welt draußen ausblendete.
Er reichte der Frau beide Hände und versuchte, mit den Augen zu lächeln, als er sagte: „Die könnten hier ruhig mal streuen.“
Die Frau war irgendwas zwischen Mitte 40 und Ende 60. Das Alter von Menschen konnte Alexander nie gut einschätzen. Er half ihr auf die Beine und sie bedankte sich verlegen. Als er sich vergewissert hatte, dass es ihr gut ging und sie allein klar kommt, verabschiedete er sich und ging wieder zu seinem Auto.
Ein Blick auf das Navigationssystem zeigte ihm, dass es langsam eng wurde. Er musste sich beeilen, wollte er noch vor den Schülern ankommen. Also fuhr er los, zu einem neuen Training in seiner Karateschule.
‚Wie viele heute wohl kommen?‘, dachte er resigniert.
Mit jedem Lockdown hatten mehr Mitglieder gekündigt. Inzwischen waren von 117 Schülern gerade noch 6 übrig, die sich auf drei Gruppen verteilten. Die Einnahmen reichten vorne und hinten nicht mehr für die Miete. Aber aufgeben – das war nicht sein Stil.
Seit fast 5 Jahren hatte er seine eigene Karateschule. Er hatte Glück, denn an diesem Tag kamen alle. Nur noch drei Wochen bis zu den letzten Gürtelprüfungen in diesem Jahr. Er wollte den wenigen treuen Schülern, die durchgehalten hatten, die bestmögliche Vorbereitung bieten.
Dennoch ließ ihn der Gedanke an die Frau nicht los. Er war sich sicher, dass er sie schreien hörte, als sie fiel.
Irgendwann schob er den Gedanken beiseite. ‚Vielleicht war gerade in dem Moment ja der Song zu Ende.‘, dachte er sich und konzentrierte sich auf das Training der Erwachsenen. Die letzte Gruppe für diesen Tag.
Als Alexander gerade die Poolnudeln wegräumte, mit denen die Kinder trainiert hatten, fühlte er plötzlich eine starke Leere in sich. Er hatte das Gefühl, als ob jemand gestorben wäre. Jemand wichtiges.
Panisch griff er nach seinem Handy und schrieb seiner Verlobten und seinem Sohn Nachrichten, ob alles in Ordnung sei.
„Hay, amor, todo está bien. ¿Qué te pasa?”, antwortete seine Verlobte.
‚Ach, Schatz, alles gut. Was ist los?‘, übersetzte er in Gedanken und antwortete ihr, dass er nur wissen wollte, wie es ihr geht.
Von seinem Sohn erhielt er ein ausführlich erschöpfendes „Ja“ als Antwort. Also auch da alles okay. Das Gefühl ließ ihn aber nicht los.
Er hatte gerade die letzten Trainingsgeräte weggeräumt, als sich die Tür zum Dōjō öffnete und Karl eintrat. Alexander grinste und drehte sich um, um ihn zu begrüßen – die Erwachsenenrunde war immer sein Lieblingsteil vom Training.
Das Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war, als er Karl da stehen sah. Rote Augen, ein Schuh nicht einmal zugemacht und die Haare sahen aus, als hätten sie den Kampf gegen den Kamm schon längst gewonnen.
„Wenn du dich so scheiße fühlst, wie du aussiehst, müssen wir reden!“, sagte Alexander, als er auf ihn zuging.
Karl ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen und schaute eine Weile ins Leere. Schließlich hob er den Blick und meinte: „Alex…“
Letzterer setzte sich ebenfalls und schaltete vom Karatetrainer in den Therapeutenmodus um. Von Hause aus war er nämlich studierter Psychotherapeut.
Karl redete langsam weiter: „Du erinnerst dich doch noch an Edeltraud, von der ich immer redete, oder?“
Alex nickte stumm.
„Sie ist heute gestorben.“, sagte Karl mit erstickter Stimme. „Gestern war sie noch mopsfidel. Heute früh sagte sie zu mir, ich sei immer so gut zu ihr gewesen.“
Er schien nach Worten zu suchen und Alexander ließ ihn. Das Wichtigste im Moment war, dass Karl in seinem eigenen Tempo reden konnte. Bis Fred kommen sollte, war es noch ein Weilchen hin, der kam immer zu spät. Also hatten sie Zeit.
Als Karl nach einer Weile noch immer unschlüssig wirkte, fragte Alex vorsichtig nach: „Wie alt war sie denn?“
„Oh, 98“, erwiderte Karl. Und dann brach es aus ihm heraus. Die Gefühle, die Tränen, einfach alles.
In den Jahren, die die beiden sich nun kannten, hatte Karl immer wieder von „Trautchen“ gesprochen. Sie war ihm so ans Herz gewachsen, als wäre sie die Oma gewesen, die er nie hatte.
Wenn Karl im Urlaub war, schickte er immer eine Postkarte ans Dōjō und eine an Trautchen.
Karl war Altenpfleger in einem Berliner Seniorenheim. Man merkte ihm immer an, dass er diesen Job nicht des Geldes wegen machte. Das tat bei der schlechten Bezahlung sowieso niemand. Er machte diesen Job, weil ihm die Seniorinnen und Senioren wirklich sehr am Herzen lagen. Jeder Neuzugang wurde von ihm quasi adoptiert. Er organisierte Spieleabende, Grilltreffen und sorgte dafür, dass sie sich alle wohl fühlten.
Alexanders Handy meldete sich. Eine Nachricht von Fred. Der Bus stand im Stau und er kommt etwas später. ‚Passt ja‘, dachte Alex und konzentrierte sich wieder auf Karl.
Dieser erzählte gerade davon, wie Trautchen beim letzten Bingo-Abend die Pfleger verschaukelt hatte. So langsam wurde er ruhiger und fing wieder an, zu lächeln.
Karl und Alex redeten noch eine ganze Weile über Edeltraut und ihre Possen. Das Training hatte eigentlich schon längst begonnen, aber das war beiden gerade egal.
Als Fred dann auch endlich mal eintraf, ging es Karl schon wieder viel besser und er lächelte. Alexander nahm seine Trinkflasche, sah wie gut es Karl wieder ging, und lächelte zufrieden, als er einen großen Schluck nahm. Karl erzählte unterdessen Fred das Wichtigste.
„Ich war gerade auf dem Weg hierher, als ich den Anruf bekam. Zehn Minuten später war ich hier“, erzählte Karl gerade und Alexander trank zunächst mit der Lunge weiter.
Hustend stellte er die Flasche ab und sah noch mal auf sein Handy. Er hatte ungefähr 10 Minuten bevor Karl kam, seine Familie gefragt, wie es ihnen geht.
Er sagte zunächst nichts und konzentrierte sich auf Fred. ‚Sein Dienstleiter ist eine richtig fiese Ratte und hat ihm fürs Wochenende Überstunden aufgebrummt‘, war sich Alex sicher.
Fred hatte grad die Hand auf Karls Schulter und meinte: „Wenn du willst, können wir uns am Wochenende mal treffen. Geht aber erst nachmittags, der Arsch von Dienstleiter hat mir wieder Überstunden reingedrückt.“
‚Okay‘, dachte Alexander und erinnerte sich an die Frau, die gestürzt war, ‚einmal ist Zufall, zweimal ist seltsam, aber dreimal ist ein Muster!‘
Er war schon immer sehr empathisch und fühlte mit anderen mit. Deshalb hatte er auch Psychotherapie studiert. Aber so zielsicher und überwältigend war das eigentlich noch nie.
Er ließ sich erst einmal nichts anmerken. Zum einen wollte er nicht für verrückt gehalten werden und zum anderen hielt er es in diesem Moment für wichtiger, dass Karl möglichst gut gelaunt wieder nach Hause kommt.
Der Rest dieses Karatetrainings verlief ohne Zwischenfälle. Beide Schüler zeigten, dass sie gut trainiert hatten und bereiteten sich unter Alexanders fachkundigem Blick auf die kommende Gürtelprüfung vor.
Sie waren beide schon Fortgeschrittene und trainierten seit einigen Jahren bei Alexander. Sie hatten die erste Krise der Karateschule gemeinsam überstanden, als der frühere Vermieter, ein drogensüchtiger Egozentriker, die Schule von einem Tag auf den anderen rauswarf. Seitdem trainierten sie in dem kleinen Dōjō, das sie jetzt hatten, in einer kleinen Stadt etwas außerhalb von Berlin.
Zur selben Zeit im Zentrum Berlins. Es war reger Feierabendverkehr, als Magdalena Ulnikowa am Bahnhof Alexanderplatz aus der U-Bahn stieg.
Sie war nicht einfach schlecht gelaunt, sie war so richtig scheiße drauf. Biestig, garstig und wenn jemand es gewagt hätte, sie anzusprechen, hätte sie wahrscheinlich zugebissen. Ihre Knie schmerzten, ihre Hose war versaut und ausgerechnet heute sollte sie zwei neue Schüler kennen lernen.
Als sie ihr Zuhause verließ, war sie auf dem glatten Gehweg ausgerutscht. Nur die Gehwegplatten bremsten ihren Sturz. Ein etwas korpulenter Mann aus dem Haus gegenüber half ihr wieder auf. Aus seinem Auto dröhnte seltsame Musik, die ihr irgendwie exotisch vorkam.
Da sie selbst aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert war, ging sie davon aus, dass Alexander – der Mann, der ihr aufgeholfen hatte – ebenfalls Immigrant war und im Auto die Musik seiner Heimat lief.
Nach einem kurzen Fußweg kam Magdalena an ihrem Ziel an, ein kleiner Eingang zu einem Kellergeschäft, fast direkt am Alexanderplatz.
Die Servicekraft am Eingang reichte ihr wortlos eine Hose, was Magdalenas Laune sofort besserte. Natürlich, sie alle waren eingeweiht. Dieser kleine, elitäre Club, der sich in den Hinterräumen dieser Boutique befand, war eine Vereinigung von Telepathen.
„Danke, Steffi“, sagte Magdalena.
Sie ging in die Umkleide und zog sich um.
‚Hast du ein Glück, dass heute nichts los ist‘, hörte sie Steffis Stimme in ihren Gedanken. Zusammen damit schickte Steffi ihr ein Stück ihrer Erinnerungen.
Mit einem lauten Klatschen schlug sich Magdalena an die Stirn. Die Erinnerung, die ihr das Mädchen geschickt hatte, zeigte ihr, wie sie selbst in die Umkleidekabine für Herren ging.
Als Magdalena die Kabine verließ, brachte ihr Steffi gerade einen Kaffee.
„Den brauchst du jetzt“, sagte sie mit Bestimmtheit.
Magdalena nahm dankend an und setzte sich erst mal hin. Sie musterte Steffi eingehend. Das Mädchen war gerade mal 18 und schon in den Zirkel eingeführt. Sie war eine geborene Telepathin. Ihre Eltern hatten sie von einem Psychiater zum nächsten geschickt, weil sie immer wieder die Menschen vor den Kopf stieß.
Irgendwann war sie an eine Jugendpsychiaterin geraten, die in einer mittelgroßen Stadt gerade außerhalb des Speckgürtels saß. Diese erkannte sofort, was es mit Steffi auf sich hatte und unterrichtete sie.
Mit 16 wurde Steffi dann in den Engelszirkel aufgenommen. Nach außen hin tarnte sich der Zirkel als ein Clan, der in Online-Spielen aktiv war. Aber in Wahrheit war es eine Gruppe von Telepathen. Gedankenleser.
Ihre Aufgabe war es, andere Telepathen zu finden und zu unterrichten. Das Ziel des Ganzen war, die Gesellschaft der Telepathen vor der Allgemeinheit geheim zu halten. Ironischerweise war die einzige offizielle Institution, die von der Existenz dieser Zirkel wusste, ausgerechnet die Truppe, die sie jahrhundertelang jagte und mit Vorliebe verbrannte: Die Kirche in Rom.
Die Telepathenzirkel gab es auf der ganzen Welt. Sie waren jedoch angewiesen, sich niemals miteinander auszutauschen. Die Kirche befürchtete, dass sie sich sonst organisieren könnten. Darin sah sie eine Gefahr. So kannten sich nur die Mitglieder eines Zirkels untereinander. Die jeweiligen Vorsitzen des Zirkels kannten 2 oder 3 weitere Vorsitzende, aber das war es dann auch schon.
Während Magdalena das alles durch den Kopf ging, fühlte sie ein beständig stärker werdendes Ziehen in ihrem Bewusstsein.
‚Wo du schon mal so weit weg bist, bring doch auf dem Rückweg eine Pizza mit‘, hörte sie schließlich Steffis Gedanken.
Magdalena musste lachen. Ja, es stimmte, sie hatte mal wieder geträumt. Sie trank ihren Kaffee aus und begab sich in die hinteren Räume. Zwei Neuzugänge sollten heute eingeführt werden.
In der Karateschule näherte sich das Training dem Ende. Es war 20:00 Uhr und Alexander hatte die letzten Korrekturen gegeben.
„So, Feierabend“, verkündete er nach einem Blick auf die Uhr.
Zwei Blicke folgen seinem und von Fred kam ein lautes „Mist!“
„Was ist?“, fragte Karl ihn.
„Ich muss den Bus kriegen!“
Auf einen Wink von Alexander hin rannte Fred in die Umkleide und zog sich schnell seine Alltagskleidung an. Nach einem hektischen Abschied rannte er raus und zur Bushaltestelle.
„Sagen wir ihm, dass der Fahrplan sich geändert hat und er noch 10 Minuten Zeit hat?“, fragte Alexander leise.
„Nee“, grinste Karl, „das findet er gleich selber raus!“
Die beiden Freunde gingen sich ebenfalls umziehen und putzen anschließend noch die Karateschule. Als die Lichter aus waren und die Tür abgeschlossen, kam ihr übliches Abschiedsritual. Egal, welches Wetter war, ob Wüstenhitze oder sibirische Kälte, nach dem Training standen beide immer noch auf eine Zigarette vor der Tür und redeten über Gott und die Welt.
So auch dieses Mal.
„Ich wusste ja, dass du Psychologie studiert hast“, begann Karl nach einer Weile, „aber ich hatte echt keine Idee, was das bedeutet.“
„Meistens bedeutet es Spaß“
Alex sah auf die Glut seiner Zigarette und versuchte, nicht an das zu denken, was ihm vor der Doppelstunde passiert war.
„Na, jedenfalls Danke! Mir ging es echt dreckig. Aber nach – was? 10 Minuten, 15? Ging es mir viel besser.“
Alex sah ihn gedankenverloren an. „Das ist der Grund, warum ich das damals unbedingt lernen wollte.“
Beide grinsten sich an und unterhielten sich noch eine Weile. Schließlich verabschiedeten sie sich und jeder ging zu seinem Auto.
Während Karl losfuhr, stellte Alexander noch sein Navi ein. Natürlich kannte er den Heimweg, aber das Navi sagte ihm immer, wann er ankommen würde.
„Na toll! Da ist doch wieder kein Parkplatz frei.“, fluchte er, als sein Navi ihm zeigte, dass er kurz vor 9 da sein würde.
Er legte den Rückwärtsgang ein, um etwas Abstand zu dem Auto vor ihm zu bekommen. Schaltete sein Automatikgetriebe anschließend auf Fahren und wollte gerade losfahren, als plötzlich die Welt von allen Seiten auf ihn zuzurasen schien.
Sein Atem wurde schneller und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Finger verkrampften sich. Mit dem Handgelenk schlug er auf den Schalthebel, bis der dieser auf Parken stand.
Er hörte es weniger, sondern fühlte ein extrem hohes Pfeifen, als wäre gerade eine Granate neben ihm explodiert. Die Welt um ihn herum schien gleichzeitig zu explodieren und zu implodieren.
Er glaubte, sein Herz würde explodieren. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte, sich auf seine Atmung zu konzentrieren.
„Nein!!“, hörte er jemanden schreien.
Dann merkte er, dass er selbst geschrien hatte.
Die Panik kroch in jede Zelle und er hoffte nur, nicht zu sterben. Er dachte an einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Als ihm klar wurde, dass sein Sohn völlig alleine wäre, wenn er jetzt sterben würde, wurde die Panik unerträglich.
Er schnallte sich ab, riss die Tür auf und sprang aus dem Auto. Seit anderthalb Jahren litt er schon am Burnout-Syndrom und als sein Gehirn langsam wieder zu arbeiten anfing, dachte er, dass es eine neue Panikattacke wäre.
Aber dieser Anfall war anders als alle anderen. Er hörte tausende Stimmen, sah Farben vor seinen Augen springen und fiel mehrmals hin.
So plötzlich, wie es anfing, endete es auch wieder. Die Welt bekam ihre gewohnten Farben, sein Herz wurde ruhiger und die Stimmen verschwanden.
„Verdammte Scheiße!“, keuchte er, „Jetzt werde ich langsam wirklich verrückt!“
Er lehnte sich an sein Auto und atmete langsam weiter. Nach einer Weile fasste er wieder Mut und stieg ins Auto.
Er wartete und nichts passierte. Schließlich fuhr er langsam los in Richtung Heimat.
Im Engelszirkel war Magdalena gerade mit den beiden Neuzugängen beschäftigt. Sie erklärte ihnen, warum es das wichtigste ist, dass niemand jemals erfährt, dass sie Telepathen sind. Auch klärte sie die beiden jungen Männer darüber auf, dass der Zirkel nicht davor zurückschreckt, Verräter aus dem Weg zu räumen.
„Natürlich töten wir niemanden“, ‚mehr‘, ergänzte sie in Gedanken, „aber wir könnten euch für eine sehr lange Zeit in eine sehr unangenehme psychiatrische Behandlung bringen, solltet ihr an die Öffentlichkeit ---“
Weiter kam sie nicht. Es war, als würde jemand plötzlich die Luft aus ihren Lungen herauslassen. Auch die beiden Neulinge schienen in sich zu versinken.
Sie sah zu Steffi. Diese war gegen die Wand gesackt und kreidebleich. Ihre Blicke trafen sich, aber Magdalena konnte nichts fühlen. Weder die Gedanken von Steffi noch ihre Gefühle kamen bei Magdalena an.
Die Tür zum Hinterzimmer flog auf und ein ebenso blasser Mann kam hereingestürmt.
„Das ist eine Gedankenexplosion!“, rief er, scheinbar an niemand bestimmten gerichtet.
„Merlin…“, kam von Steffi keuchend.
Der alte Mann mit dem Spitznamen Merlin ging zu ihr und nahm ihre Hand.
„Denke nur an Atmen. Lass die Wellen über dich schwappen und wieder gehen. Sie können dir nichts tun!“
Steffi schloss halb die Augen und atmete. Ein und aus. Ein und aus.
Merlin wandte sich an alle: „Stellt euch vor, ihr wärt wie Wische im Wasser und das, was ihr fühlt, sind die Wellen an der Oberfläche!“
Er wartete einen Moment, ehe er weitersprach, noch immer sehr laut, um die Gedanken der anderen zu übertönen: „Taucht ab, atmet weiter und lasst die Wellen einfach über euch hinweggleiten. Sie betreffen euch nicht, sie schaden euch nicht. Lasst sie einfach wegtreiben. Das ist ein Sturm über dem Meer. Aber ihr seid die Fische, ihr seid hier unten sicher.“
Die anderen beruhigten sich und schließlich ebbte das Gefühl ab.
„Was ist hier gerade passiert?“, fragte Steffi, noch immer kreidebleich.
„Eine Gedankenexplosion“, erklärte Merlin, „das passiert, wenn bei einem latenten Telepathen plötzlich die Kräfte erwachen.“
Magdalena schickte die beiden Neulinge mit forschen Bewegungen nach Hause und schärfte ihnen noch einmal ein, alles für sich zu behalten.
Dann kam sie zurück in den Raum und sah Merlin fragend an. „Wirst du etwas unternehmen?“
Merlin schüttelte den Kopf: „Das war 30 oder 40 Kilometer weit weg. Bis wir da sind, ist nichts mehr zu finden.“
Magdalena nickte, dann stockte sie kurz. Sie hatte die Signatur der Gedankenexplosion gefühlt. Sie kam ihr bekannt vor.
Merlin – niemand wusste, wie er wirklich hieß und er sah alt genug aus, um wirklich Merlin zu sein – verabschiedete die beiden Frauen und schickte sie ebenfalls nach Hause. Ihm gehörte die Boutique, hinter der sich der Zirkel verbarg.
„Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte Steffi.
Magdalena schüttelte den Kopf: „Danke, lieb von dir. Aber ich nehme lieber die Öffis, ich muss den Kopf freikriegen.“
Die beiden verabschiedeten sich. Während Magdalena auf ihre U-Bahn wartete, stieg Steffi ihn ihren kleinen Peugeot. Merlin hatte das Auto mal „motorisierter Einkaufswagen“ genannt. Bei der Erinnerung an Steffis gespielte Entrüstung musste Magdalena lächeln.
Die ganze Heimfahrt lang überlegte sie, woher sie diese Signatur kannte. Als sie kurz vor ihrer Haustür wieder ausrutschte – diesmal fiel sie aber nicht hin – fiel es ihr ein. Der Mann, der ihr vor fast 6 Stunden wieder aufgeholfen hatte. Der hatte diese Signatur. Er war der Mann, dessen Bewusstsein gerade explodiert war!
Sie sah sich suchend um, doch sein Auto war nirgends zu sehen.
‚Wahrscheinlich ist er noch auf der Arbeit oder inzwischen im Krankenhaus‘, überlegte sie und ging nach oben. Sie nahm sich fest vor, in der nächsten Zeit mal etwas aufzupassen, ob sie ihn wiedersah.
Merlin saß noch eine Weile im Hinterzimmer seiner Boutique, nachdem er abgeschlossen hatte. Er hatte es nicht weit, seine Wohnung war direkt darüber.
„Dreißig oder vierzig Kilometer entfernt“, sinnierte er, „und trotzdem so stark?“
Er war sich sicher: Das war nicht mehr der zweite oder erste Grad, das war ein Hoher.
Die Stärke von Telepathen war in Graden eingeteilt. Der siebte Grad, das waren die Normalos. Das sind die, die keinerlei telepathische Anlagen hatten. Wer intuitiv etwas fühlte, aber meistens doch daneben lag, war immerhin sechster Grad. So ging es immer weiter aufwärts. Der erste Grad war in der Skala für die stärksten gewöhnlichen Telepathen reserviert. Diese konnten nicht nur Gedanken und Gefühle lesen und senden, sondern auch Erinnerungen ausgraben und sogar ein Gehirn komplett auslöschen. Er selbst war ein starker Erster Grad. Magdalena hatte den zweiten Grad, aber das Potenzial, zum ersten Grad aufzusteigen.
Steffi war gerade frisch zum zweiten Grad ernannt worden. In einigen Jahren könnte sie eine Hohe sein.
Die Hohen. Das waren die Telepathen, die so stark waren, dass sie außerhalb jeder Kategorie standen. Es hieß, dass der echte Merlin ein Hoher war. Und Jesus von Nazareth soll auch ein Hoher gewesen sein. Hitler allerdings ebenso.
Die Hohen waren selten. Aber nicht so selten, dass jeder von ihnen allgemeine Bekanntheit erlangte. Etwa ein Mensch aus 100 Millionen wurde zu einem Hohen.
„Na toll!“, murmelte Merlin grinsend, als ihm klar wurde, was das bedeutete.
Steffi würde in einigen Jahren eine Hohe werden und dieser Unbekannte war ein natürlicher Hoher. Zwei Hohe in Berlin oder nah dran.
Merlin grinste noch breiter: „Die Franzosen werden wieder irre werden. Sie haben keinen, England hat einen und wir bald zwei.“
‚Wenn dieser Unbekannte rechtzeitig entdeckt wird und bis zu seiner Initiation überlebt‘, dachte er dann noch. Genau das galt es, sicherzustellen. Er musste diese Person finden.
Alexander kam zu Hause an und drehte seine Runden, bis er endlich eine Stelle zum Parken fand. Parkplatz wäre gelogen, denn er stand genau vor einem abgesenkten Bordstein. Da nichts anderes frei war, hoffte er einfach darauf, wieder wegzufahren, bevor die Polizei oder das Ordnungsamt kamen.
Er hatte noch einen Zwischenstopp im nahegelegenen Supermarkt gemacht und belegte Baguettes gekauft. Beim Aussteigen schaute er nach oben, zu dem Fenster, hinter dem sich das Kinderzimmer seines Sohnes Adriano befand. Das Licht war an. Also war der gerade noch 15-Jährige auch noch wach. Alexander lächelte, nahm seine Sachen aus dem Auto und schloss es ab. Dann ging er zur Eingangstür und die Treppen rauf.
Oben angekommen begrüßte ihn schon sein Sohn: „Hast du zufällig Baguettes mitgebracht?“
Alex hielt grinsend den Rucksack hoch: „Zweimal Hähnchen und zweimal Kochschinken.“
Adriano nahm den Rucksack, räumte den restlichen Einkauf in die Küche und verschwand fröhlich grinsend mit seinen Hähnchenbaguettes wieder in seinem Zimmer.
Während sich Alexander in seinen Chefsessel fallen ließ und seinen eigenen Computer einschaltete, hörte er aus dem Kinderzimmer auf Englisch irgendwen über irgendwelche hochkarätige Physik reden.
‚Seine Schulnoten sind echt nur aus Faulheit und mangelndem Interesse‘, dachte er sich, als er kurz zuhörte, ‚Aha, Alcubierre-Antrieb. Einmal Trekkie, immer Trekkie.‘
Alexander startete sein Messenger-Programm, um seine Lieblings-Latina zu fragen, wie ihr Tag so war.
Zehntausend Kilometer weit entfernt in Richtung Südwesten kochte gerade die Stimmung hoch. Es war nachmittags kurz nach halb drei. Josephine, Alexanders Verlobte, diskutierte gerade wieder mit ihrer Bank. Wobei streiten und diskutieren bei ihr nie weit auseinanderlagen.
Während sie sich mit einer Hand das Handy ans Ohr drückte, versuchte sie mit der anderen Hand, in 3 Töpfen gleichzeitig zu kochen. Ihre beiden kleinen Neffen schwirrten dabei die ganze Zeit um sie herum.
Alejandro und Santiago, Zwillinge, 8 Jahre alt. Bei ihnen, ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester lebte Josephine, bis sie wieder nach Deutschland fliegen konnte. Die Mutter der beiden war Josephines 2 Jahre ältere Cousine Mariana. Ihr Ehemann hieß Mateo, aber den Namen brauchte sich kaum jemand merken, da er sowieso von morgens bis abends arbeiten war und fast nie zu Hause.
Neben diesen gab es noch das Nesthäkchen, die kleine Ana Sofia. Sie war gerade 2 Jahre alt. Wenn Josephine nicht gerade mit ihrem Studium beschäftigt war, spielte sie das Kindermädchen.
„Nein, Sie hören mir jetzt mal zu! Ich habe Ihnen die Unterlagen schon drei Mal geschickt“, erklärte sie gerade der Dame von Bancolombia, der größten Bank Kolumbiens.
„Ich weiß“, kam eine langsam verzweifelte Stimme aus dem Handy, „Ich sehe hier auch, dass die Unterlagen eingegangen sind, aber sie sind nun mal nicht hier.“
„Das ist Ihr Problem, nicht meins! Finden Sie sie oder ich finde Sie!“
Santiago zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, als das Handy über ihn hinwegflog. Alejandro sprang vom Sofa hoch und rettete das Handy gekonnt mit einem Kissen. Dann grinste er triumphierend und Josephine lächelte ihm dankbar zu.
‚Wenn ich jetzt schon wieder ein Handy zerlege, bringt mich Alex um‘, dachte sie verlegen. Wie auf Kommando meldete sich das Handy – eine Nachricht von Alexander.
Sofort war Josephines schlechte Laune wie weggeblasen und sie fischte sich das Handy aus Alejandros Händen, der noch spielerisch versuchte, damit zu entkommen.
Sie las seine Nachrichten. Er war nach dem Training gut zu Hause angekommen und hoffte, dass es ihr gut ginge. Wie ihr Tag bisher lief, wollte er wissen. Sie diktierte eine Audionachricht ins Handy und erklärte ihm, welche Probleme die Bank schon wieder machte. Die gesamte Unterhaltung lief wie immer auf Spanisch ab, denn Josephine war zwar hochintelligent, aber lernfaul. Sie konnte sich zwar auf Deutsch verständigen, wenn es sein musste, aber das musste es ja gerade nicht. In den letzten viereinhalb Jahren hatte Alexander für sie Spanisch gelernt.
„Soll ich dort mal anrufen?“, bot er ihr an.
„Lieber nicht, Schatz, die letzte Sekretärin hat nach eurem Gespräch gekündigt.“
Von Alexander kam nur noch ein breites Grinsen als Emoji.
„Schatz, was war das vorhin?“, fragte Josephine besorgt.
Alexander tippte und tippte. Schließlich kam ein langer Text von ihm. Nachdem sie ausgiebig mit den Augen gerollt hatte – so ungern, wie sie lernte, las sie auch – las sie sich den Text durch und erfuhr so alles, was vorgefallen war.
„Ich find das so toll von dir, wie du ihm geholfen hast!“, antwortete sie schließlich, „Du, wir essen jetzt, ich melde mich nachher wieder. ¡Te amo!“
Seine Antwort las sie schon nicht mehr. Wenn sie festlegte, dass sie später wieder mit ihm redete oder dass es für ihn Zeit fürs Bett war, dann war das so.
Sie brachte das Essen auf den Tisch, ein klassisch-kolumbianischer Hühnereintopf mit Reis und frischem Gemüse. Mariana kam gerade mit der kleinen Ana Sofia vom Kinderarzt zurück, als der Tisch fertig gedeckt war.
Als alle am Tisch saßen und aßen, schweifte ihr Blick jedoch immer wieder zum Handy. Sie hatte gespürt, dass etwas mit Alexander nicht in Ordnung war. Aber sie wollte warten, bis er von sich aus darüber sprach. Vielleicht war er nachher bereit, vielleicht auch nie. Wie auch immer er sich entschied, sie würde es respektieren.
Alexander aß sein belegtes Baguette und schaute dabei einen Anime. Das war sein Ritual nach dem Training und er wurde grummelig, wenn ihm das jemand wegnahm.
Ausgerechnet heute ging es in dem Anime um Esper. Menschen mit außersinnlicher Wahrnehmung. In der aktuellen Folge brach diese Fähigkeit gerade bei jemandem durch.
Alex vergas fast, zu kauen, als er sich vorbeugte und genau hinschaute. Was dem Jugendlichen da auf dem Bildschirm gerade passierte, war dem, was ihm eine knappe Stunde vorher passiert war, einfach zu ähnlich.
„Esper“, murmelte er, „ESP. Extra-Sensual Perception“
Er suchte auf seinem zweiten Monitor im Internet nach weiteren Informationen darüber. Leider war alles, was er fand, entweder schon Jahrzehnte alt oder irgendwelcher esoterischer Mumpitz.
„Interessant. Vor 30 Jahren scheint auf einen Schlag weltweit die Forschung am Übersinnlichen eingestellt worden zu sein.“, sagte er leise.
‚Tja, wenn es dazu nichts hilfreiches gibt, bleibt wohl nur der Selbstversuch.‘, dachte er und schloss die Augen, ‚Adriano, komm mal her!‘
Nichts geschah.
Er atmete tief durch und versuchte es noch einmal: ‚Adriano, komm mal her!‘
Nada.
Er grunzte unzufrieden. „Wäre ja zu schön gewesen.“
Er dachte noch einmal intensiv an seine Verlobte und dachte daran, wie es wäre, ihr jetzt einen Kuss zu geben.
Josephine hielt mitten beim Essen inne und lächelte verträumt. Sie hatte das Gefühl, Alexander sei bei ihr und plötzlich vermisste sie seine Küsse sehr.
Sie beeilte sich, aufzuessen. Ihre Neffen halfen ihr beim Abräumen und Geschirrspülen, während Mariana sich mit Ana Sofia auf die Couch setzte. Die Kleine hatte letzte Nacht schlecht geschlafen und war mit Fieber aufgewacht. Der Kinderarzt hat sie untersucht – wie immer eine teure Angelegenheit – und dann Entwarnung gegeben: Nur ein Zahn, der bald durchkommt.
Als das Geschirr wieder in den Schränken war und die Jungs sich zum Spielen in ihr Zimmer verdrückt hatten, lief Josephine in ihr eigenes Zimmer. Mit dem Handy in der Hand ließ sie sich aufs Bett fallen und schrieb Alexander.
„Was machst du gerade?“
„Ich warte auf dich“, antwortete er mit Kuss-Smiley.
Sie lächelte und rief ihn an. Sie hatte ihn viel zu lange nicht gesehen. Während die Verbindung für den Videoanruf aufgebaut wurde, überlegte sie, wie lange das jetzt her war. Das musste fast gestern gewesen sein.
Sie redeten bis tief in die Nacht. Für Alexander war es wegen des Zeitunterschieds schon fast der nächste Morgen. Irgendwann berichtete er ihr, was ihm vor der Karateschule widerfahren war und was er in der Serie gesehen hatte.
Für einen kurzen Moment fror Josephines Lächeln ein. Sie dachte daran, wie auffallend oft er ihr seine Träume schilderte, die mit ihr zu tun hatten. Was er nicht wusste: Sie träumte nahezu dasselbe. Sie schrieb immer nur, dass sie das süß findet, was er träumt. Sie wollte aber nicht, dass er sie für verrückt hält oder Angst vor ihr bekommt, deshalb verschwieg sie den Rest.
Vor vielen Jahren hatte sie eine Beziehung, in der sie solche Dinge offen zugegeben hatte. Böser Fehler gegenüber einem erzkatholischen Freund. Er verließ sie nicht nur nach ein paar Monaten, sondern zog sie auch noch eine ganze Weile damit auf. Das wollte sie nie wieder erleben.
Jetzt schien sich ihr eine Möglichkeit zu bieten, sich erneut zu offenbaren. Sie wusste, dass er es verstehen würde. Sie wusste auch, dass er ihr nicht böse sein würde, weil sie es so lange verschwiegen hatte. Er kannte viel von ihrer Vergangenheit – wenn auch eben nicht alles. Und egal, wie schlimm sie war, er verstand sie immer. Sie betrachtete ihn und verliebte sich gleich noch einmal in ihn, als ihr wieder bewusst wurde, wie eisern er zu ihr hielt, egal, was passierte.
Als sie ihn das erste Mal besucht hatte, wusste er noch nicht, dass sie wegen eines Unfalls Angst vor Autos hatte. Er legte ihre Koffer in den Kofferraum und öffnete ihr die Tür. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber natürlich sah er es.
Er nahm ihre Hand, legte seinen Arm um ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Alles gut. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich bin bei dir, du bist nicht alleine.“
Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und war zum ersten Mal froh über den Größenunterschied – er war fast 30 Zentimeter größer als sie. Behutsam brachte er sie dazu, einzusteigen und hielt die ganze Fahrt über ihre Hand.
„Schatz?“
Sie blinzelte. „Ja?“
„Wo warst du denn gerade?“
Sie errötete leicht und nuschelte „Bei dir.“
Das war nicht einmal gelogen. Er grinste, drehte sich im Bett auf den Rücken und legte das Handy so auf seinen Arm, dass es für sie so aussah, wie wenn sie wirklich auf seinem Arm lag.
„Pass auf dich auf“, bat sie ihn, „Ich brauche dich!“
Sie konnte sehen, wie gut ihm dieser Satz tat.
Sie erinnerte sich wieder: Ihre Vorgängerin, seine letzte Beziehung, hatte ihn seelisch missbraucht. Sie hatte es auch körperlich versucht, aber war nicht sehr weit gekommen. Aber die seelischen Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, waren auch nach so vielen Jahren nicht vollständig verheilt.
Er hatte ihr vor Jahren mal gesagt, dass er nur wegen dieser Frau überhaupt nach Berlin gezogen war. Nicht einmal ein halbes Jahr später hatte sie ihn verlassen.
Da war er nun, allein in Berlin mit seinem Sohn, dessen leibliche Mutter sich seit fast 10 Jahren nicht mehr gemeldet hatte. Er kannte niemanden außer ihr. Und sie machte ihm das Leben noch ein Jahr lang zur Hölle. Irgendwann brach sie dann aus heiterem Himmel jeden Kontakt ab.
Er hatte auch sein Päckchen zu tragen, genau wie sie, das war ihr klar. Vielleicht verstand er sie deshalb so gut. Auch ihr Ex hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht.
„Ich brauche dich auch!“, erwiderte Alexander, „WIR brauchen dich!“
Sie lächelte von Kopf bis Fuß.
Als sie ihn schlafen geschickt hatte – er wollte nie gehen. Obwohl er 11 Jahre älter war als sie, war er in der Hinsicht wie ein anhänglicher kleiner Welpe – drehte sie sich auf den Rücken, legte ihr Handy auf die Brust und sah zu dem Kruzifix, das an ihrer Wand hing.
„¡Gracias!“, flüsterte sie und lächelte weiter.
‚Oh, Mama kommt‘, dachte sie und stand auf. Dann klingelte es an der Tür.
„Ich gehe schon!“, rief sie und öffnete die Tür.
Gabriela García, ihre Mutter, war eine Mamá Latina ganz nach Lehrbuch. Sie kam herein und irgendwo zwischen den Meckertiraden über irgendeinen ihrer Brüder und den Beschwerden über irgendein Küchengerät, von dem sie überzeugt war, dass es sie nicht mochte, gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, begrüßte ihre Nichte Mariana und widmete sich dann ganz großmütterlich ihrer jüngsten Enkelin.
„So geht das doch nicht“, fing sie gerade an und nestelte an der Windel herum, „Das muss so und das muss so.“
Josephine und Mariana lehnten sich zurück und warfen sich hinter Gabriela einen Blick zu, der in etwa hieß: „Und es geht wieder los!“
„Au!“
„Aua!“
Gabriela war eben eine Latina. Ohne hinzusehen hatte sie genau gewusst, was „ihre beiden Mädchen“ taten und gab jeder eine sanfte Kopfnuss. Ana Sofia fand das zum Quietschen komisch.
„Hast du ihm Bescheid gesagt?“, fragte Gabriela.
Die beiden jungen Frauen wechselten verwirrt einen Blick, wer denn nun gemeint war.
„Nein.“, sagten beide unisono.
Mariana hatte ihrem Mann Mateo noch nicht gebeichtet, dass die Waschmaschine schon wieder kaputt war und Josephine hatte – wie immer – vergessen, Alexander irgendwas zu sagen. Aber sie hatte leider auch vergessen, was sie ihm sagen sollte.
„Mateo habe ich es schon gesagt“, kam von Gabriela, „Morgen kommt der Handwerker und repariert sie.“
Aha. Josephine war gemeint.
Josephine war nur 1,53 m groß, aber unter dem tadelnden Blick ihrer Mutter schien sie noch kleiner zu werden.
„Die Impfung?“
„Oh“, murmelte Josephine, „das hab ich ---“
„VERGESSEN!“, riefen ihre Mutter, ihre Cousine und sogar ihre beiden Neffen im Chor.
Josephine murmelte etwas unverständliches vor sich hin und machte sich eine Notiz im Handy. In zwei Tagen sollte sie ihre zweite Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Zwei Wochen später durfte sie dann endlich wieder in die Europäische Union einreisen.
„Wie kann man vergessen, seinem Verlobten zu sagen, dass man bald endlich wieder zu ihm darf?“, fragte Gabriela, mehr rhetorisch als ernst gemeint. Sie wusste, dass ihre Tochter seit ihrem Unfall Gedächtnisprobleme hatte. Und sie rechnete es ihrem Schwiegersohn in spe hoch an, dass er scheinbar überhaupt kein Problem damit hatte, ihr manche Dinge immer und immer wieder zu erzählen, bis sie sie im Kopf hatte.
„Aber ich habe ihm die Fotos von meinem Abschluss geschickt!“, meldete Josephine stolz.
„Wann?“
„Heute früh“, nuschelte sie.
„Deine Abschlussfeier war vor drei Tagen!“, Gabriela rollte mit den Augen, „Und du hast das Studium nur dank ihm überhaupt geschafft!“
„Deshalb habe ich ihm auch gesagt, dass WIR bestanden haben.“, flötete Josephine mit Engelsgesicht.
Mariana beugte sich vor und hielt Ana Sofia die Rassel hin. „Hast du ihm gesagt, dass du sogar Jahrgangsbeste warst? Oder viel mehr, er?“
„Das hat er von selbst gemerkt, als ich ihm sagte, dass ich eine Rede halten muss.“
Ihre Mutter und ihre Cousine drehten gleichzeitig die Köpfe zu ihr: „Wie?“
Josephine zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Er fragte, wann ich die Rede halte. Als ich ihm sagte, dass ich als letzte rede, sagte er, dass das bedeutet, ich bin die Jahrgangsbeste und wie stolz er auf mich ist.“
Mariana schnaubte. Als sie ihr Studium abgeschlossen hatte, war sie die zweitbeste und sollte die Eröffnungsrede halten. Ihr Mann fragte nur, was das soll und ob das nicht jemand anderes machen könne, als sie ihm davon erzählte.
„Wie fand er deine Rede?“, fragte Gabriele.
„Er gab mir noch ein paar Tipps“
„Er hat sie komplett umgeschrieben!“
Josephine sagte leise: „Nicht die ganze.“
Mariana knallte die Trinkflasche ihrer Tochter auf den Tisch und stürmte raus.
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet“, sagte Gabriela mit unverhohlenem Grinsen, als sie hinterherschaute. Sie mochte Mateo nicht. Er war nie da und hatte nicht die geringste Empathie für seine Frau. Und je mehr sie Josephine über Alexander reden ließ, umso deutlicher sah Mariana den Unterschied.
Alexander schaute noch ein paar Sekunden lächelnd auf das Bildschirmfoto, das er während des Videogesprächs von seiner Angebeteten gemacht hatte. Dann schaute er auf die Uhr. Kurz nach 3 Uhr morgens. Er hatte also noch etwas weniger als 3 Stunden zu schlafen, bevor sein Wecker wieder klingelte.
Er seufzte, schaltete den Laptop ein, der auf dem Nachttisch stand und suchte sich entspannende Musik raus. Zu dieser schlief er schließlich ein.
Am nächsten Morgen machte er Adriano wie jeden Morgen seinen Tee für die Schule fertig, während dieser sein Frühstück aß.
„Denk dran, heute Elterngespräch.“, erinnerte ihn sein Sohn.
Alexander holte sein Handy und stellte den Wecker auf eine Stunde vor dem Elterngespräch. „Na, das kann ja heiter werden.“
Während Adriano auf dem Weg zur Schule war, wartete Alexander auf seine Nachricht, dass er angekommen sei. Schließlich kam sie und er legte sich wieder schlafen.
Als sein Wecker ihn aus dem Schlaf riss, pulsierte sein Kopf und er wusste zunächst nicht, ob er wach war oder schlief.
„Zum Glück habe ich so viel Zeit“, murmelte er, während er stolpernd in die Küche ging, um sich eine Kopfschmerztablette zu holen.
Er nahm vorsichtshalber gleich zwei, denn er hatte das Gefühl, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren. Bis er schließlich losfahren musste, ging es ihm etwas besser.
Das Elterngespräch verlief wie erwartet. Seine Zensuren besserten sich stetig, aber es würde wahrscheinlich trotzdem nicht reichen, um das Abitur zu machen.
Alexander machte es etwas traurig, dass Adriano anscheinend auch nicht das geringste Interesse daran hatte, sondern am liebsten direkt zur Armee wollte. Gleichzeitig war er stolz darauf, wie sicher sich sein Sohn dabei war und unterstützte ihn darin so gut er konnte.
Sie gingen gerade die Treppe herunter, als Alexander einen sehr hohen, kaum hörbaren Pfeifton vernahm. Nach wenigen Sekunden fühlte es sich an, als hätten riesige Lautsprecher neben ihm einen einzelnen tiefen Basston abgegeben.
Er krallte sich am Geländer fest und rief seinem Sohn noch zu: „Ruf einen Rettungswagen!“
Die Welt um Alexander herum schien sich für einen kurzen Moment kilometerweit von ihm zu entfernen, dann stürzte alles auf ihn ein.
Dann war es dunkel.
Alexander Braun kam langsam wieder zu sich. Er hörte Stimmen um sich herum. Eine drang zu ihm durch. Eine Frau. Nicht seine, dessen war er sich sicher.
„Guten Abend“, sagte die Stimme.
„N‘Abend“, nuschelte er, „Wie geht’s Adriano?“
„Dem geht es gut, wir haben ihn vor wenigen Minuten in die Cafeteria geschickt.“
„Welche Cafeteria?“
„Die des Krankenhauses.“
Alexander riss die Augen auf: „Welches Krankenhaus?“
Er sah sich um. Pastellfarbene Wände in einem ekelhaft unaufdringlichen Ockergelb. Schränke in demselben Farbton. Ein Bett unter ihm, das sich anfühlte, als würde man da nicht freiwillig länger drin liegen als unbedingt nötig. Ja, definitiv, ein Krankenhaus.
„Genau genommen ein psychiatrisches Spezialkrankenhaus“, erklärte die Frau, die noch immer außerhalb seines Sichtfelds war, „Eine Sonderabteilung im Bundeswehrkrankenhaus.“
„Seit wann bin ich hier, was habe ich, wann kann ich gehen?“, fragte Alexander im besten Armeetonfall.
„3 Stunden und heute, wenn Sie wollen. Das andere ist etwas schwieriger zu erklären. Zumindest kann ich Sie beruhigen, dass es weder ein Herzinfarkt noch ein Schlaganfall war. Überhaupt war es nichts körperliches.“
„Kürzer!“, murmelte Alexander, während er herauszufinden versuchte, ob seine Gliedmaßen noch auf ihn hörten.
„Psychodetonation.“
„Zu kurz!“ Langsam drehte er sich um und fand endlich heraus, wer da die ganze Zeit mit ihm redete.
Eine Frau mittleren Alters im Arztkittel lächelte ihm zu und setzte ihre Kaffeetasse an die Lippen.
„Ich bin Dr. Magdalena Ulnikowa, Psychiaterin und nebenbei die Frau, der Sie gestern wieder aufgeholfen haben.“
Alexander nickte. Dann stand er auf und ging ins Bad. Er sah in den Spiegel. Okay, kein Verband um seinen Kopf. Er hatte sich also den Kopf nicht angeschlagen.
Er ging an den Schwesternschrank und nahm ein Thermometer heraus, das er sich direkt ins Ohr steckte. Fieber hatte er auch nicht. Dann warf er einen Blick auf das Medikamententablett. Nichts dabei, was seines Wissens Halluzinationen auslöste.
Dr. Ulnikowa beobachtete ihn die ganze Zeit mit wachsendem Amüsement. So eine Reaktion hatte sie noch nie gesehen.
Schließlich setzte sich Alexander auf den zweiten Stuhl und schaute sie direkt an: „Noch mal!“
Die Ärztin nahm ein Stück Karotte vom Essenstablett und biss genüsslich hinein. Genau in dem Moment hörte Alexander sie wieder.
‚Ich bin Dr. Magdalena Ulnikowa. Psychiaterin und Telepathin. Und du bist ab heute auch einer.‘
Kein Zweifel, sie hatte ihre Lippen nicht bewegt. Er hatte sie in seinen Gedanken gehört.
„Da ich davon ausgehe, dass ich in den letzten Stunden nicht zum Psychiater geworden bin, meinen Sie wohl…“
‚Du bist ein Telepath. Und was du gestern und heute erlebt hast, war die Erweckung deiner Kräfte!‘, hörte er die Ärztin wieder in seinen Gedanken.
„Wer war das?“, entgegnete er scherzhaft – irgendwie musste er die Spannung aus der Situation kriegen.
„Ehrlich gesagt, ich“ Zum ersten Mal sprach sie wirklich.
„Als ich gestern hinfiel, habe ich unbeabsichtigt eine psionische Welle ausgesandt, die in deinem Corpus Callosum resonierte und deine latenten Kräfte weckte.“
Sie beobachtete ihn interessiert. Er bewegte den rechten Zeigefinger, zeigte erst auf sie, dann kurz zum Boden, dann auf seinen Kopf, ziemlich genau auf die Stelle, an der sich das Corpus Callosum befindet, das Nervenbündel, das beide Gehirnhälften verbindet.
Beeindruckt fragte sie ihn: „Du hast das verstanden?“
„War ja jetzt nicht weiter schwer“, sagte er.
Sie kniff die Augen leicht zusammen und scannte ihn flüchtig. Dann fühlte sie es. Er stand komplett unter Schock. Sein Gehirn hatte alle Bereiche fast vollständig abgeschaltet, bis auf den rational-organisierenden Teil. Er nahm das auf, was sie zu ihm sagte, verstand es auch und speicherte es ab, aber davon abgesehen lief er komplett auf Autopilot.
„Hast du irgendwelche Fragen?“
Er sah ihr direkt in die Augen: „Drei. Wie geht es meinem Sohn? Ist das permanent? Muss das geheim gehalten werden?“
Jetzt war Magdalena wirklich beeindruckt. Sie spürte, dass es Merlin und Steffi genauso ging, denn sie schickte ihnen live, was sie erlebte.
„Gut, ja, ja.“, sagte sie probeweise und ergänzte: „Du musst eine Schulung durchlaufen, damit so etwas wie heute nicht noch einmal passiert und du lernst, deine Kräfte zu dosieren, dich von den Gedanken anderer abzuschirmen…“
Alexander hatte die Hand gehoben: „Ich habe alle Serien und Filme von Star Trek gesehen.“
Magdalena blinzelte verwirrt. Steffi schickte ihr das Wissen, auf das sich Alexander bezog: In Star Trek gibt es eine Rasse namens „Betazoiden“. Diese sind Telepathen und lernen die Telepathie genauso wie das Sprechen. Jene, die diese Ausbildung nicht durchlaufen, werden irgendwann verrückt.
„Wie viel weiß Adriano und wie viel darf er wissen?“
Die Ärztin fühlte, dass sie von den schnellen Themenwechseln langsam genervt wurde, während sie gleichzeitig immer noch beeindruckt davon war, wie gut Alexander es wegsteckte.
„Wir haben ihm noch nichts gesagt. Aber er ist ein latenter Telepath. Es ist könnte für beide einfacher sein, wenn ihr die Ausbildung gemeinsam macht.“
„Die Ausbildung zum Telepathen? Noch mehr Hausaufgaben?“, kam von der Tür.
Adriano war unbemerkt zurück gekommen und hatte einen Teil des Gesprächs gehört.
„Keine Hausaufgaben!“, lachte Dr. Ulnikowa.
Sie scannte auch den Jungen kurz. Auch er stand noch unter Schock. Er hatte gesehen, wie sein Vater, seine einzige Bezugsperson, plötzlich zusammensackte, ein paar Stufen nach unten fiel und leblos liegen blieb. Er reagierte auf dieselbe Weise, wie sein Vater: Alle Gefühle wurden ausgeschaltet, die Persönlichkeit bestand nur noch aus rationalen, computerhaften Reaktionen.
‚Was haben die beiden durchgemacht, um diesen starken Abwehrmechanismus zu entwickeln?‘, fragte sich der psychiatrische Teil von ihr.