Читать книгу Telepathenaufstand - Sören Kalmarczyk - Страница 5
ОглавлениеFebruar 2022
Die Praxis lief gut und sogar die Karateschule hatte wieder mehr Schüler. In allen Trainingsgruppen waren mindestens 10 Schüler und trainierten fleißig. Nur ein kleiner Teil davon war von der Konkurrenzschule gekommen, als diese zu Beginn des neuen Jahres geschlossen wurde.
Alexander und Magdalena hatten eine funktionierende Arbeitsteilung entwickelt. Dienstags war Alexander in der Praxis und Magdalena in der Klinik. Mittwochs war Magdalena in der Praxis und Alexander arbeitete von zu Hause online. Und freitags arbeiteten beide vormittags in der Klinik und nachmittags online.
Jeden Sonntag traf sich der Zirkel zum Trainieren. Alexander und Adriano waren sehr schnell in der Hierarchie aufgestiegen, weil sie beide so starke Telepathen waren. Gemeinsam mit Merlin entwickelte Alexander neue Techniken, die auf seinem Verständnis des Karate und des Kidō basierten, der Energiearbeit im Karate.
Das dritte Paket von Josephine war eingetroffen und Alexander musste wieder einmal zum Zollamt.
Er schaute auf sein Handy. „Kurz nach 12. Wenn ich gut bin, bin ich zu Hause, bevor Adriano aus der Schule kommt.“
Die Schule hatte wieder angefangen, um gleich wieder aufzuhören. Es war die letzte Woche vor den Ferien, welche um eine Woche verschoben worden war. An zwei Tagen mussten die Schüler mit ungeraden Nummern im Klassenbuch zur Schule, an den nächsten beiden die Schüler mit geraden Nummern. Am Freitag mussten die Geraden für 3 Stunden hin, um ihre Zeugnisse abzuholen, danach kamen die Ungeraden.
Sein Handy klingelte. Er kannte die Nummer nicht.
„Schönen Guten Tag, Herr Braun!“, meldete sich eine geschäftig klingende Stimme, die ihm vage vertraut vorkam, „Zollmeister Sispeks am Apparat. Ihre Sendung ist die letzte, danach ist Feierabend, da wollte ich fragen, wann Sie hier eintreffen.“
„Ich bin bereits unterwegs“, entgegnete Alexander. Dann kam ihm eine Idee: „Wissen Sie was? Fangen Sie doch schon mal an, dann geht es schneller, wenn ich da bin. Noch etwa 10 Minuten.“
Er fühlte, dass der Zollbeamte gern zustimmen würde, aber eigentlich ablehnen muss. Deshalb legte er auf, bevor dieser überhaupt etwas sagen konnte.
Als er zehn Minuten später im Zollamt eintraf, wurde er vom Pförtner gleich durchgewunken. Er hörte eine ziemlich laute Stimme, als er den Fahrstuhl in der dritten Etage verließ.
„Wie können Sie es wagen, ein Paket zu öffnen, wenn der Empfänger nicht anwesend ist?“, brüllte gerade ein Lamettaträger.
Alexander scannte ihn schnell. Er war gerade erst hereingekommen und hatte dem Beamten noch gar keine Zeit gegeben, zu antworten.
„Weil der Empfänger auch nur ein Mensch ist und mal schiffen musste!“, polterte Alexander los, als er durch die offene Tür in das Büro trat.
Der Lamettaträger wirbelte herum: „Und wer bitte sind Sie?“
„Der Empfänger“, kanzelte Alexander ihn ab und wandte sich an seinen Beamten, „Wenn der Schreihals sich bei Ihnen entschuldigt hat, können wir weitermachen.“
Der Oberinspekteur setzte gerade zu einer neuen Meckertirade an, als Alexander ihn mit einem durchdringenden Blick fixierte. Er sandte ihm das Gefühl, einem Beamten gegenüberzustehen, der mindestens drei Gehaltsklassen über ihm stand.
„Tschulligung“, nuschelte er dem Beamten zu und verschwand aus der Tür.
Inspekteur Sispeks gewann langsam wieder etwas Farbe im Gesicht und erzählte ihm, wen er da gerade in die Schranken verwiesen hatte. Es war der Abteilungsleiter gewesen, berühmt und berüchtigt dafür, dass er alle und jeden zur Sau machte, ganz nach dem Motto „Anschiss ist die beste Verteidigung“.
Aus dem angeklappten Fenster war zu hören, wie eine Autotür zuflog und kurz darauf jemand mit quietschenden Reifen vom Hof fuhr. Ein Kollege von Sispeks schaute hinaus.
„Schönes Wochenende, Herr Oberinspekteur“, sagte er verächtlich und setzte sich wieder hin.
Alexander kraulte in der Zwischenzeit den Drogenspürhund am Kopf und ging mit Herrn Sispeks das Paket durch.
„Wann kommt sie denn endlich?“, fragte dieser gerade.
„Wenn alles klappt, in zwei Wochen.“, antwortete Alexander mit verklärtem Blick.
„Dann müsst ihr unbedingt mal herkommen, die Frau will ich kennen lernen!“, lachte Sispeks, „Aber noch im Februar, ab März bin ich hier weg.“
„So?“ Alexander schaute ihn fragend an.
„Ich wechsele ins LKA, Mordkommission.“, meldete Sispeks stolz.
„Glückwunsch!“, erwiderte Alex lächelnd.
Ein kleines Päckchen fiel aus den Kleidern.
„Was ist das?“, fragte der Beamte.
Alexander sah ihn an: „Woher soll ich das wissen?“
Grünes Paketband war komplett um das Päckchen gewickelt. Es sah aus, wie ein Drogenpaket direkt aus einem Film.
Der Beamte schnitt das Paket auf und wickelte die Alufolie ab, die um den Inhalt gewickelt war, sein Kollege näherte sich langsam und schaute ihm über die Schulter. Dann brachen alle in schallendes Gelächter aus.
Echter kolumbianischer Kaffee. Dabei lag ein Zettel: „Für den Zoll. Diese ist die letzte Sendung. Vielen Dank für die Glückwünsche! Josephine“
Der Name war schwungvoll geschrieben und daneben war noch ein Kussmund auf dem Zettel.
Sispeks wurde knallrot, während sein Kollege das Formular für Zuwendungen ausfüllte.
Der Inspekteur nuschelte leise: „Okay, vielleicht stellst du uns lieber doch nicht vor.“
Als er beim letzten Paket die Unterwäsche auspackte und dem Spürhund einzeln hinhielt, hatte er einen BH auseinandergefaltet und anerkennend genickt. Dabei sagte er zu Alexander: „Wow, Glückwunsch!“
Das war dann wohl ihre kleine Rache. Aber den Kaffee behielten sie.
Alexander legte alles wieder ordentlich zusammen und verschloss das Paket. Dabei fand er einen Ausdruck vom Flughafen El Dorado in Bogotá. Ihre Reservierungsbestätigung für den 13. Februar. Einen Tag später Ankunft am Flughafen BER.
„Happy Valentine’s Day“, raunte Alexander und brachte anschließend das Paket ins Auto.
Die psychologische Praxis lief immer besser. Es hatte sich herumgesprochen, dass viele Patienten hier bereits nach einer oder zwei Behandlungen viel besser drauf waren. Steffi managte die Termine, Merlin tarnte sich als Hausmeister und die beiden Therapeuten genossen ihren Job sichtlich.
Adriano genoss die Ferien mit seinem neuen Laptop und war für die Außenwelt nicht ansprechbar. Alexander ließ ihn gewähren, denn er hatte sich diese Ich-Zeit mehr als verdient.
Die Tür zur Praxis flog auf und knallte gegen die Wand.
„Sie!“, brüllte eine Frau.
Steffi schaute über den Tresen und wusste erst nicht, wo sie diese Frau einordnen sollte, die offensichtlich etwas gegen sie hatte.
Die Frau stürmte herein und knallte die Faust auf den Tresen: „Sie! Sie haben mein Buch geklaut!“
Steffi legte den Kopf zur Seite und schaute sie fragend an.
Mit einem noch lauteren Knall landete das Buch auf dem Tresen, das Steffi vor ein paar Wochen veröffentlicht hatte: „Die moderne Praxishilfe im 21. Jahrhundert“, den Titel hatte sie geändert.
Dann dämmerte es ihr. Das war die Frau, aus deren Gedächtnis sie das Buch hatte.
„Ich habe nach so etwas gesucht, aber nichts gefunden!“, verteidigte sich Steffi und rief telepathisch nach Hilfe.
„Das Buch gab es bisher nur in meinem Kopf!“, brüllte die andere Frau mit vor Wut verzerrtem Gesicht, „Dann kamen Sie in die Praxis und kurz darauf…“
Sie gestikulierte wie wild mit dem Buch herum.
Steffi hob beschwichtigend die Hände und sandte ihr telepathisch beruhigende Gefühle zu: „Es kam doch schon vor, dass verschiedene Personen unabhängig voneinander auf die gleiche Idee kamen.“
Irgendwie klappte gar nichts, die Frau regte sich immer weiter auf. „Das sind meine Worte! Genauer gesagt, meine Gedanken!“
Hinter ihr trat Merlin durch die Tür und näherte sich ihr langsam.
„Die Praxis, die Sie da beschreiben, habe ich im Puppenhaus meiner Tochter gebaut!“
Merlin stand nun direkt hinter ihr und Steffi ließ die Hände sinken.
‚Fuck!‘, dachte sie. Diesen Teil der Erinnerungen hatte sie nicht mit kopiert.
„Woher haben Sie das? Können Sie Gedanken lesen?“, wollte die Frau wissen, als sich langsam Merlins Hand auf ihre Schultern senkte.
Merlin sagte leise: „Dies ist nicht der Ort für derart laute Stimmen. Nicht wahr?“
Die Frau nickte nur. Ihr Blick wurde abwesend.
„Es ist nichts passiert. Sie werden jetzt gehen und vergessen, warum sie hier waren. Sie werden sogar vergessen, dass sie hier waren.“
Die Frau ging wie in Trance zur Tür, schloss sie hinter sich und ging.
Steffi sackte in sich zusammen und erzählte Merlin, woher sie den Inhalt ihres Handbuches hatte.
„Rechtlich gesehen bist du auf der sicheren Seite.“, kam eine andere Stimme von der Tür. Axel Püschel, Rechtsanwalt und seit 20 Jahren Mitglied des Zirkels.
„Ich war grad in der Nähe, als ich den Hilferuf hörte.“, erklärte er und kam dann wieder zum Thema, „Wenn sie das wirklich nie irgendwo geschrieben hat, kann dir rechtlich überhaupt nichts passieren. Und falls die anderer Meinung ist, ruf mich.“
Er wechselte noch ein paar Worte mit Merlin, bevor er sich verabschiedete: „Bis zum Treffen!“
Steffi nickte ihm zu. Sie hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt, wie in den letzten 20 Minuten. In einer Woche sollte sie die Prüfung zum ersten Grad ablegen. Doch im Moment wollte sie sich nur noch verkriechen.
Sie schaute zu Merlin auf, der sie die ganze Zeit musterte und schließlich sagte: „Es wird Zeit, dass unsere Leute lernen, sich zu wehren. Und ich weiß auch schon, wer euch das beibringen wird.“
Steffi legte wieder den Kopf schief.
„Wenn du das machst, wenn du deine Haare links und rechts zu Zöpfen hast, siehst du aus wie ein Hund“, sagte Merlin.
Sie presste die Lippen zusammen, aber machte den Kopf wieder gerade.
‚Was meinst du? Sich wehren können?‘
Merlin antwortete ebenfalls telepathisch: ‚Es gibt Kampftelepathie. Alex und ich entwickeln sie, aber auch andere Zirkel arbeiten daran.‘
Steffis Augen wurden größer. ‚Kampftelepathie?‘, sie konnte sich darunter nichts vorstellen.
‚Wir haben aktuell mehrere Techniken in drei Gruppen in der Entwicklung: Abwehr, Angriff und Vermeidung. Aber das soll dir Alex dann erklären, wenn es so weit ist.‘, Merlin klopfte mit der Hand auf den Tisch und wechselte zur Sprache, „Mach Feierabend für heute.“
Sie nickte und als sie sich verabschiedet hatten, ging sie nach Hause. Sie hatte das ungute Gefühl, dass die Sache mit der aufgebrachten Frau noch ein Nachspiel haben würde.
In der Bahn spürte sie ein gedankliches Klopfen. Sie fühlte genauer und erkannte Alexander, also öffnete sie ihren Geist für ihn. Genau ihn brauchte sie jetzt.
‚Brauchst du noch Hilfe? Ich habe gefühlt, dass Merlin und Axel schon da sind, aber ich könnte kommen.‘
‚Nein, aber danke!‘, sendete sie zurück, ‚Aber Merlin sagte, ich soll Kampftelepathie lernen.‘
Telepathen können Erlebnisse viel schneller austauschen als Nicht-Telepathen. Sie schickte ihm die Erinnerungen an den Vorfall und an das Gespräch mit Merlin.
‚Verstehe‘, kam von Alexander zurück. ‚Genieß deinen Feierabend und mach dir keine Sorgen. Wir werden schon bald ein ganz neues Training anfangen.‘
Zum Abschied schickte er ihr noch eine eigene Erinnerung. Sie fühlte, wie sie in einer Badewanne lag und heißes Wasser sie umspülte, eine Tasse Tee auf dem Wannenrand und Kerzen um sie herum. Ein wunderschönes Gefühl.
Sie stockte kurz. Sie wusste, dass er keine Badewanne hatte, sondern nur eine Stehdusche. Das musste eine sehr alte Erinnerung sein, nur für besondere Anlässe. Aber es wirkte, sie fühlte sich schon viel entspannter.
Zu Hause tat sie dann auch genau das.
Sie ließ sich ein heißes Bad ein, stellte Kerzen auf und machte sich einen Tee. Dazu nahm sie ihren E-Book-Reader und genoss den Abend.
Alexander zog sich gerade wieder die Jacke aus und hängte sie an den Haken. Er seufzte mit einer Mischung aus Erleichterung und dem Gefühl, sich umsonst angezogen zu haben.
„Kann weitergehen“, rief er ins Kinderzimmer und ging an seinen Computer im Wohnzimmer.
Adriano und er hatten die letzte Woche damit verbracht, die ganze Wohnung herzurichten, denn in 4 Tagen kam Josephine an. Jetzt nutzten sie die Zeit, um sich gegenseitig online noch einmal über den Haufen zu schießen.
Viele hatten ihn kritisiert, weil er bereits mit 20 Jahren ein Kind bekommen hatte. Erst ein knappes Vierteljahr später wurde er 21. Wenn er jedoch mit seinem Sohn zusammen zocken oder ins Kino gehen konnte, wusste er, dass er alles richtig gemacht hatte. Sein Sohn war alt genug, um gemeinsamen Hobbys nachzugehen und er war noch nicht zu alt, um das auch zu genießen.
„Gotcha!“, hörte er seinen Sohn aus dem Kopfhörer und konnte nur noch zusehen, wie seine Spielfigur das Zeitliche segnete.
„Wo zum…?“, Alexander loggte sich in Adrianos Wahrnehmung ein und sah, was dieser sah.
Er zog sich wieder zurück und tippte in den Chat: „GG“, Good Game.
Adriano hatte ihn aus einer virtuellen Entfernung von mehreren hundert Metern erschossen. Er war beeindruckt und stolz auf seinen Sohn. Und er sann auf Rache.
In der nächsten Runde stattete er seinen Terroristen mit einem Multi-Granatwerfer aus. Adriano spielte für die Anti-Terror-Einheit. Zumindest für 2 Minuten. Dann hatte Alexander ihn gefunden und ihm eine Granate direkt unter dem Hintern platziert.
„Guten Flug!“, flötete Alexander in sein Headset.
„Schön hier oben!“, kam als Antwort zurück. Beide lachten.
Merlin hatte es sich vor seinem Kamin bequem gemacht und wollte gerade Kontakt zu Alexander aufnehmen, um mit ihm das Kampftraining zu planen. Ihm schlug eine Welle von Euphorie und Liebe entgegen, die mit einer seltsamen Mischung aus Mordlust einherging.
Er schloss die Augen und versuchte, so unauffällig wie möglich in Alexanders Geist zu gelangen.
War nichts.
Dann kam ihm eine andere Idee. Er peilte Adriano an.
Bingo!
Er erfuhr so, dass die beiden sich gerade gegenseitig aus dem Äther bombten und beschloss, sie in Ruhe zu lassen.
„Sollen sie ihre Zeit mal genießen“, sagte er leise, als er sich ein Buch nahm, „Wer weiß, wie lange sie sowas noch haben.“
Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Irgendetwas schlimmes war im Entstehen, aber er wusste noch nicht, was. Er ahnte nur, dass es mit der hysterischen Frau von vorhin zu tun hatte.
Josephine packte ihre letzten Sachen. Für die kommenden drei Tage hatte sie Kleider von ihrer Cousine bekommen, sodass sie nichts zurücklassen musste. Ganz oben kam die Kuscheldecke in die Tasche. Am nächsten Morgen ging es zu ihrer Tante nach Bogotá. Ihre Eltern und ihre Cousine wollten sie begleiten, die Kinder blieben in der Zeit bei ihrer Großmutter.
Ihr Onkel hatte ihr eine Powerbank gekauft, damit sie ihr Handy unterwegs aufladen konnte.
Mariana betrat das Zimmer und stupste sie an.
Josephine sprang hoch und schrie. Sie war inzwischen das reinste Nervenbündel. Mariana kicherte.
„Hast du alles?“, fragte sie.
Josephine nickte. „Alles da.“
Mariana ging den Notizzettel durch: „Reisepass? Bordkarte? Flugticket? Mathetest?“
Josephine wurde panisch und durchwühlte alles. Irgendwann hielt sie inne und sagte ganz langsam: „Mathetest?“
Sie drehte sich zu Mariana um. Dann lachten beide und die Anspannung fiel von ihr ab.
„Komm, alle warten schon.“, sagte Mariana und zog sie am Arm aus dem Zimmer. Sie fuhren mit einem Taxi zu ihren Eltern, wo sich alle aus der Familie versammelt hatten, die in der Gegend wohnten. Ein großes Fest zu ihrem Abschied.
Ihr wurde etwas schwermütig ums Herz, als sie so viele Familienmitglieder sah, die sie wahrscheinlich lange Zeit nicht wiedersehen wurde.
Dann gingen die üblichen Streitereien los und schon ging es ihr wieder besser.
Während sich zwei ihrer Tanten gerade beharkten und sich gegenseitig irgendetwas aus grauer Vorzeit vorwarfen, näherte sich ihr Bruder von hinten und umarmte sie.
„Du wirst mir fehlen, Hobbit!“, sagte er leise.
Sie drehte sich um und drückte ihn. „Du mir auch, Hagrid!“, woraufhin er das Gesicht verzog und sie lachen musste.
„Aber wir sehen uns ja bald wieder!“, kam seine Frau dazu. Eine Deutsche. Ein halbes Jahr nach Josephine wollten auch die beiden wieder nach Deutschland zurück.
Einer ihrer Onkel stand plötzlich auf und rief: „Wie verabschiedet man sich auf Deutsch?“
Ihre Schwägerin war schon wieder irgendwohin verschwunden, sodass diese ihr nicht helfen konnte. Also stand Josephine allein da, die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtet. Ihr Lampenfieber machte sich bemerkbar.
Sie presste den Daumennagel fest gegen den Zeigefinger und atmete einmal tief ein.
„Tschüss!“, sagte sie laut.
Als alle Anwesenden merkten, dass da nicht mehr kommen würde, stießen sie mit den Gläsern auf sie an, wünschten ihr viel Glück, Gesundheit, Reichtum und was man noch alles wünscht. Vor allem viele Kinder wünschten ihr die älteren Frauen der Familie.
Das war dann auch schon der Auslöser für den nächsten Streit, denn eine ihrer Cousinen war seit 4 Jahren verheiratet und das Paar hatte noch kein einziges Kind. Während die beiden sich darüber keine Gedanken machten, waren ihre Eltern schon wieder eifrig dabei, sie zu verteidigen.
Josephine ging leise aus dem Raum und die Treppen hoch. Sie ging rechts entlang, bis sie links von sich die Tür sah, die ihr so vertraut war. Ihr altes Kinderzimmer. Hier hatte sie gewohnt, als sie sich kennen gelernt hatten.
Die Tür war nur angelehnt und so zog sie sie ganz auf. Dieselbe Farbe an den Wänden und noch immer stand ihr Schreibtisch und ihr alter Kleiderschrank darin. Josephine sah sich etwas wehmütig um.
„Breite deine Flügel aus und fliege, kleine Phina!“, hörte sie ihre Mutter von der Tür sagen.
Sie drehte sich um und sah zu ihr, Tränen in den riesengroßen, dunklen Augen.
„Zu Hause ist, wo man dich liebt und immer an dich denkt.“, sagte Gabriela, „Du verlierst dein Zuhause hier nicht. Du gewinnst eins hinzu.“
Josephine stürzte ihrer Mutter in die Arme. „Ich komme wieder, mit den beiden, das verspreche ich dir!“, schluchzte sie.
Gabriela fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare und hob ihr Gesicht dann an. Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und schüttelte dann den Kopf.
„Versprich mir nicht sowas. Versprich mir nur eins: Werde glücklich!“
Josephine strahlte und weinte zugleich und als sie nickte, machte sie ein Geräusch, das an eine miauende Katze erinnerte.
„Na komm“, sagte ihre Mutter, während sie ihr mit der Schürze die Tränen abwischte, „Die anderen wollen sich von dir verabschieden.“
Als die Feier langsam zu Ende ging und sich alle verabschiedeten, kam Josephines Vater auf sie zu.
„Würdest du mit deinem alten Herrn noch einen letzten Spaziergang machen, bevor du gehst?“, fragte er sie.
Josephine strahlte und nickte heftig. Ihre Cousine und ihr Schwager, auch ihre Mutter, alle zogen sich an.
Gemeinsam gingen sie zu Fuß zum Haus von Mariana, wo sie eine letzte Nacht verbringen würde, bevor ihr Onkel sie nach Bogotá mitnahm.
An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Sie redete die ganze Nacht mit ihrem Vater. Zumindest den Rest, der von der Nacht noch übrig geblieben war.
Er war der letzte gewesen, der ihren Verlobten akzeptiert hatte. Jahrelang war er gegen die Beziehung gewesen und hatte alles versucht, um sie auseinanderzubringen. Er wollte einfach nicht, dass seine kleine Tochter so weit weg geht.
Einmal hatte er es sogar geschafft. Er hatte Josephine gezwungen, sich von Alexander zu trennen. 3 Monate lang waren die beiden getrennt gewesen. Sie musste den Kontakt vollständig abbrechen und empfing nichts mehr von ihm, keine Anrufe, keine Briefe, keine Nachrichten.
Sie verlor fast 20 kg Gewicht in dieser Zeit und irgendwann hielt es ihre Mutter nicht mehr aus. Sie weigerte sich, mit ihrem Ehemann zu reden, bis er ihr wieder den Kontakt erlaubte.
Natürlich blieb er stur. Also zog Gabriela die Daumenschrauben an: Es gab kein Essen mehr. Sie kochte für ihre Kinder und für sich, aber nicht mehr für ihn.
Irgendwann gab er auf und erlaubte den Kontakt wieder. Er ging sogar noch weiter und organisierte den ersten Besuch Alexanders und Adrianos in Kolumbien. Ohne seiner Tochter etwas zu sagen, arbeiteten mehrere Familien des Clans Hand in Hand, um die beiden ins Land zu holen.
Eines Morgens saßen Alexander, Adriano und Josephines Eltern im Wohnzimmer. Genau dort, wo die Abschiedsfeier stattfand. Josephine wurde von den Stimmen wach und kam schlaftrunken die Treppen herunter.
Sie sah ihn an. Die Luft schien zu knistern, so aufgeladen war die Situation.
Josephine drehte sich wieder um und ging langsam die Treppen hinauf, ins Badezimmer und spritzte sich mehrfach kaltes Wasser ins Gesicht. Dann ging sie wieder hinunter.
Als sie nun sicher war, dass sie wirklich wach war und da wirklich auf dem Sofa saß, wen sie da sitzen war, rannte sie los, sprang auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Hals.
Das Sofa mit den beiden darauf kippte um – Adriano war schnell aufgesprungen und hatte sich noch in Sicherheit gebracht.
Josephine interessierte die Welt nicht mehr, sie hatte Alexander bei sich und begrub ihn unter Küssen und Tränen.
Ihr Vater lächelte zufrieden. Die letzten drei Stunden hatte er ihn einem Verhör unterzogen, das jeden Kriminalbeamten neidisch gemacht hätte und war zu dem Schluss gekommen, dass es keinen besseren für seine Tochter gibt.
Am nächsten Morgen sahen die beiden nicht mehr besonders fit aus. Aber Josephine würde sowieso eine Beruhigungstablette nehmen, weil sie vor Autos noch immer Angst hatte. Vor allem der bergige Weg durch die Anden bis nach Bogotá war ihr jedes Mal ein Graus. Wenn sie müde genug zum Schlafen war, war das nur umso besser.
Ihr Onkel fuhr vor und sie luden die letzten Taschen ein. Eine Reisetasche und ein großer Rucksack. Mehr war von Josephines Sachen nicht mehr da, der Rest war schon in Deutschland.
Josephine, Mariana und ihre Eltern stiegen in das Auto und ihr Onkel fuhr los. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war und nichts mehr von der Fahrt mitbekam.
Etwa sechs Stunden später wurde sie von Mariana geweckt, die ihr mit der Fingerspitze in die Wange piekte.
„Wir sind da, Dornröschen!“, rief sie fröhlich und zog sie aus dem Auto.
Noch im Halbschlaf torkelte Josephine hinterher. Sie begrüßte ihre Tante und wollte ihr sofort helfen, aber diese winkte ab.
„Du hast noch genug Arbeit vor dir. 36 Stunden vom Abflug hier bis zur Landung in Wo-auch-immer, das wird hart genug.“
Josephine lächelte dankbar, rollte sich auf einem Ende der Couch zusammen und war schon wieder eingeschlafen, ehe der Rest der Familie im Haus war.
Albträume plagten sie. Aber sie hatten nichts mit dem Flug zu tun. Sie träumte, dass sie ihren Vater zum letzten Mal sehen würde.
Am anderen Ende des Hauses saßen ihre Eltern mit ihrer Tante, ihrem Onkel und Mariana am Küchentisch zusammen.
„Habt ihr es ihr gesagt?“, fragte der Onkel gerade.
Gabriela schüttelte den Kopf, aber es war ihr Ehemann, der antwortete: „Wir wollen, dass sie endlich glücklich wird. Wenn sie es wüsste, würde sie den Flug absagen und hier bleiben.“
„Irgendwann muss sie es wissen.“, warf Mariana ein, „Ich kann meine Cousine nicht die ganze Zeit belügen.“
Marianas Mutter warf ihr einen intensiven Blick zu: „Du belügst sie nicht, du erzählst ihr nur nicht alles. Und es ist besser so.“
Josephines Vater nickte: „Es gibt nichts, was sie oder irgendwer noch tun könnten. Der Krebs hat gewonnen. Wenn es vorbei ist, dann könnt ihr es ihr sagen. Vorher nicht. So will ich es!“
Und damit war das Thema erledigt. Der Patron hatte seine Entscheidung verkündet und jede weitere Diskussion erübrigte sich.
Am Morgen des 13. Februar fuhren sie zum Flughafen El Dorado. Josephines Eltern erledigten die Gepäckaufgabe und den Zoll. Josephine zeigte ihren Reisepass und ihr Visum vor. Auch die Hochzeitsanmeldung wollte der Zollbeamte sehen, denn ihr Visum war zum „Zweck der Eheschließung“ ausgestellt.
Als alle Formalitäten erledigt waren, trafen sie sich noch einmal im Wartebereich. Das Flugzeug stand bereits da.
Nach einem emotionalen Abschied ging Josephine in den Check-In-Bereich des Flughafens. Nur ihre Cousine begleitete sie bis zum Schluss. Die letzten zwei Jahre hatte sie bei ihr gelebt.
„Danke“, sagte Josephine mit trauriger Stimme, „Danke für alles!“
Mariana umarmte ihre Cousine und drückte sie fest.
„Es ist kein Lebewohl“, flüsterte sie, „Nur ein Bis bald.“, dann ließ sie Josephine los und gab ihr einen sanften Schubs in Richtung Gate.
Mariana rief ihr noch hinterher: „Denke nicht an die, die du zurücklässt, Phina! Denke an die, zu denen du jetzt fliegst!“
Josephine nickte, lächelte und schulterte ihren Rucksack. Der Stewardess gab sie ihre Bordkarte und wollte gerade weitergehen, als die Stewardess sie kurz aufhielt.
„Viel Spaß in Deutschland!“, sagte sie auf Deutsch.
Auf Josephines erstaunten Blick hin, ergänzte sie: „Ja, ich bin Deutsche.“
Josephine bedankte sich und ging an Bord.
Ihr Sitzplatz war A-47. Sie schmunzelte, als sie das sah. A für Alexander. Und er behauptete, dass sie genau 47 Sommersprossen im Gesicht hätte.
Als der Kapitän mit seiner Ansage begann und sagte, dass die Passagiere die Handys ausschalten sollten, holte sie ihres heraus.
Sie wollte es gerade ausschalten, da fiel ihr noch etwas ein.
„Schatz, ich komme nach Hause!“, schrieb sie Alexander. Dann schaltete sie das Handy aus.
„Schatz, ich komme nach Hause!“, sagte die Nachricht, die Alexander las. Er schaute auf die Uhr. Abflugzeit. Er schickte ihr ein Herz, das nicht mehr zugestellt wurde.
Jetzt wusste er, wie er sie am Flughafen begrüßen würde.
Als er gerade einen Kontrollgang durch die Wohnung machte, um sicherzustellen, dass alles perfekt und sauber war, klingelte sein Handy. Merlin rief ihn an.
„Das ist ja mal ungewöhnlich“, meldete er sich.
Er hörte kurz zu, als ihm Merlin etwas erzählte und auflegte, dann nahm er langsam das Handy herunter. Sein Blick ging ins Leere, als er die Information verarbeitete und sich fragte, was er damit anfangen sollte.
Merlin hatte ihm mitgeteilt, dass auf der Passagierliste für Josephines Anschlussflug ein Telepath aufgetaucht war. Das war an sich noch nichts ungewöhnliches. Auch Telepathen durften frei reisen. Aber dieser besondere Telepath war ungewöhnlich. Ein diözesaner Ermittler.
Während seiner Ausbildung in Telepathie hatte Alexander gelernt, dass allen Zirkeln ein Guardian vorstand, ein Wächter, der von der Kirche in Rom ernannt wurde. Diese Wächter waren die einzigen, die untereinander Kontakt aufnehmen durften. Dem Rest des Zirkels war es grundsätzlich verboten, Kontakt zu Telepathen anderer Zirkel aufzunehmen. Wenn sie sich zufällig trafen, gab es ein festgelegtes Protokoll. Sie mussten sich einander zu erkennen geben und durften keine weiteren Kontakte haben.
Den Sinn dahinter hatte Alexander nie verstanden und Merlin konnte oder wollte es ihm nicht erklären. Bei seinen Recherchen stieß Alexander auf noch mehr seltsames. Anscheinend reichte dieser Arm der Kirche sogar bis in Gebiete und Länder, in denen sie sonst überhaupt nicht vertreten war. Ein Netz, das die ganze Welt umspannte und anscheinend nur dafür da war, die Telepathen daran zu hindern, miteinander zu reden.
Einige dieser Guardians waren mit besonderen Aufgaben betraut. Ein diözesaner Ermittler war dafür zuständig, Verstöße zu ahnden und abtrünnige Telepathen einzufangen. Und so ein Typ saß ab Amsterdam im selben Flugzeug wie Josephine.
Alexander wusste nicht, was er davon halten sollte. War er wegen Josephine an Bord? War irgendwas passiert, was dem Zirkel entgangen war? Oder war alles nur Zufall? Ihm blieb nur, abzuwarten und zu sehen, was passieren würde.
Merlin hatte ihm nur Bescheid gesagt, dass er und Magdalena auch am Flughafen sein würden, da sie die Führungsriege des Zirkels waren.
Alexander legte das Handy weg, beendete seine Runde und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er fand es wenig zielführend, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen. Also rief er die Webseite der Airline auf, mit der Josephine flog. Sie würde in 20 Minuten in Cartagena zwischenlanden.
Er stellte sein Handy so ein, dass es sich meldete, wenn seine letzte Nachricht zugestellt wurde. Dann setzte er sich das Headset wieder auf und konzentrierte sich darauf, seinen Sohn aus dem Weltall zu pusten. Sie hatten inzwischen das Spiel gewechselt und beharkten sich nun in einem Onlinespiel, das in der Zukunft spielte.
Mitten auf dem Alexanderplatz stand eine Frau. Sie wusste nicht, warum sie hier stand. Weder wusste sie, wo sie gerade herkam, noch wohin sie eigentlich wollte. Angestrengt dachte sie nach.
Sie hatte Feierabend gemacht und die Arztpraxis abgeschlossen. Irgendwas war mit einem Buch. Wollte sie ein Buch kaufen gehen? Nein, sie hatte sich kürzlich ein Buch gekauft. Sie griff in ihre Handtasche und zog es heraus. „Die moderne Praxishilfe im 21. Jahrhundert“, stand auf dem Einband.
„Klingt interessant“, murmelte sie leise.
Plötzlich fuhr sie hoch und schrei kurz auf. Eine Hand hatte sich auf ihre Schulter gelegt.
„Na, wie lief es?“, wollte eine Frauenstimme wissen.
Sie drehte sich um und erkannte ihre Kollegin und beste Freundin.
„Ach, du bist das!“, sagte die Frau mit dem Buch.
„Wen hast du denn sonst erwartet?“
Sie bewegte den Kopf unschlüssig hin und her, bevor sie antwortete: „Andrea… Warum bin ich hier?“
Andrea schaute verwirrt und fragte zurück: „Meinst du jetzt den Sinn des Lebens oder sowas?“
Die Frau mit dem Buch rollte mit den Augen.
„Nein, warum stehe ich hier herum wie bestellt und nicht abgeholt?“
„Franzi“, fragte Andrea langsam, „Geht es dir gut?“
Die Frau mit dem Buch, Franzi, wurde langsam ärgerlich: „Ich erinnere mich, dass ich die Praxis abgeschlossen habe und dann auf einmal stand ich hier. Ich weiß nicht, was dazwischen passiert ist!“
Ihre Freundin bekam einen Schreck. Während sie in ihren Taschen kramte, murmelte sie etwas unverständliches. Schließlich fand sie, was sie suchte.
„Nimm das in den Mund!“
Franzi schaute auf das kleine Plättchen in Andreas Hand.
„Einen Drogentest?“
„Dir fehlen über 2 Stunden! Du blutest nicht, stehst anscheinend nicht unter Schock und wirkst auch sonst ziemlich klar. Irgendwer muss dir was gegeben haben.“
Noch bevor Franzi etwas erwidern konnte, stopfte Andrea ihr das Testplättchen in den Mund und rührte ihr damit auf der Zunge herum.
„Ih ai ihh haa uhh ischhh!“, gab Franzi von sich.
„Schon recht“, antwortete Andrea und nahm das Plättchen wieder heraus. Keine Verfärbung. Erleichtert seufzte sie und führte Franzi zu einer nahen Bank.
„Also“, begann sie schließlich, „Du hast dir dieses Buch gekauft“, sie klopfte auf das Buch in Franzis Hand, „und als du es durchgelesen hast, hast du gesagt, dass das eins zu eins deine Gedanken sind.“
Bruchstückhafte Erinnerungen regten sich in Franzi. Die Wut war eine starke Emotion und war nicht so leicht telepathisch zu blockieren, wie normale Erinnerungen.
Andrea sprach weiter: „Du hast die Autorin ausfindig gemacht und wolltest heute nach Feierabend in die Praxis gehen, in der sie arbeitet. Da wolltest du sie zur Rede stellen. Danach wollten wir uns drüben am Schnellimbiss treffen.“
Franzi griff sich an die Schläfen. Langsam kamen einige Teile der Erinnerung zurück, aber vollkommen durcheinander.
„Als du nicht aufgetaucht bist, fing ich an mir Sorgen zu machen“, redete Andrea weiter, „Dann habe ich gesehen, wie du über den Platz gegangen bist. Ich habe dich gerufen, aber du warst wie in Trance. Und auf einmal hast du dich umgesehen, als ob du nicht wüsstest, wo du bist.“
Franzi legte das Buch zwischen sich und Andrea auf die Bank und hielt sich den Kopf mit beiden Händen fest.
„Das glaubst du mir nie“, sagte sie leise.
Andrea wartete und als Franzi anscheinend nicht weiterreden wollte, sagte sie: „Egal, was du mir erzählst, alles ist besser, als wenn sie dich unter Drogen gesetzt hat.“
Franzi sah ihre Freundin an.
„Vielleicht hat man das. Das, woran ich mich erinnere, ergibt jedenfalls keinen Sinn.“
Sie erzählte Andrea, woran sie sich erinnerte. Sie war in die Praxis gegangen, hatte die Frau wiedererkannt, die vor einer Weile bei ihr am Tresen stand und wieder verschwand. Sie hatte sie damals nur ein paar Sekunden angesehen und war wieder gegangen.
Als sie die Frau wiedererkannte, wurde sie richtig wütend, schrie herum und wollte ihr das Buch um die Ohren hauen, aber irgendwer war noch da.
Ein Mann, da war sie sich sicher. Er hatte sie angesprochen. Dann war sie auf dem Alexanderplatz wieder wachgeworden.
Sie sah zu ihrer Freundin: „Was war das? Ich habe da nichts gegessen, nichts getrunken. Auch ein Stechen oder so habe ich nicht gemerkt, die können mir keine Drogen gegeben haben!“
Andrea wusste auch keine Antwort. Aber irgendetwas war passiert, so viel stand mal fest.
„Komm!“, sagte Andrea und zerrte Franzi auf die Füße, „Ich weiß nicht, was da los ist, aber damit kommen die nicht durch!“
„Was hast du vor?“, fragte Franzi. Sie wollte einfach nur noch nach Hause.
Andrea ließ keinerlei Widerspruch zu: „Wir gehen jetzt zur Polizei!“
Maulend ließ sich Franzi hinterherziehen. Der Weg war nicht weit, die Wache war auf der anderen Seite des Platzes. Am Brunnen der Völkerfreundschaft vorbei und schon standen sie davor. Ein hell beleuchteter grauer Kasten. Nicht gerade eine architektonische Schönheit, aber praktisch. Auf dem dicken blauen Streifen, der den Kasten oben umgab, stand in weißen Buchstaben „POLIZEI“ und darunter „Wache am Alexanderplatz“.
Andrea schob Franzi hinein und schubste sie sanft auf einen der Plastikstühle. Der Polizist am Empfangstresen sah gelangweilt von seiner Zeitung hoch.
„Ich glaube, jemand hat meine Freundin eben unter Drogen gesetzt“, begann Andrea.
Der Beamte legte seine Zeitung weg und bat sie, einen Moment zu warten. Er vermutete eine Vergewaltigung und holte sofort eine Beamtin aus dem Nebenraum, die auf solche Fälle spezialisiert war.
Die Beamtin führte die anderen beiden Frauen in ein kleines Zimmer und ließ sich in Ruhe alles erzählen.
Eine Psychologin, die für solche Fälle in Bereitschaft war, kam wenige Minuten später auf der Wache an und gesellte sich zu ihnen. Auch eine Gerichtsmedizinerin kam später noch hinzu. Beide kamen zu dem Schluss, dass Franzi nicht vergewaltigt wurde.
Aber beide kamen auch zu dem Schluss, dass irgendetwas vorgefallen war, was sich momentan nicht erklären ließ. Der toxikologische Befund war genauso negativ, wie der Schnelltest, den Andrea vorher gemacht hatte. Drogen konnte man ausschließen.
Die Psychologin hatte schon von der Praxis gehört.
„Die haben eine beeindruckende Erfolgsrate.“, meinte sie.
Die Psychiaterin kannte sie sogar persönlich. Den Mann nur vom Hören. Sie suchte ein Foto heraus und zeigte es Franzi.
„War das der Mann, der Sie angesprochen hat?“, wollte sie wissen.
Franzi schüttelte den Kopf: „Nein, definitiv nicht! Der Mann sah aus, wie ein Weihnachtsmann in Rente. Langer Bart, fast weiße Haare.“
Die Psychologin holte ein weiteres Bild aus der Akte.
„Dieser hier?“
„Ja, genau der!“, Franzi nickte langsam und zeigte dann auf eine andere Stelle des Fotos, „Und das ist die Frau, die ich zur Rede stellen wollte!“
Die Polizeibeamtin hatte sich bisher im Hintergrund gehalten, aber jetzt schaltete sie sich wieder ein: „Wegen was eigentlich?“
Franzi stockte. Sie hatte es wieder vergessen.
„Wegen“, begann sie und brach wieder ab, „Weil“
Sie sah hilfesuchend zu Andrea.
„Sie wollte ein Buch schreiben. Sie hatte noch nicht angefangen, das wollte sie im Urlaub machen. Aber plötzlich erschien genau dieses Buch. Geschrieben von dieser Frau dort.“
Die Beamtin öffnete die Tür und sagte: „Ich bin gleich zurück!“
Als sie draußen war, verabschiedete sich die Gerichtsmedizinerin ebenfalls, da ihre Dienste nicht mehr benötigt wurden. Die Psychologin redete wieder mit Franzi und versuchte, weitere Erinnerungen zu wecken.
Es waren etwa 20 Minuten vergangen, als die Polizistin wieder hereinkam. Ein Mann im schwarzen Anzug begleitete sie.
„Das ist Hauptkommissar Keiler“, stellte sie ihn vor.
Der Mann nickte und stellte sich selbst auch noch einmal vor, als wäre er am Telefon: „Keiler, LKA“
Er drehte sich zur Tür und rief hindurch: „Bitte mal fünf Kaffee und in einer Stunde noch mal fünf!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er die Tür und setzte sich hin. Die Psychologin ignorierte er völlig. Sie ihn allerdings ebenso.
Keiler legte eine Hand auf den Tisch zwischen sich und Franzi, gerade so in ihrem Sichtbereich. Das brachte sie dazu, den Blick zu heben und ihn anzuschauen.
„Sie sind nicht die erste, der so etwas passiert“, sagte er ohne weitere Einleitung.
Franzi schaute ihn verwirrt an: „Sie wissen, was los ist?“
„Wir haben eine Theorie“, erwiderte er, „Ihre Erinnerungen sind in der falschen Reihenfolge? Und Sie vergessen alles nach ein paar Minuten wieder? Sie fühlen sich müde?“
Franzi nickte bei jeder Frage.
Keiler redete weiter: „Wir wissen noch nicht, wie es passiert. Strahlung, Mikrowellen, Geräusche, irgendwas anderes. Jedenfalls wurde ihr Gedächtnis gelöscht.“
Franzi faltete die Finger, um irgendwas zu haben, woran sie sich festhalten konnte. Alles schien sich zu drehen.
Kommissar Keiler kümmerte sich nicht darum und verhörte sie weiter.
„Warum waren Sie da? Was wollten Sie?“
Franzi sah hilfesuchend zu Andrea, doch Keiler fuhr dazwischen: „Hier bin ich! Antworten Sie auf meine Fragen!“
Mit Tränen in den Augen begann Franzi zu reden und schilderte, was sie wusste.
„Wie lange waren Sie in dem Raum?“
„Ungefähr zwei Stu…“
„Wann sind Sie dort angekommen?“
„Was? Oh, das war so gegen fünf…“
„Haben Sie die Tür mit der rechten oder der linken Hand geöffnet?“
In Franzi stieg allmählich die Wut hoch. Wieso ließ er sie nicht wenigstens ausreden, bevor er die nächste Frage stellte?
Andrea ging dazwischen: „Was soll das? Ist sie jetzt eine Verdächtige, oder was?“
Der Kommissar sah sie an: „Raus!“
„Nein!“, rief Franzi da.
Andrea war ihre einzige Stütze in diesem Augenblick und sie wollte nicht allein sein. Sie wurde panisch und zugleich rasend vor Wut. Plötzlich erinnerte sie sich an alles.
Der Kommissar sah in ihre Augen, griff in seine Tasche und holte ein Diktiergerät heraus, das er einschaltete, während Franzi zu reden anfing.
„Ich hatte das Buch schreiben wollen und dann habe ich es im Internet gefunden. Ich habe es bestellt und gelesen und es war MEIN Buch! Diese Steffi hatte sogar die Praxisanordnung beschrieben, die ich im Puppenhaus meiner Tochter zusammengestellt hatte. Alles war genau so, wie ich es veröffentlichen wollte! Also habe ich nach der Frau gesucht und wollte sie zur Rede stellen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Mit der rechten Hand!“
Keiler schmunzelte etwas. Die Frage blieb immer hängen. Franzi redete weiter ohne Punkt und Komma.
„Ich habe sie angebrüllt und wollte von ihr wissen, wie sie das wissen konnte. Ich fragte sie, ob sie meine Gedanken gelesen hat, als sie vor ein paar Wochen bei uns in der Arztpraxis war. Sie war ja nur kurz drin, hat mich ein paar Sekunden angeschaut, dann ging sie raus und schrieb dieses verdammte Buch! Auf einmal quatschte mich dieser Weihnachtsmann von hinten an und sagte, ich soll mich beruhigen. Dann wollte ich den zusammenfalten. Ich konnte mich auf einmal nicht mehr bewegen. Ich habe nur noch seine Augen gesehen. Ich hörte ihn reden, aber die Stimme kam von überall.“
Die Psychologin und der Kommissar tauschen einen kurzen Blick. So viele Details waren neu. Franzi sprach unterdessen weiter.
„Er sagte, ich soll vergessen, warum ich da war. Und auf einmal wusste ich es nicht mehr. Dann sagte er, ich sollte vergessen, dass ich da war und zeigte raus. Ich sollte gehen. Also ging ich. Ich ging genau zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte. Dann hatte ich vergessen, warum ich da war. Aber ich wusste, ich hatte mir ein Buch gekauft. Und dann kam Andrea. Ich wollte das Buch lesen. Oder habe ich es schon gelesen?“
Kommissar Keiler hob die Hand: „Danke, das reicht.“
An Andrea gewandt sagte er: „Ich musste sie wütend machen. Nach unserer Erfahrung können starke Gefühle den Gedächtnisverlust kurz aufheben. Aber, wie Sie sehen“, er wies mit der Hand auf Franzi, „nicht für lange. Am Ende geriet wieder alles durcheinander.“
Die Psychologin führte Andrea und Franzi sanft zur Tür und versprach, dass sie sich um alles kümmern würden. An der Tür der Wache hielt sie Andrea noch einmal kurz auf.
„Nehmen Sie ihr das Buch am besten weg. Wir wissen noch nicht, ob es ihr schaden kann, wenn die Erinnerungen immer wiederkommen und wieder verschwinden. Vielleicht vergisst sie für eine Weile das Buch komplett.“
Sie gab Andrea noch die Karte einer Therapeutin, die sich um Franzi kümmern sollte, damit sie dieses Erlebnis verarbeiten kann, dann ging sie wieder in das Büro zurück, in dem der Kommissar saß und sich gerade die Aufnahme noch einmal anhörte.
Keiler sah hoch und hob entschuldigend die Augenbrauen. „Tut mir leid, Mila!“
Sie wischte die Entschuldigung weg: „Sie wird sich sowieso nicht daran erinnern, ob du mich nun begrüßt hast oder nicht.“
Sie griff zum Telefon und wählte eine ziemlich lange Nummer. Als sich am anderen Ende jemand meldete, sagte sie: „Dr. Siewert hier. Wir haben einen neuen Fall.“
Sie legte auf und setzte sich zu Keiler an den Tisch: „Also, Franz. Was meinst du?“
Franz Keiler nestelte an dem Aufnahmegerät herum, während er überlegte. „So detailliert. Das ist eine völlig neue Dimension.“
„Wir hatten auch noch nie einen Fall, der so frisch war.“, entgegnete die Psychologin.
Doktor Mila Siewert war Fachärztin für Psychologie an der Charité in Berlin. Sie forschte seit einigen Jahren auf dem Gebiet der übersinnlichen Wahrnehmung. Franz Keiler ermittelte in einem ähnlichen Gebiet für das Landeskriminalamt Berlin. So waren sich die beiden schon häufiger begegnet.
Bisher waren alle Opfer jedoch schon längst wieder vom Alltag eingeholt, wenn die Befragung begann. Aber dieses Mal hatten sie einen ganz frischen Fall. Quasi ein Opfer direkt vom Tatort weggefischt.
Keiler wiederholte: „Er sah ihr in die Augen und befahl ihr, zu vergessen, warum sie da war. Das könnte noch Hypnose gewesen sein.“
Dr. Siewert nickte. „Aber die Stimme kam von überall her. Oder besser gesagt, sie hörte sie nur in ihrem Kopf.“
Der Kommissar klopfte mit dem Finger auf den Tisch. Wieder und wieder rollte er das, was er an diesem Abend gehört hatte, im Gedächtnis hin und her. Er suchte nach irgendeiner anderen Erklärung, aber keine, die ihm einfiel, passte zu allen Fakten.
Schließlich drehte er den Kopf zu Dr. Siewert und sagte, was sie beide dachten: „Telepathie.“
„Und zwar beide. Mindestens“, ergänzte die Ärztin, „Die Frau hat sich das Buch aus dem Kopf des Opfers geholt und der Mann hat sie heute manipuliert und sie alles wieder vergessen lassen.“
Gemeinsam schrieben sie die Berichte, einen kurzen, oberflächlichen für die Wache und einen sehr ausführlichen für die Abteilung LKA-ESP. Eine Abteilung, die offiziell gar nicht existierte.
Der wachhabende Beamte nahm den Bericht entgegen und las: „Frau beim Betreten eines Ladengeschäfts mit Tür kollidiert, spezifischer Gedächtnisverlust, keine Anzeichen für Gewaltdelikte.“
Er schaute den Kommissar und die Psychologin an: „Und dafür braucht es einen Seelenklempner, einen LKA-Ermittler und eine Gerichtsmedizinerin?“
Kommissar Keiler zuckte mit den Schultern: „Lieber einmal zu viel ermitteln, als ein Vergewaltigungsopfer unerkannt lassen, oder?“
„Na, meinetwegen“, erwiderte der Beamte und heftete den Bericht weg.
Seine beiden Besucher verabschiedeten sich und verließen die Wache gemeinsam. Sie sahen sich noch um, ob sie irgendwo die beiden Frauen sahen, aber sie waren schon weg. Auch das Auto der Gerichtsmedizinerin war nicht mehr zu sehen.
„Noch einen Kaffee?“, fragte Keiler.
Dr. Siewert wollte schon ablehnen, doch dann sah sie hinter dem Brunnen, dass in der Praxis noch Licht an war, in der sie die beiden Telepathen vermuteten.
„Ich habe eine Idee“, meinte sie, „Danach können wir gern noch einen Kaffee trinken.“
Sie erklärte Keiler ihre Idee und während sie gemeinsam über den Alexanderplatz gingen, filmte sie sich selbst.
„Ich gehe jetzt zu dieser Therapeutenpraxis und werde die Theorie austesten. Wir werden sehen, ob sie mein Gedächtnis löschen oder irgendwelche Ausreden liefern.“
Sie schickte das Video an Kommissar Keiler, der inzwischen einige Meter weit entfernt war. Er postierte sich so, dass er den Eingang der Praxis im Blick hatte, aber nicht auffällig war. Als Mila Siewert die Tür öffnete, zündete er sich eine Zigarette an.
Die Psychologin betrat den Empfangsbereich und erkannte den alten Mann. Die Frau war nicht mehr da.
„Tut mir leid, wir haben schon geschlossen“, sagte der Mann. Er sah wirklich aus, wie ein Weihnachtsmann.
‚Oder wie ein Zauberer aus einem Disney-Film.‘, dachte Dr. Siewert, als sie anfing zu sprechen: „Siewert, LKA.“
Der Kriminalhauptkommissar richtete unauffällig ein Messgerät für verschiedenste elektromagnetische Strahlungen auf die Praxis. Es blieb ruhig. Keine Schallwaffen, keine seltsamen Geräte, die das Gehirn beeinflussen könnten. Nach wenigen Minuten ging die Tür auf und seine Kollegin kam heraus.
Sie hatten vereinbart, dass sie direkt auf ihn zugehen sollte. Sie schien ihn jedoch gar nicht zu sehen. Ihr Blick war stur geradeaus gerichtet und sie ging wie in Trance an ihm vorbei.
„Dr. Siewert“, rief er, als sie fast neben ihm war.
Sie zuckte zusammen und sah ihn an: „Oh! Hallo, Herr Keiler!“
Er winkte ab und zog sein Handy, rief das Video auf und hielt es ihr hin.
Mit dem Handy in der Hand schaute Dr. Siewert verwirrt auf das Video. Sie sah sich selbst, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, das Video aufgenommen zu haben. Doch langsam kam die Erinnerung wieder.
Der bärtige alte Mann hatte bei ihr offenbar die Erinnerungen nicht ganz so sorgfältig gelöscht.
Anders, als die junge Frau ein paar Stunden früher, konnte sich Dr. Siewert mehr und mehr daran erinnern. Sie schaute zu Keiler.
„Kaffee!“
Keiler nickte und sie gingen in eine nahegelegene Bar.
Dort schilderte sie ihm alles. Wie sie die Räume betreten hatte, sich kurz vorstellte und von der Frau erzählte, die ständig ihr Gedächtnis verlor, seit sie bei ihm war und wie der alte Mann ihr plötzlich direkt in die Augen starrte.
„Es fühlte sich für einen Moment an, als hätte ich Sonnenbrand im Gesicht“, schilderte sie gerade, als Keiler mit dem zweiten Paar Kaffeetassen kam, „Dann hörte ich seine Stimme tatsächlich IN meinem Kopf. Er bewegte die Lippen nicht, aber ich hörte ihn und ich musste ihm einfach gehorchen.“
„Was hat er denn gesagt? Oder gedacht? Na, Sie verstehen schon.“
Siewert nickte und dachte angestrengt nach.
„Hör mir zu! Es ist nichts passiert. Du warst nie hier. Das, was du mir erzählt hast, ist nie passiert. Vergiss, warum du hier warst! Vergiss, dass du hier warst! Vergiss die Frau!“
Keiler grinste, als ihm etwas klar wurde: „Er wusste nicht, dass bei uns zwei Frauen waren. Und er wusste nichts von mir. Deshalb waren seine Befehle unvollständig.“
Dr. Siewert sah ihn an und war beeindruckt: „Sie sollten vielleicht in die Psychologie wechseln!“
Keiler grinste noch breiter.
„Aber Sie haben Recht. Ihm fehlten Details und so konnte mein Gehirn den Rest der Geschichte wieder zusammensetzen. Pars pro toto.“
„Genau“, sagte Keiler, „Und dieser Passport war unser Trumpf. Jetzt haben wir endlich was zum Ermitteln!“
Dr. Siewert lachte.
Am nächsten Morgen stand Alexander kurz nach fünf Uhr auf. Josephine hatte sich aus Cartagena nicht gemeldet. Von Mariana wusste er, dass sie total übermüdet sein musste und wahrscheinlich den Großteil des Fluges geschlafen hatte.
Am Flughafen Schiphol jedoch musste sie umsteigen. Die KLM-Maschine flog irgendwann wieder zurück. Der Weiterflug nach Berlin sollte mit der Lufthansa sein.
Er schaute auf die Webseite des Flughafens Schiphol. Touchdown, der Flug war gerade gelandet. 3 Stunden Aufenthalt in Amsterdam, dann startete die Maschine nach Berlin. Anderthalb Stunden später Landung auf dem BER.
Er war so aufgeregt, wie seit der Geburt seines Sohnes nicht mehr. Adriano hingegen war die Ruhe weg. Um nicht zu sagen: Der schlief einfach weiter.
Alexander rasierte sich so gründlich, dass auch nicht ein einziges Härchen mehr dort war, wo es nicht sein sollte. Das Handy immer dabei. Als er gerade das Frühstück machte, piepte sein Handy: Das Herz, das er Josephine geschickt hatte, war zugestellt worden.
Er nahm das Handy und schrieb ihr eine Nachricht: „Willkommen in Europa!“
Er überlegte kurz. Gateway, Kofferband, Zoll. Er vermutete, dass er noch etwa eine halbe Stunde hatte, bevor Josephine Gelegenheit hatte, auf ihr Handy zu schauen. Also ging er duschen.
Gerade fertig und noch nicht einmal trocken schnappte er sich sein Handy, das sich eben mit ihrem Klingelton gemeldet hatte. Eine Serie von Emojis, Küsse, Herzen und ähnliches.
Er wollte sie gerade anrufen, als von ihr eine Nachricht kam.
„Ich war gerade beim Zoll und gehe jetzt erst einmal was essen. Te amo mucho“, schrieb sie ihm.
„Guten Appetit, Schatz“, antwortete er ihr, genau wissend, dass sie beim Essen das Handy ignorierte, „Yo también te amo!“
Als sie etwas gegessen hatte, tauschten die beiden noch ein paar Nachrichten aus, aber sie hatten sich nicht sehr viel zu sagen. In wenigen Stunden würden sie sich endlich in den Armen liegen und wieder miteinander reden können.
„Guten Flug“, wünschte er, als sie ihm schrieb, dass sie im nächsten Flieger sitzt. Er schaute auf die Uhr. Noch anderthalb Stunden, bis zum Touchdown.
‚Los geht’s‘, dachte er und verließ die Wohnung.
Am Flughafen angekommen, suchte er einen Parkplatz. Wieder schaute er auf die Uhr. Noch 20 Minuten.
Er ging ins Gate und hielt sich dieses Mal nicht lange mit Höflichkeiten und Diskussionen auf. Jeder Beamte, der ihn aufhalten wollte, wurde von ihm telepathisch weggeschickt.
Als er einen guten Platz zum Warten gefunden hatte, ging er zum Gate und fotografierte den Weg zum Kofferband. Dann ging er zum Kofferband und fotografierte die Stelle, an der er stehen würde. Beide Fotos schickte er Josephine. Im letzten hatte er einen roten Kreis eingezeichnet, um seine Stelle zu markieren.
Als er wieder aufschaute, hatte sich jedoch genau dort gerade eine Menschengruppe versammelt.
Alexander fluchte leise, als er auf sie zuging. Er entdeckte zwei Beamte der Bundespolizei in der Nähe und griff nach ihren Gedanken. Sofort setzten sie sich in Bewegung und forderten die Gruppe auf, den Bereich zu räumen.
Zufrieden bezog er Aufstellung und wartete auf seine Angebetete.
‚Rotzfrech!‘, hörte er die gedankliche Stimme von Magdalena.
Er sah sich um und fand sie. Ein paar Meter weit weg stand sie mit Merlin und wartete auf den Ermittler.
Alexander grinste unschuldig und antwortete: ‚Rumlungern ist sowieso schlecht für das Image der Stadt.‘
Merlin machte eine schneidende Bewegung mit der Hand. Der Flieger war gerade gelandet und keiner der drei wollte riskieren, den Ermittler auf komische Gedanken zu bringen.
Beide kamen ziemlich kurz nacheinander. Zuerst kam Josephine mit ihrem Rollkoffer und den großen Rucksack aus der Abfertigung, dann ein älteres Ehepaar, das aus dem Urlaub zurück kam, dahinter lief der Ermittler. Ein hagerer Mann, der aussah, als hätte ihm noch niemand gesagt, dass Sonnenlicht gut für ihn sei. Sein Blick war starr auf Josephines Hinterkopf gerichtet.
‚Der scannt sie!‘, dachte Alexander und schaute kurz zu Magdalena und Merlin. Magdalena scannte Josephine ebenfalls, Merlin jedoch schloss kurz die Augen und projizierte das Leuchtfeuer. Der Ermittler fühlte es und sah die beiden. Er ließ Josephine unbehelligt weitergehen und drehte sich zu seinem Empfangskomitee.
Alexander blendete den Ermittler aus und konzentrierte sich ganz auf diesen heißblütigen Engel, welcher dort mit müdem, aber glücklichen Lächeln auf ihn zukam.
Er breitete die Arme aus, als sie die Absperrung verließ und Josephine sprang hinein. Ganz wie in Hollywood drehte er sich einmal mit ihr im Kreis, bevor er sie innig küsste. Ihre Arme schlagen sich um seinen Hals und beide hätten die Ewigkeit genau so verbringen können.
Schließlich lösten sie sich und schauten sich verliebt an.
„Willkommen zu Hause!“, flüsterte Alexander.
Josephine lächelte mit jeder Zelle ihres Körpers: „Ich bin wieder da!“, flüsterte sie zurück.
Beide standen noch ein paar Minuten in den Armen des jeweils anderen und hielten sich einfach nur fest. Zwei Jahre lang waren sie getrennt gewesen. Endlich hatten sie sich wieder!
Ein Beamter des Gesundheitsamts hatte schon ein Auge auf die beiden geworfen, war aber zu langsam gewesen, um die Begrüßung zu verhindern.
Alexander spürte, was er wollte und drehte sich zu ihm um, als sich dieser ihnen mit energischen Schritten näherte. Bevor der Beamte etwas sagen konnte, hob Alexander die Hand.
„Sie wird bei mir in Quarantäne sein.“, sagte er und reichte dem Beamten das vorbereitete Dokument.
Völlig verdattert studierte er das Schriftstück. Namen, Adresse, Herkunft, Dauer, Zweck, alles war drauf.
„Einen schönen Tag noch, die Herrschaften“, sagte er schließlich und zog von dannen.
Josephine und Alexander machten sich auf den Weg zum Ausgang, nachdem letzterer ihr den Koffer und den Rucksack gemopst hatte.
„Die hast du lange genug getragen“, erklärte er ihr – noch auf Spanisch.
„Danke!“, erwiderte sie lächelnd – schon auf Deutsch.
Als sie an Merlin, Magdalena und dem Ermittler vorbeigingen, drehte sich letzterer zu ihnen um und wollte sie gerade ansprechen. Alexander legte seine finsterste Miene auf und schien ihm allein mit den Augen mitzuteilen „Wenn du uns jetzt störst, fress‘ ich dich auf!“
Der Ermittler drehte sich wieder zu den anderen beiden um und fragte Merlin: „Wer ist dieser?“
Merlin sah dem Paar hinterher und antwortete: „Alexander Braun, Hoher Telepath und seine Verlobte.“
Auf Merlins Blick hin ergänzte Magdalena: „Laut erstem Scan eine latente Stufe 1, sehr stark, potenziell eine Hohe.“
Merlin fügte noch an: „Der Sohn des Mannes ist ebenfalls Stufe 1 und wird demnächst ein Hoher.“
„Drei Hohe?“, fragte der Ermittler.
Es war nicht zu deuten, ob ihn das wirklich interessierte, ob es ihm völlig egal war oder er sie am liebsten um Autogramme bitten würde. Seine Stimme war genauso monoton und ausdruckslos, wie sein Gesicht.
„Ich würde die Frau sogar als latente Hohe einstufen. Sie müssen sie kontaktieren und ausbilden.“, stellte er fest.
Merlin schloss aus der Unkenntnis des Ermittlers, dass weder die latente Telepathin noch der Hohe der Grund für seine Anwesenheit waren. Er machte eine einladende Geste in Richtung Ausgang und das Trio setzte sich in Bewegung.
„Ist etwas vorgefallen, was Ihrer Anwesenheit bedarf oder sind Sie zum Vergnügen hier?“, fragte Merlin.
Der Ermittler ignorierte den Seitenhieb. Er war ein Geistlicher, damit war Vergnügen für ihn ein Synonym für Sünde.
‚Sie haben ein Problem‘, antwortete er telepathisch, ‚Eine Ihrer Akolythen hat ihre Kräfte unachtsam eingesetzt und die Aufdeckung riskiert.‘
Merlin und Magdalena tauschten Blicke aus, bevor Merlin antwortete: ‚Ich wusste nicht, dass sie für diesen kleinen Unfall bestraft werden muss.‘
Der Ermittler blieb stehen und sah Merlin mit durchdringendem Blick an: ‚Ich bin nicht hier, um zu bestrafen. Ich bin hier, um das Problem zu erfassen, sein Ausmaß zu ermitteln und es zu lösen.‘
Den beiden Anführern des Engelszirkels lief es kalt den Rücken herunter. Ein Problem lösen, das bedeutete, alles Wissen über die Telepathen musste ausgelöscht werden. Auf die eine oder andere Art.
Sie hatten von einem Fall in Paris gehört, als ein Kandidat für die Assemblée Nationale, das französische Unterhaus, kurz davor war, den Sirenenzirkel aufzudecken, wie der Pariser Zirkel hieß. Ein Ermittler traf ein und löschte kurzerhand sein Gedächtnis komplett aus. Auch die Erinnerungen seiner Mitarbeiter und aller Beteiligten wurden ausgelöscht.
Als der Ermittler die Stadt wieder verließ, waren 23 Personen, alles erwachsene Frauen und Männer, nicht einmal mehr in der Lage zu sprechen. Der Fall wurde stillschweigend vertuscht. Der Staatsschutz ermittelte und kam zu dem Schluss, dass eine Wahlparty mit Drogen aus dem Ruder gelaufen war. Die offizielle Version lautete, dass alle 23 Personen durch einen illegalen Cocktail verschiedener Amphetamine ihr Gehirn so stark beschädigt hatten, dass sie alle Erinnerungen verloren und keine neuen mehr abspeichern konnten.
Bis zum heutigen Tage sind alle 23 in der Psychiatrie. Keiner von ihnen hat jemals wieder das Sprechen erlernt oder auch nur das Gehen.
Das verstand die Kirche unter „ein Problem lösen“. Merlin fragte sich, ob Steffi und der armen Frau, die am Vortag bei ihnen war, dasselbe Schicksal drohte.
Magdalena wandte sich an den Ermittler, während sie weitergingen: ‚Wie geht es nun weiter, Herr…?‘
Der Ermittler antwortete: ‚Sie können mich‘, er überlegte kurz, ‚John nennen. Zunächst werde ich ermitteln, wie groß der Schaden ist, wie viele Personen etwas wissen. Wenn man den Schaden eindämmen kann, wird er dann eingedämmt. Ansonsten wird er bereinigt.‘
Sie fuhren zum Amtssitz des Erzbischofs, bei dem John während seines Aufenthalts wohnen würde. Gemäß dem Protokoll würde sich der Ermittler zunächst beim Diözesanbischof vorstellen und seinen offiziellen Auftrag präsentieren. Am nächsten Tag würde er dann mit dem inoffiziellen Auftrag beginnen.
Unterwegs versuchten Merlin und Magdalena noch mehrere Male, ihn in Gespräche zu verwickeln, jedoch konnten sie keine weiteren Informationen erhalten. Sie brachten ihn zur Kathedrale und verabschiedeten sich. Anschließend fuhren sie zum Guardian, dem sie persönlich Bericht erstatten wollten. Sie fanden ihn im Garten der Domkirche und berichteten ihm alles, was in den letzten zwei Tagen passiert war.
Vor dem Flughafen verstaute Alexander das Gepäck im Auto und hielt Josephine die Tür auf, damit sie einsteigen konnte. Er konnte nicht aufhören zu lächeln, als er das Auto umrundete und ebenfalls einstieg. Er reichte ihr ein kleines Büchlein, in dem auf Spanisch stand, wie die Corona-Pandemie in Deutschland gemanagt wurde. Weniger zu ihrer Information, als viel mehr, um sie zu beschäftigen und abzulenken. Seit einem Unfall, den sie als Kind hatte, reagierte sie in Autos immer panisch.
Nachdem er sie auf zwei besonders interessante Punkte hingewiesen hatte, fuhr er langsam los. Er brachte seine Verlobte nach Hause.
‚Wir kommen!‘, sandte er seine Gedanken triumphierend an Adriano.
Als sie etwa 40 Minuten später ankamen, war Josephine eingeschlafen. Das Büchlein hatte sie noch immer in der Hand.
Vorsichtig parkte Alexander das Auto, zitierte Adriano nach unten, dem er das Gepäck in die Hände drückte und weckte dann ganz behutsam Josephine. Er half ihr aus dem Auto und die Treppen hoch.
„Vorsicht, kleiner Tollpatsch!“, sagte er leise, als sie über die erste Stufe stolperte.
Die Stufen in Deutschland hatten eine andere Standardhöhe, als in Kolumbien und Josephine musste sich erst wieder umgewöhnen.
Als sie schließlich in der kleinen Plattenbauwohnung angekommen waren, begrüßte Josephine ihren Stiefsohn liebevoll.
„Du bist ja so sehr gewachsen!“, beschwerte sie sich und stellte sich zwischen die beiden.
Sie schaute hin und her. Alexander und Adriano waren ziemlich genau gleich groß.
„Ich fühl mich wie ein Hobbit zwischen euch beiden!“, nuschelte sie. Sie war fast 30 Zentimeter kleiner als die zwei Männer.
Adriano grinste, Alexander gab ihr einen Kuss auf den Kopf und flüsterte: „Aber du hast dafür die größte Klappe von uns allen!“
Damit konnte sie durchaus leben. Sie trippelte von einem Bein aufs andere und Adriano ging den Flur hinunter, öffnete die Tür zum Badezimmer und ging dann in sein eigenes Zimmer. Alexander gab ihr einen leichten Schubs und ging selbst in die Küche, wo er für Josephine einen kleinen Snack und Tee vorbereitete.
Als Josephine wieder aus dem Bad kam, kam Alexander gerade mit einem Tablett aus der Küche. Sie schaute ihn verwirrt an, denn er ging in Richtung Schlafzimmer.
„Komm!“, sagte er lächelnd und sie watschelte hinterher.
Er drückte sie sanft aufs Bett, nachdem er das Tablett auf dem Nachttisch abgestellt hatte, zog ihr die Hose aus und deckte sie zu. Dann legte er sich neben sie, zog sie in seine Arme und hielt ihr ein Stück Obst vor die Lippen.
Josephine meckerte zwar, dass sie kein Kind sei, aber trotzdem schnappte sie sich das Obst mit den Zähnen, gab ihm einen Kuss und kuschelte sich dann ein. Sie fühlte sich einfach rundum glücklich, denn er schien ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Auf dem Tablett gab es kleingeschnittene Äpfel, Mandarinenstückchen, Paprikastreifen, klitzekleine Tomaten, Gurkenscheiben, Brot mit Käse und Wurst, daneben stand eine Tasse Tee und ein Glas Saft.
Jetzt fühlte sie sich angekommen. Endlich daheim!
Sie kuschelte sich noch enger an Alexander und erzählte ihm von dem Flug, während sie ihren Hunger stillte. Er hörte ihr einfach zu und küsste sie, wenn sie grad mal nichts sagte.
Es dauerte aber nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Sie hatte eine Reise von 36 Stunden hinter sich. Alexander gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn, deckte sie zu und verließ leise das Schlafzimmer.
Adriano kam ins Wohnzimmer und sagte: „Okay, du hattest Recht. Sie braucht erstmal Schlaf.“
Alexander nickte: „Kein Wunder nach dem langen Flug. Sie hat einen Jetlag von hier bis nach China.“
Die kommende Woche verbrachten alle drei als Familie, mit allem, was dazugehört. Spieleabende, gemeinsames Kochen, nächtliche Telefonate mit der Familie in Kolumbien.
Adriano lernte mit Josephines Hilfe für die Schule und half ihr im Gegenzug dabei, ihr alltägliches Deutsch zu verbessern.
Alexander war der glücklichste Mensch der Welt, hatte er doch endlich eine vollständige, intakte Familie. Die Welt war in Ordnung für ihn. Der Höhepunkt war Adrianos Geburtstag, den sie so feierten, wie sich alle drei es schon immer geträumt hatten.