Читать книгу Telepathenaufstand - Sören Kalmarczyk - Страница 4
ОглавлениеJanuar 2022
Seit fast einem Monat wurden Alexander und Adriano nun zu Telepathen ausgebildet. Sie hatten Merlin und Steffi kennen gelernt und noch ein paar andere Telepathen aus dem Engelszirkel. Die Regeln der Verschwiegenheit waren ihnen eingebläut worden und sie hatten zum Jahreswechsel ihre erste Einstufung erhalten.
Alexander war ein Hoher Telepath, wie Merlin es schon vermutet hatte. Adriano war ein Stufe 2 Telepath. Für einen Jugendlichen von knapp 16 Jahren war das eine außergewöhnlich hohe Einstufung. Merlin rechnete damit, dass er noch in diesem Jahr Stufe 1 erreichen würde und spätestens in zwei Jahren ebenfalls ein Hoher wird.
Jeden Sonntag gingen beide „in die Kirche“, wie sie die Boutique am Alexanderplatz nannten, in der sie ausgebildet wurden. Zusätzlich wurden sie zweimal pro Woche telepathisch unterrichtet. Den Schock der Anfangszeit hatten sie ziemlich schnell überwunden.
Alexander fasste ziemlich schnell Vertrauen zu den Leuten, was nicht zuletzt daran lag, dass er nicht nur Psychotherapie, sondern auch forensische Psychiatrie studiert hatte. Er war das, was man in den USA einen Profiler nannte und hatte die anderen Zirkelmitglieder ziemlich schnell analysiert. Auf Basis dieses Vertrauens erzählte er Merlin und Magdalena von seiner Verlobten. Er hatte den Verdacht, dass auch sie telepathisch veranlagt war. Allerdings wollte er nicht, dass Josephine in Kolumbien überprüft und ausgebildet wird. Das Kontaktverbot zwischen den einzelnen Zirkeln hätte sonst verhindert, dass sie sich jemals wiedersehen.
Merlin erklärte ihm: „Solange du ihr gegenüber nichts davon erwähnst und ihre Kräfte nicht zutage treten, können wir das geheim halten, bis sie hier eintrifft. Dann können wir sie scannen und, falls sie Telepathin ist, auch ausbilden.“
Alexander fühlte sich unwohl damit, so etwas vor ihr geheim zu halten, aber er verstand die Notwendigkeit. Hätte er gewusst, dass sie ihm etwas ganz ähnliches verschwieg, wäre es ihm sicher leichter gefallen.
Steffi bemerkte sein Unwohlsein: „Wann kommt sie denn her?“
„Nächsten Monat. Kurz vor Adrianos Geburtstag, wenn alles gut geht.“
„Dann sieh es doch wie eine Überraschung für sie.“
„Sie hasst Überraschungen!“
Steffi rollte mit den Augen. „Dann sei einfach mal ein typischer Deutscher: Halte dich an die Regeln!“
„Jawohl!“, grunzte Alexander.
Steffi drehte sich zu Adriano um, der jedoch gleich sagte: „Ich rede sowieso nur dreimal im Jahr mit ihr, wenn sie nicht hier ist.“
„Dann wäre das ja geklärt“, stellte Merlin fest und widmete sich wieder der Ausbildung der beiden.
„Der Schild dient nicht nur dem Schutz vor Angriffen oder versehentlichen Emanationen anderer Telepathen“, erklärte er, „sondern umgekehrt auch dem Schutz anderer vor euren Fähigkeiten.“
Die Übung, die beide heute absolvieren sollten, war der Negativschild. Sie sollten sich einen Schutzschild antrainieren, der dauerhaft um sie herum aktiv war und verhinderte, dass sie ungewollt andere beeinflussten.
Adriano war an der Reihe. Er benutzte dafür, wie auch sein Vater, die Vorstellung, er wäre von einem Schutzschild umhüllt, wie es die Raumschiffe bei Star Trek sind. Dann sandte er mit aller Kraft seine Gedanken zu seinem Vater.
Dieser saß ihm gegenüber und öffnete einfach seinen Geist. Seine Aufgabe war es, sofort etwas zu sagen, wenn er etwas von seinem Sohn empfing.
„Hunger auf Pizza“, stellte Alexander fest.
Adriano schaute ihn ungläubig an: „Ich habe an Pokémon gedacht!“
„Ähm, das war ich!“, meldete sich Steffi und schaute schuldbewusst. Sie ging in den Verkaufsraum der Boutique, um für jeden Pizza zu bestellen.
Adriano schaute verdattert drein. „Jetzt habe ich auch Hunger auf Pizza.“
Alexander antwortete: „Damit sind wir schon drei.“
„Vier!“, kam von Merlin, „Pause, bis die Pizza da ist!“
80 Kilometer von Bogotá entfernt wurde Josephine wach und hatte einen Bärenhunger auf Pizza. Ohne, dass sie es bemerkt hätte, wurde ihre Verbindung zu ihrem Verlobten und ihrem baldigen Stiefsohn immer enger. Gleichzeitig strahlte sie ihre Gefühle auch immer stärker aus. Nur wenige Minuten später hatte die ganze Familie Hunger auf Pizza.
Es war Sonntag, sogar Mateo war mal zu Hause. Er war von Beruf Architekt und 6 Tage die Woche immer auf irgendwelchen Baustellen unterwegs. Da in Kolumbien die Geschäfte auch sonntags geöffnet haben, bekam Mateo nach dem Frühstück den Auftrag, alle Zutaten für Pizza einzukaufen.
Josephine griff zu ihrem Handy und las die letzte Nachricht von Alexander vom Vorabend. Mit einem Lächeln schrieb sie ihm.
„Hallo, Schatz, guten Morgen!“, immer das gleiche Ritual.
Er antwortete mit derselben Nachricht und fragte, wie es ihr geht.
„Endlich etwas besser!“, antwortete sie ihm.
Direkt nach ihrer zweiten Impfung fühlte sie sich für mehr als eine Woche sehr krank. Über Weihnachten ging es ihr dann etwas besser und dann schlug eine Grippe zu, die sie zwei Wochen lang gefangen hielt.
„Ach, Schatz, das freut mich riesig!“, kam Alexanders Antwort mit vielen fröhlichen Emojis.
Sie wusste, dass das die Wahrheit war. Er freute sich tatsächlich sehr für sie.
„Was machst du gerade?“, fragte sie ihn.
„Pizza essen“, kam seine Antwort mit einem Foto der Pizza.
Sie ließ das Handy in den Schoß sinken und schaute zum Kleiderschrank. In dem großen Spiegel an der Tür betrachtete sie ihr eigenes Spiegelbild. Sie sah schockiert und blass aus.
Nach einem tiefen Durchatmen antwortete sie: „Wie toll, Schatz! Wir essen heute auch Pizza.“
„Anscheinend sind wir tatsächlich miteinander auf eine intuitive Art verbunden“, schrieb Alexander zurück, als wäre es völlig selbstverständlich, dass man mit zehntausend Kilometern Distanz dasselbe denkt und fühlt.
Josephine fand neuen Mut und fasste einen Entschluss. Wenn sie wieder in Deutschland war, wollte sie ihm alles erzählen. Noch vor der Hochzeit!
„Ich mach mich erstmal fertig und dann…“, schrieb sie gerade, als seine Nachricht kam: „Du, wir trainieren noch für zwei Stunden.“
‚Ach ja‘, dachte sie, ‚das Spezialtraining mit Adriano, das sie jetzt jeden Sonntag machen.‘
Sie dachte, es ginge um Karate, da Adriano am Ende des nächsten Monats 16 wurde und dann seinen vollwertigen schwarzen Gürtel erhalten sollte.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Ihr war gerade bewusst geworden, dass sie ihm schonend beibringen wollte, dass sie die nächsten paar Stunden keine Zeit für ihn hätte. Das hatte er ihr abgenommen.
Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander und schickten sich gegenseitig noch Fotos. Dann ging sie ins Badezimmer und duschte erstmal ausgiebig.
‚Pizza…‘, dachte sie noch.
Adriano und Alexander übten noch im steten Wechsel den Negativschild, bis Merlin zufrieden war. Sie waren nun so weit, dass sie sich unbewusst automatisch mit einem schwachen Schild umgaben, der ihre Gedanken und Gefühle von den „Normalos“ fernhielt.
Als nächstes kam der Positivschild dran. Nicht stattdessen, sondern zusätzlich zum Negativschild. Der positive Schild diente dazu, Gedanken und Gefühle von anderen draußen zu halten.
Die beiden, Vater und Sohn, hatten sich ihren ganz eigenen Drill für diese Übung ausgedacht. Einer schützte sich mit einem starken Schild und der andere bombardierte ihn mit mentalen Angriffen. Nach einer Minute wurde gewechselt.
Nach 20 Minuten standen beide auf und tänzelten umeinander herum. Jetzt kämpften sie richtig, zumindest telepathisch. Beide hielten ihren Schild aufrecht und schossen gleichzeitig konzentrierte Psi-Energie auf den Schild des anderen.
Magdalena trat an Merlins Seite. „Hast du so etwas jemals gesehen?“
„Nein“, antwortete er genauso leise, wie sie, „ich habe aber auch noch nie zuvor zwei Schüler gleichzeitig gehabt, die Karate können.“
Magdalena nickte langsam und erwiderte: „Es wirkt, als würden sie ihre Karatetechniken telepathisch anwenden. Angriff, Block, Ausweichen, Konter. Da, ein Loch!“
In Adrianos Schild war eine Lücke entstanden, in die Alexander sofort hineinschoss. Allerdings stoppte er den Angriff wenige Zentimeter vor seinem Sohn.
„Das ist Karate!“, flüsterte Merlin, „Wäre das ernst, hätte der Schuss gesessen. Aber beide achten die ganze Zeit darauf, im letzten Moment anhalten zu können, falls die Abwehr des anderen bricht.“
„Maitta!“, rief Adriano.
Er und sein Vater stellten sich aufrecht voreinander hin und verbeugten sich. Ihre Hacken waren dabei geschlossen, während die Zehen auseinanderzeigten. Die Hände knallten kurz vor der Verbeugung links und rechts an die Oberschenkel.
Er hatte gerade gemeldet, dass er seine Niederlage anerkennt. Magdalena und Merlin schauten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an – das hatten sie zum ersten Mal gesehen – als sie ein Klatschen hörten und sich schnell wieder zu ihren Schülern drehten.
Die beiden hatten sich gerade High Five abgeklatscht und drückten sich wie das nur Papa und Sohn können.
„Feierabend!“, verkündete Merlin schließlich und alle gingen ein Zimmer weiter, in den Besprechungsraum, der gleichzeitig als Schulungsraum diente.
Die beiden Kämpfer tranken erst einmal gierig ihre Trinkflaschen leer, als sich alle gesetzt hatten. Schließlich ergriff Merlin das Wort.
„Ihr beide seid ganz besondere Schüler. Nicht nur, dass ihr in knapp einem Monat gelernt habt, was andere in einem Jahr nicht schaffen! Ihr bastelt euch sogar völlig eigene Unterrichtsmethoden zusammen.“
Steffi hatte sich inzwischen ebenfalls zu ihnen gesetzt und stützte das Kinn in die Hände.
„Wie könnt ihr das so schnell lernen?“, fragte sie.
„Wir tun es einfach“, antwortete Adriano und Alexander nickte dazu.
„Ja, aber selbst, wenn ihr in einem Training was nicht versteht, habt ihr das beim nächsten dann drauf. Nicht einfach nur verstanden, sondern komplett gelernt!“, beharrte Steffi.
Alexander zeichnete mit dem Finger Kreise auf den Tisch, als er erklärte: „Wenn wir zu Hause sind, verarbeiten wir alles, was wir gelernt haben und schicken uns gegenseitig die Erkenntnisse. Wir trainieren fast jeden Tag und was einer versteht, versteht durch das Hive sofort auch der andere.“
„Durch das was?“, fragte Merlin mit skeptischem Blick.
Alexander erklärte ihm, wie das Hive-Mind funktionierte. Sein Sohn und er hatten sich von den Borg aus Star Trek inspirieren lassen und ziemlich früh im Training eine unbewusste Verbindung zwischen sich geschaffen. Über diese Verbindung konnte jeder von beiden auf das Wissen und die Erkenntnisse von beiden zugreifen. Sie dachten nicht die ganze Zeit dasselbe, sondern beide konnten unabhängig voneinander mit zwei Gehirnen denken.
„Nun ja“, schilderte Alexander, „nicht immer. Jeder von uns kann die Ressourcen des jeweils anderen nutzen, die gerade frei sind. Aber so muss immer nur einer von uns etwas verstehen und der andere versteht es sofort auch.“
Merlin nickte langsam. Diese Technik war gefährlich nah an verbotener Kommunikation zwischen Telepathen. Aber da genau genommen nur die telepathische Kommunikation mit Mitgliedern ANDERER Zirkel verboten war, sagte er nichts weiter.
Wäre Adriano zur Schule gegangen, wäre es aufgefallen, weil mit Sicherheit seine Zensuren quer durch alle Fächer nur noch Einsen gewesen wären. Aber seit Weihnachten war wieder Lockdown.
Omikron hatte Deutschland und Europa fest im Griff. Die neue Bundesregierung hatte zu langsam reagiert und erst ab Heiligabend das Land komplett heruntergefahren. Dieser Lockdown würde bis in den Februar gehen.
Genau genommen waren ihre Treffen damit illegal. Aber da sie alle vollständig geimpft waren und sich jedes Mal testeten, sahen die Telepathen darin kein Problem. Niemand von ihnen ahnte, dass sie nur wenige Monate später noch gegen ganz andere Gesetze verstoßen würden, verstoßen mussten, um zu überleben.
Mit der Hilfe von Merlins Verbindungen hatte Alexander es geschafft, dass Josephine trotz des Lockdowns im Februar nach Deutschland kommen konnte.
In Kolumbien war die Omikron-Variante des Coronavirus‘ noch kein großes Thema. So bereitete sich Josephine mit wachsender Vorfreude darauf vor, im nächsten Monat endlich wieder zu ihrem „Amor“ zu fliegen und ihn endlich zu heiraten.
„Hier, das auch noch“, sagte ihre Cousine Mariana und reichte ihr einen Stapel Kleidung.
Die beiden packten gerade das dritte große Paket, um ihre Kleidung Stück für Stück bereits nach Deutschland zu schicken.
Alles, was Josephine in Deutschland brauchen würde, von dem sie aber hoffte, es in Kolumbien bis dahin nicht mehr zu brauchen, wurde per Post vorausgeschickt.
Sie nahm den Stapel Kleidung und schaute kurz durch, nickte dann zufrieden und legte ihn in den Karton.
„Halt, die nicht!“, rief sie, als Mariana ihr die Kuscheldecke geben wollte, die Alexander für sie mal gehäkelt hatte.
„Warum nicht?“
„Die kommt mit ins Flugzeug!“, legte Josephine fest.
Ihre Malutensilien und zwei Drittel ihres Schmucks kamen dafür mit in das Paket. Dann nahm sie einen kleinen Panda zur Hand. Sie schickte in jedem Paket einen Panda mit, denn das war ihr liebster Spitzname für Alexander, „Pandito“, Pandabärchen.
Sie griff zu ihrem Parfüm und sprühte den Panda ein, dann wickelte sie ihn in ein Handtuch und legte ihn genau in die Mitte. Obendrauf kamen ihre Hosen und noch ein paar Röcke.
„Ich frage mich, was der deutsche Zoll wohl denkt.“, sagte Mariana nachdenklich.
Josephine starrte sie entgeistert an: „Was?“
„Na ja, ein Mann bekommt regelmäßig Frauenkleider aus Südamerika geschickt.“
Josephine machte erst große Augen, dann lachte sie laut: „Oh je, der arme! Ich muss ihn mal fragen.“
Gesagt, getan, sie griff zum Handy und schickte ihm eine Nachricht: „Schatz, sagt eigentlich euer Einfuhrbüro irgendwas dazu, dass dir jemand Frauenkleidung schickt?“
Kurz darauf kam die Antwort: „Nur, dass sie sie wirklich schön finden. Der eine Beamte gratulierte mir, als wir deine BHs auspackten!“
Josephine lief knallrot an. Es war nicht ganz klar, ob vor Scham oder Wut. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem: „Ihr… Du… WAS???“
„Ich musste die beiden ersten Pakete beim Zoll direkt öffnen und vollständig in allen Einzelheiten auspacken, weil dein Parfüm die Drogenspürhunde verwirrt hat.“, erklärte Alexander, „Um sicherzustellen, dass da keine Drogen oder andere illegale Dinge drin sind, musste jedes Teil einzeln ausgebreitet und untersucht werden.“
Josephine wollte im Erdboden versinken, während ihre Cousine schon vor Lachen auf dem Boden lag.
Sie fuhr Mariana an: „Jetzt krieg dich mal wieder ein!“ – sie kriegte sich nicht wieder ein.
Als Josephines Mutter noch hinzukam und fragte, warum Mariana sich wiehernd auf dem Boden herumrollte, wollte Josephine abwinken, aber aus ihrem Handy kam die nächste Nachricht: „Aber sei beruhigt, Schatz, als der Zollbeamte sah, dass es mir auch unangenehm war, deine Unterwäsche vor ihm auszubreiten, gratulierte er mir nur wegen deiner BHS und rief dann eine Kollegin, eine Frau, die alles weitere machte.“
Josephine warf sich auf ihr Bett und vergrub ihr Gesicht im Kissen, während ihre Mutter sich zu Mariana auf den Boden gesellte und mitwieherte.
Das würde noch Jahre später auf den Familienfeiern ausgebreitet werden, dessen war sich Josephine sicher. Sie hoffte nur, dass Alexander das nicht auch seiner Mutter erzählte, sodass sie in Deutschland wenigstens weit, weit weg von dieser Peinlichkeit war.
Als sich Gabriela und Mariana langsam wieder beruhigten und Josephine schon glaubte, sie hätte es überstanden, kam noch eine Audionachricht von Alexander: „Übrigens, Hygieneartikel kann man hier kaufen, soll ich dir sagen.“
„¡Cállate la boca!“, brüllte Josephine in ihr Handy und hoffe, dass der Tag einfach irgendwie vorbeigehen würde.
Sie schloss sich im Badezimmer ein und schrieb Alexander, dass ihre Mutter und ihre Cousine jede seiner Antworten gehört hatten.
Alexander entschuldigte sich wortreich bei ihr. Natürlich wusste sie, dass es nicht seine Schuld war, denn er konnte nicht ahnen, wer alles in ihrem Zimmer war. Aber es tat ihr dennoch gut, dass er sich entschuldigte und damit einen Teil ihrer Scham für sie mittrug.
Als sie ihn gerade fragen wollte, wieviel denn ihre künftige Schwiegermutter davon wusste, konnte er sie beruhigen, dass er ihr gegenüber nie ein Wort darüber verloren hat.
‚Dann ist es nicht ganz so schlimm‘, dachte sie und sah aus dem kleinen Fenster im Badezimmer, ‚Hier komme ich sowieso die nächsten Jahre nicht mehr her.‘
Bevor sie jedoch wehmütig werden konnte, schüttelte sie das Gefühl gleich wieder ab und dachte an Deutschland. Herrlich kühl, vor allem im Winter. Sie freute sich darauf, endlich nicht jeden Tag des Jahres dreißig Grad zu haben. Und sie freute sich auf den Schnee.
Beim letzten Videogespräch mit Alexander war er schon wieder mit Häkeln beschäftigt. Sie fand das super, dass er das konnte.
Als sie ihn fragte, was er diesmal machte, antwortete er ihr: „Einen Kuschelschal für dich. Etwas dünner als der andere. Der ist dafür, wenn du zu Hause mal frieren solltest.“
Sie erinnerte sich an das Gespräch und lächelte verliebt. Sie wusste, dass sie schon mindestens die Hälfte dessen längst wieder vergessen hatte, was er alles für sie tat. Aber sie wusste, er tat alles, um sie glücklich zu machen. Und sie versuchte jeden Tag ihr Bestes, um ihm dasselbe Geschenk zu machen.
Seit gut einem Monat fühlte sie sich sogar noch enger mit ihm verbunden. Sie hatte Angst, es ihm zu sagen. Durch sein seelisches Trauma von seiner Ex war er noch immer sehr leicht zu verunsichern. Und Josephine wusste nicht, wie sie ihm das so beibringen sollte, dass er nicht dachte, vorher sei etwas schlecht gewesen. Daher sagte sie einfach gar nichts und genoss einfach die Vertrautheit.
Und die Vorfreude, denn schon nächsten Monat sollte es wieder nach Deutschland gehen.
Das Handy vibrierte erneut. Ein Foto war gekommen. Alexander und Adriano im Schnee. Sie schickte ihm unzählige Herzen.
„Meine zwei Männer“, schrieb sie, setzte noch ein Herz dahinter und fühlte sich nun bereit, wieder aus dem Badezimmer zu kommen. Vorher schickte sie noch ein Selfie zurück.
Alexander schaute verliebt auf das Foto und lächelte geistesabwesend. Josephines Lächeln wärmte ihm selbst im tiefsten Winter das Herz.
Er fühlte ein Ziehen an seiner Jacke und schaute sich um. Adriano hielt ihn fest.
„Ist rot.“
Alexander schaute nach vorn. Sie standen an einer Hauptstraße und die Ampel war tatsächlich rot.
Adriano war es schon gewöhnt, auf seinen Vater aufzupassen, wenn er unterwegs eine Nachricht von Josephine bekam. Dann war er immer für einen Moment in einer anderen Welt.
‚Danke!‘, sendete Alexander seinem Sohn telepathisch.
Sie stiegen schließlich in ihr Auto mit den Stickern der Karateschule und fuhren nach Hause. Berlin war zum Jahreswechsel zu einem Winterwunderland geworden, aber der größte Teil der Stadt war inzwischen eher ein Matschwunderland.
Adriano war auf dem Beifahrersitz in Gedanken versunken.
‚Ob es wohl diesmal klappt, dass Mamá wiederkommt?‘, fragte er sich. Er hatte sich inzwischen die spanische Aussprache angewöhnt, mit Betonung auf dem zweiten A.
‚Ich glaube fest daran!‘, hörte er die Gedanken seines Papas.
Er zuckte zusammen und fühlte nach seinem Schutzschild. Absolute Leere. Er hatte seinen Schild völlig fallengelassen.
Sein Papa grinste neben ihm und fand die Straße auffallend interessant. Aber er hatte Recht. Auch Adriano selbst glaubte fest daran, dass sie nach so vielen Jahren endlich wieder eine komplette Familie würden.
„Wie geht’s jetzt weiter?“, fragte er laut.
„Nächste rechts.“, antwortete sein Vater.
Adriano rollte die Augen. „Mit der Karateschule!“
Alexander zuckte mit den Schultern. „Wenn du mich fragst, sollte ich das Angebot annehmen.“
Merlin hatte ihm drei Tage vorher angeboten, dass er eine Praxis für Psychotherapie eröffnen könne.
„Seien wir ehrlich“, hatte Merlin gesagt, „Sowas, wie diese Boutique hier oder eine Kampfsportschule, das überlebt die Maßnahmen der Politik einfach nicht.“
Magdalena warf ein: „Du hast Psychotherapie und mehr studiert. Warum? Weil du Menschen helfen willst! Wir könnten die Praxis gemeinsam aufbauen. Ich habe viele Patienten, die ambulant bei dir weiterbetreut werden können.“
Alexander war unschlüssig, doch er fand die Idee sehr interessant. Er hing an seiner Karateschule, sie war sein Baby.
Aber Magdalena hatte Recht. Warum hatte er damals Psychotherapie studiert und die ganzen Aufbaulehrgänge belegt?
Als sie zu Hause angekommen waren und aus dem Auto stiegen, sagte Adriano: „Wenn du dich für keinen von zwei Wegen entscheiden kannst, nimm den dritten.“
„Wo hast du denn das her?“, Alexander schaute ihn übers Auto hinweg an.
Adriano zuckte mit den Schultern. „Irgendwo mal aufgeschnappt.“
Beim Abendessen spielten sie dann wieder Ideen-Ping-Pong. Sie warfen sich eine Idee zu und der jeweils andere feilte etwas daran. Dann warf er sie wieder zurück und immer so weiter.
Diese Technik, eine gemeinsame Idee zu entwickeln, hatten sie schon vor Jahren entwickelt. Egal, ob es darum ging, sich einen Schrebergarten zu kaufen, in den Urlaub zu fahren oder die Wände zu streichen. Sie warfen sich die Ideen hin und her, bis sie beide mit dem Ergebnis zufrieden waren. Wenn Josephine dabei war, saß sie meistens still zwischen den beiden und bewunderte einfach nur den Prozess.
Das heutige Spiel endete mit der Idee, die Karateschule zunächst weiterzubetreiben, aber nur noch zweimal in der Woche. An den anderen drei Tagen wollte er als Psychotherapeut arbeiten und Menschen helfen. Vor allem seine Online-Sprechstunde war eine Idee, die von beiden gleichzeitig gekommen war.
Steffi betrat eine psychologische Praxis und sah sich neugierig um.
„Tut mir leid, wir können zurzeit keine neuen Patienten aufnehmen“, tönte eine freundliche Stimme vom Empfang.
„Ach, das ist kein Problem“, meinte Steffi und schaute der Praxishilfe dabei tief in die Augen.
In wenigen Sekunden kopierte sich Steffi alles Wissen und Erfahrung der anderen Frau. Das war Magdalenas Idee gewesen. Als ausgebildete Einzelhandelskauffrau kannte Steffi schon viele der Grundlagen und stellte schnell fest, dass der Unterschied zu einer Praxishilfe gar nicht so groß war, wie sie dachte.
Sie wiederholte das Ganze noch in ein paar anderen Praxen. Auch eine Zahnarztpraxis war darunter. Am Ende hatte sie das Äquivalent von etwa 20 Jahren Ausbildung und über 80 Jahren Berufserfahrung in ihr eigenes Gehirn kopiert.
Mit dabei war auch ein Handbuch für die moderne Praxisschwester. Das kam ihr interessant vor. Sie wollte sich das Buch bestellen, wenn sie wieder zu Hause war.
Sie durchsuchte das Internet über eine Stunde lang, doch anscheinend existierte das Buch gar nicht, das sie suchte.
„Seltsam“, murmelte sie.
Eine der Krankenschwestern war ausgebildete Fachkraft für Bürokommunikation. Die Fähigkeit, extrem schnell zu tippen hatte Steffi auch kopiert. So setzte sie sich an ihren Laptop und tippte in einer Nacht das gesamte Handbuch ein.
Beim nächsten Telepathie-Training fragte sie Alexander nach den Regeln des Urheberrechts, da sie das Handbuch noch mit Bildern versehen wollte. Dieser zeigte ihr einige Webseiten, wo sie Bilder fand, die sie kostenlos verwenden konnte.
„Sieh mal“, sagte er dann und gab eine weitere Webseite ein, „Hier kannst du dein Buch kostenlos veröffentlichen.“
Sie strahlte ihn an. ‚Danke dir!‘, sendete sie ihm.
So nahm die Idee langsam Gestalt an.
Die Boutique veranstaltete einen großen Ausverkauf und bald war ein Großteil der Waren verkauft. Was sie nicht verkaufen konnten, spendeten sie wohltätigen Einrichtungen.
Als die Boutique leer war, verschwanden alle Regale und Kleiderständer und der gesamte Zirkel half mit, aus der Modeboutique eine elegante Praxis zu machen. Alexander holte sich vom Gesundheitsamt die Zulassung zurück – er hatte sie Jahre zuvor abgegeben, als er dachte, er würde nie wieder als Therapeut arbeiten – und arbeitete manchmal mit spät in die Nacht am Umbau der Räume.
Neue Wände wurden eingezogen, Kabel verlegt, Möbel geliefert und aufgestellt. Alle 46 Mitglieder des Engelszirkels arbeiteten Hand in Hand und schon nach einer Woche war alles fertig.
Die Praxis bot nicht nur Psychotherapie an, sondern auch Psychiatrie, Lebensberatung und sogar Reiki-Behandlungen.
In der letzten Januarwoche standen Merlin, Magdalena, Steffi und Alexander vor der Tür und bewunderten ihr Werk. Adriano war an dem Tag nicht dabei, denn er hatte zu Hause Schulunterricht am Laptop.
Ein junger Mann kam vorbei und sah die vier, schaute sich die Häuserfront an und las das Schild.
„Wann wird denn die Praxis eröffnet?“, fragte er schüchtern.
Eigentlich war die Eröffnung erst für den ersten Februar geplant, aber Alexander hatte das Gefühl, dass der Mann wirklich Hilfe brauchte.
„Heute!“, sagte er mit einer einladenden Geste.
Steffi war gleich mit Feuereifer dabei und rannte voraus. Ihr goldblondes Haar wehte dabei im Wind und ließ sie wie eine Sternschnuppe wirken.
Alexander nahm in seinem neuen Behandlungsraum Platz und signalisierte Steffi, dass er bereit ist. Diese schickte den ersten Patienten hinein.
Der Patient stellte sich als Peter vor und nahm den angebotenen Sessel dankend an.
„Erzähl mal, Peter, warum bist du heute hier?“
„Na ja… Ich…“, er war offenbar unschlüssig.
Alexander konzentrierte sich auf Peters Gefühle und schickte ihm das Gefühl, sich geborgen und sicher zu fühlen.
Sein Gegenüber atmete mit sichtlicher Erleichterung aus und schloss kurz die Augen.
„Mein Opa ist gestorben“, begann Peter, „und ich durfte ihn nicht mehr sehen.“
Alexander lehnte sich zurück und ließ ihn erst einmal einfach reden. Ab und zu steuerte er seinen Patienten mit kleinen Fragen.
Als die erste Therapiesitzung fast zu Ende war, sagte Alexander mit hypnotischer Stimme: „Gibt es noch etwas, das du deinem Opa unbedingt erzählen wolltest?“
Das saß.
Peter kamen die Tränen und er erzählte: „Ja. Ich habe endlich meinen Abschluss gemacht. Er war der einzige, der an mich geglaubt hat und er sagte mir immer, wie stolz er auf mich ist.“
„Hätte er denn noch stolzer sein können, als er schon war?“
„Niemand hätte stolzer sein können als mein Opa. Er hat meine letzte Facharbeit gelesen.“
„Also kannte er deine Zensuren?“
„Ja.“
„Und er wusste, dass du bestehen wirst?“
Peter sah auf und seine Augen wurden immer größer.
Alexander lächelte. Er zog das Bild seines Opas aus Peters Gedächtnis und maskierte sich. Nicht sehr, nicht vollkommen, nur soweit, dass Peter hinterher glauben konnte, sein Gehirn hätte ihm einen Streich gespielt.
Mit väterlichem Stolz blickte Alexander Peter an und lächelte einfach nur.
Peter lächelte ebenfalls und schloss langsam die Augen. „Ja, er wusste es.“
Die Sitzung war zu Ende und Peter fiel Alexander in die Arme, drückte ihn kräftig und ging dann hinaus.
Alexander ging noch bis zur Tür und sah über Steffi hinweg hinterher.
„Beeindruckend!“, meinte Steffi, „Er wirkte 10 Kilo leichter!“
Beide sahen sich an und lächelten. „Deswegen habe ich das mal gelernt.“
Er drehte sich um, um wieder in sein Büro zu gehen, als er Magdalena sah, die ebenfalls aus ihrem Büro gekommen war.
„Siehst du?“, fragte sie ihn und ging wieder hinein.
„Ja“, sagte Alexander leise und setzte sich an seinen Computer. Die nächste Sitzung war online. Er checkte seine E-Mails, bevor er sich in das Therapieprogramm einloggte.
Eine neue E-Mail: „Sie haben Ihre erste Rezension erhalten.“
5 Sterne von Peter.