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Einleitung Was wir von der Gita erwarten und benötigen

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In der Welt gibt es eine Fülle von heiligen und profanen Schriften mit Offenbarungen und Halb-Offenbarungen, mit Religionen und Weltanschauungen, Sekten, Schulen und Systemen. An diese bindet sich mit Ausschließlichkeit und Leidenschaft das Mental vieler Menschen von nur halb-ausgereifter oder gar keiner Erkenntnis. Sie behaupten, nur dies eine oder jenes andere Buch sei allein das ewige Wort Gottes. Alle anderen seien Hochstapeleien, bestenfalls unvollkommen inspiriert. Diese oder jene Weltanschauung sei das letzte Wort des logisch denkenden Intellekts. Andere Systeme seien entweder Irrtümer oder würden vor dem Irrtum bewahrt nur durch eine Teilwahrheit in ihnen, die sie mit dem einzig wahren philosophischen Kultus verbindet. Man hat sogar die Entdeckungen der Naturwissenschaft zu einem Glaubensbekenntnis erhoben und in dessen Namen Religion und Spiritualität als Unwissenheit und Aberglauben, die Philosophie als Firlefanz und Geschwafel geächtet. Für diese engstirnigen Ausschließungen und eitlen Streitereien haben sich oft sogar weise Menschen hergegeben, von einem Geist der Finsternis verführt, der sich mit ihrem Licht vermischte und es mit einer Wolke von intellektuellem Egoismus oder mit spirituellem Hochmut überschattete. Jetzt scheint die Menschheit tatsächlich geneigt, ein wenig bescheidener und weiser zu werden. Wir töten nicht mehr unsere Mitmenschen im Namen der Wahrheit Gottes oder weil sie ihr Mental unterschiedlich zu dem unsrigen ausgebildet oder eingesetzt haben. Wir sind weniger dazu bereit, unseren Nächsten zu verfluchen oder zu schmähen, weil er so boshaft und anmaßend ist, sich in seinen Ansichten von den unsrigen zu unterscheiden. Wir sind sogar zu dem Zugeständnis bereit, dass überall Wahrheit ist und diese nicht unser alleiniges Monopol sein kann. Wir fangen an um der Wahrheit und Hilfe willen, die sie enthalten, auf andere Religionen und Weltanschauungen zu blicken und nicht mehr nur, um sie als falsch zu verdammen oder um das zu kritisieren, was wir uns als ihre Irrtümer vorstellen. Doch neigen wir immer noch zu der Erklärung, unsere Wahrheit gebe uns die eine höchste Erkenntnis, die die anderen Religionen und Weltanschauungen übersehen oder nur so unvollständig erfasst haben, dass sie sich mit untergeordneten oder minderen Aspekten der Wahrheit der Dinge befassen oder nur mental geringer entwickelte Wesen für jene Höhen vorbereiten können, die wir schon erreicht haben. Und wir sind noch dafür anfällig, uns selbst oder anderen jenen ganzen heiligen Klumpen jenes Buches oder jenes Evangeliums aufzuzwingen, das wir verehren. Wir bestehen darauf, alles müsse als ewig gültige Wahrheit akzeptiert werden. Man dürfe keinem Jota, keinem Akzent oder diakritischen Punkt seinen Anteil an der vollen Inspiration bestreiten.

Wenn wir uns mit einer alten Schrift wie dem Veda, den Upanishaden oder der Gita befassen, mag es nützlich sein, genau den Geist aufzuzeigen, in dem wir uns ihr nahen, und genau zu bestimmen, was wir aus ihr an Wertvollem für die Menschheit und ihre Zukunft herzuleiten hoffen. Zuerst stellen wir fest: Es gibt zweifellos eine einzige und ewige Wahrheit, die wir suchen, aus der sich jede andere Wahrheit herleitet, durch deren Licht jede andere Wahrheit ihren richtigen Ort, ihre Deutung und Beziehung zu dem Gesamtplan des Wissens findet. Gerade aus diesem Grund kann aber die Wahrheit nicht in eine einzelne, scharf umrissene Formel gezwängt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass man sie in ihrem ganzen Umfang, in all ihren Beziehungen in einer einzelnen Weltanschauung oder Heiligen Schrift findet oder dass sie vollständig und ewig gültig von irgendeinem Lehrer, Denker, Propheten oder Avatar ausgesprochen worden ist. Auch haben wir die Wahrheit nicht ganz gefunden, wenn unsere Anschauung von ihr den unduldsamen Ausschluss jener Wahrheit erfordert, die anderen Systemen zugrunde liegt. Denn wenn wir leidenschaftlich ablehnen, bedeutet das einfach, dass wir nicht würdigen und erläutern können. Zweitens ist diese Wahrheit zwar eine einzige und ewige, sie drückt sich aber in der Zeit und durch das Mental des Menschen aus. Darum muss jede Schrift notwendigerweise zwei Elemente enthalten: Deren eines ist zeitbedingt und vergänglich; es gehört den Ideen des Zeitalters und des Landes an, in denen sie verfasst wurde. Das andere Element ist ewig und unvergänglich; es ist in allen Zeitaltern und Ländern anwendbar. Überdies muss bei der Darstellung der Wahrheit die ihr verliehene aktuelle Form, das System und die Anordnung, die metaphysische und intellektuelle Prägung sowie der verwendete genaue Ausdruck in weitem Umfang den Wandlungen der Zeit unterworfen sein und deshalb aufhören, immer dieselbe Kraft zu besitzen. Denn der menschliche Intellekt gestaltet sich immer neu. Ständig zerteilt er die Wahrheit und setzt sie wieder zusammen. So muss er ihre Teile ständig hin-und herbewegen und neue Synthesen bilden. Immer wieder verlässt er eine alte Ausdrucksform oder ein Symbol zugunsten eines neuen. Oder er verändert, wenn er das alte noch benutzt, seine Bedeutung, zumindest seinen genauen Inhalt und die damit verbundene Assoziation so sehr, dass wir nie ganz sicher sein können, wir verstünden ein altes Buch dieser Art genau in jenem Sinn und Geist, den es für seine Zeitgenossen hatte. Von völlig dauerhaftem Wert ist nur das, was einerseits allumfassend ist und andererseits mit einer höheren als der intellektuellen Schau erfahren, gelebt und gesehen worden ist.

Ich halte es darum für wenig bedeutsam, die genaue metaphysische Begriffsbestimmung der Gita in der Weise herauszuarbeiten, wie sie von den Menschen jener Zeit verstanden wurde – selbst wenn das möglich wäre. Dass es nicht möglich ist, zeigt sich an der Unterschiedlichkeit der ursprünglichen Kommentare, die über sie verfasst wurden und noch geschrieben werden. Denn sie stimmen darin überein, dass sie mit allen anderen nicht übereinstimmen. Jeder findet in der Gita sein eigenes metaphysisches System und seine religiöse Denkrichtung. Auch die gründlichste und objektivste Gelehrsamkeit und die erleuchtetsten Theorien über die historische Entwicklung der indischen Philosophie werden uns nicht vor unvermeidlichem Irrtum bewahren. Hingegen können wir in der Gita nach den in ihr enthaltenen tatsächlichen lebendigen Wahrheiten forschen, unabhängig von ihrer metaphysischen Gestalt, um ihr das zu entnehmen, was uns oder der Welt im Großen helfen kann, und es in die natürlichste und lebendigste Form und Ausdrucksweise zu bringen, die wir als geeignet für die Mentalität unserer heutigen Menschheit und als hilfreich für ihre spirituellen Bedürfnisse finden können. Zweifellos können wir bei diesem Versuch auch einen guten Teil des aus unserer eigenen Individualität stammenden Irrtums und der Vorstellungen hineinmischen, in denen wir leben, wie größere Menschen es vor uns taten. Wenn wir uns aber tief in den Geist dieser großen Schrift versenken und darüber hinaus versucht haben, in diesem Geist zu leben, können wir sicherlich in ihr so viel wirkliche Wahrheit finden, wie wir zu empfangen fähig sind, und auch den spirituellen Einfluss und die tatsächliche Hilfe, die wir nach unserer persönlichen Bestimmung aus ihr herleiten sollen. Das zu geben, wurden die Schriften im Grunde geschrieben. Alles Übrige ist akademischer Disput oder theologisches Dogma. Nur solche Schriften, Religionen und Philosophien sind auf die Dauer von wirklicher Bedeutung für die Menschheit, die so ständig erneuert und wiederbelebt, deren Gehalt an bleibender Wahrheit ständig umgeformt und im inneren Denken und der spirituellen Erfahrung einer sich entwickelnden Menschheit entfaltet werden. Die Übrigen bleiben für uns Denkmäler der Vergangenheit, besitzen aber keine tatsächliche Kraft, keinen lebendigen Impuls für die Zukunft.

In der Gita gibt es nur sehr wenig, was rein lokaler oder zeitbedingter Art wäre. Ihr Geist ist so umfassend, tief und universal, dass auch dies wenige leicht allgemeingültig verstanden werden kann, ohne dass der Sinn der Lehre eine Minderung oder Beeinträchtigung erleidet. Ja, die Lehre gewinnt gerade dann an Tiefe, Wahrheit und Macht, wenn wir ihr einen umfassenderen Bedeutungshorizont geben, als er zu Volk und Epoche gehört. Oft weist die Gita selbst auf die Weite des Horizonts hin, die größer ist, als sie auf diese Weise einer an sich lokalen oder begrenzten Idee gegeben werden kann. So behandelt sie das alte indische System und Gedankenbild des Opfers als einen Austausch zwischen Göttern und Menschen – ein System und eine Vorstellung, die in Indien selbst schon lange praktisch veraltet und für das allgemeine menschliche Denken nichts Wirkliches mehr sind. Wir finden aber, dass hier dem Wort „Opfer“ ein so völlig subtiler, bildlicher und symbolischer Sinn beigelegt und der Begriff der Götter so wenig lokal begrenzt oder mythologisch, so völlig kosmisch und philosophisch ist, dass wir beide Begriffe leicht als Ausdruck für eine praktische Tatsache der Psychologie oder für ein allgemeines Gesetz der Natur annehmen und sie somit anwenden können auf die modernen Vorstellungen vom Austausch zwischen Leben und Leben, vom sittlichen Opfer und der Selbst-Hingabe. So erweitern und vertiefen wir diese Begriffe und geben ihnen einen mehr spirituellen Aspekt und das Licht einer tieferen und weiterreichenden Wahrheit. Ebenso scheint auf den ersten Blick ein Handeln im Einklang mit dem Shastra, der vierfältigen Ordnung der Gesellschaft, die Erwähnung der Stellung der vier Kasten zueinander oder das relative spirituelle Unvermögen von Shudras und Frauen etwas örtliches und Zeitbedingtes zu sein. Wenn im wörtlichen Sinne zu viel Nachdruck auf sie gelegt wird, engen sie schließlich viel von der Lehre ein, berauben sie ihrer Universalität und spirituellen Tiefe und beschränken so ihre Gültigkeit für die Menschheit im weiteren Sinn. Blicken wir aber dahinter auf den Geist und den Sinn und nicht auf den ortsbedingten Namen und die zeitbedingte Institution, sehen wir, dass auch hier die Bedeutung tief und wahr und der Geist philosophisch, spirituell und universal ist. Wir erkennen, dass die Gita unter Shastra das Gesetz versteht, das sich die Menschheit selbst auferlegt hat, um das rein egoistische Handeln des natürlichen, sündigen Menschen aufzuheben und über seine Neigungen eine Kontrolle auszuüben, damit er nicht in der Befriedigung seines Begehrens Maßstab und Ziel seines Lebens sucht. Auch sehen wir, dass die vierfältige Gesellschaftsordnung nur die konkrete Gestalt einer spirituellen Wahrheit ist. Diese selbst ist von der Form unabhängig. Sie beruht auf folgender Auffassung: Die Art des einzelnen Menschen, durch den das Wirken geschieht, drückt sich, richtig geordnet, im rechten Handeln aus, wobei diese Art ihm seine Richtung und seinen Bereich im Leben zuweist, im Einklang mit den ihm angeborenen Eigenschaften und dem sein Selbst ausdrückenden Aufgabenbereich. Da das der Geist ist, in dem die Gita ihre zumeist örtlich bestimmten besonderen Beispiele anführt, sind wir berechtigt, immer dasselbe Prinzip anzuwenden und nach der tieferen allgemeinen Wahrheit zu forschen, die gewiss stets dem zugrunde liegt, was auf den ersten Blick rein durch Ort und Zeit bestimmt zu sein scheint. Denn stets werden wir finden, dass die tiefere Wahrheit und das allgemeine Prinzip im Kern ihres Denkens vorausgesetzt ist, auch wenn das in ihrer Sprache nicht ausdrücklich betont wird.

In keinem anderen Geist werden wir auch mit dem Element philosophischer Lehre oder religiösen Bekenntnisses verfahren, das entweder in die Gita eindringt oder dank ihrer Verwendung der philosophischen Begriffe und religiösen Symbole, die damals geläufig waren, in ihr anklingt. Wenn die Gita von Sankhya und Yoga spricht, werden wir diese nur in den Grenzen dessen besprechen, was gerade für unsere Darstellung wesentlich ist. Dagegen nicht die Beziehungen des Sankhya der Gita mit seinem einzigen Purusha und seiner stark vedantischen Färbung zu dem überkommenen nicht-theistischen oder „atheistischen“ Sankhya mit seinem Schema der vielen Purushas und einer einzigen Prakriti. Und auch nicht den Yoga der Gita, der vielseitig, subtil, reich und biegsam ist, in seinem Verhältnis zur theistischen Lehre und zu dem festgelegten, wissenschaftlichen, streng definierten und in Stufen aufgebauten Yoga-System des Patanjali. In der Gita sind Sankhya und Yoga offensichtlich nur zwei konvergierende Teile derselben vedantischen Wahrheit oder vielmehr zwei sich vereinigende Wege, um sich ihrer Verwirklichung zu nähern: Der eine ist philosophisch, intellektuell, analytisch, der andere ist intuitiv, gottergeben, praktisch, ethisch, synthetisch und erlangt Wissen durch Erfahrung. Die Gita erkennt keinen wirklichen Unterschied in ihren Lehren an. Noch weniger brauchen wir uns mit jenen Theorien zu befassen, die die Gita als das Ergebnis eines besonderen religiösen Systems oder einer Tradition ansehen. Ihre Lehre ist universal, unabhängig von ihrem Ursprung.

Das philosophische System der Gita, ihre Darstellung der Wahrheit, ist nicht jener vitalste, tiefste und ewig beständige Teil ihrer Lehre. Doch ist das meiste Material, aus dem das System zusammengesetzt ist, nämlich die hauptsächlichen überzeugenden und eindringlichen Ideen, die in ihre komplexe Harmonie eingewoben sind, ewig wertvoll und gültig. Sind sie doch nicht nur lichtvolle Gedanken oder überraschende Spekulationen eines philosophischen Intellekts, vielmehr bleibende Wahrheiten spiritueller Erfahrung, als wahr erweisbare Tatsachen unserer höchsten psychologischen Möglichkeiten, die niemand unbeachtet lassen kann, der versucht, das Geheimnis des Seins in seiner Tiefe zu verstehen. Sei das System, was es wolle; sicherlich ist es nicht, wie die Kommentatoren es darzustellen sich bemühen, abgefasst oder bewusst angelegt, um ausschließlich eine bestimmte Schule philosophischen Denkens zu bestätigen oder um die Ansprüche einer bestimmten Form von Yoga mit Nachdruck vorzutragen. Die Sprache der Gita, ihre Denkstruktur, die Art, wie sie die Gedanken kombiniert und miteinander ausgleicht, passen weder zum Temperament eines sektiererischen Lehrers noch zum Geist einer streng analytischen Dialektik, die einen Gesichtswinkel der Wahrheit herausschneidet, um dann alle anderen auszuschließen. Vielmehr bewegen sich hier die Gedanken in einem weiten, die Wahrheit mit seinen Wogen umkreisenden Fluss, der ein grenzenloses synthetisches mentales Bewusstsein und eine reiche synthetische Erfahrung offenbart. Die Gita ist eines jener großen synthetischen Werke, an denen indische Spiritualität ebenso reich ist wie an der Schöpfung stark wirkender, vornehmer Bewegungen der Erkenntnis und religiösen Verwirklichung, die mit absoluter Konzentration eine einzige Grundlinie, einen Pfad bis hin zu seinen äußersten Ergebnissen verfolgen. Sie spaltet nicht, sie versöhnt und eint.

Das Denken der Gita ist kein reiner Monismus, obwohl sie in einem einzigen unwandelbaren, reinen, ewigen Selbst die Grundlage aller kosmischen Existenz sieht. Es ist auch nicht Mayavada, obwohl sie von der Maya der drei Erscheinungsformen von Prakriti spricht, die in der erschaffenen Welt allgegenwärtig sind. Auch ist es kein eingeschränkter Monismus, obwohl sie in dem Einen, der in der Gestalt des Jiva geoffenbart ist, seiner ewigen höchsten Prakriti ihren Platz anweist und das größte Gewicht darauf legt, dass das spirituelle Bewusstsein in seinem höchsten Zustand in Gott wohnt, nicht aber aufgelöst wird. Ferner ist es nicht das Sankhya, obwohl es die erschaffene Welt durch das doppelte Prinzip von Purusha und Prakriti erklärt. Und es ist kein Vaishnava-Theismus (der Verehrer des Vishnu, d. Ü.), obwohl es Krishna, der nach den Puranas der Avatar Vishnus ist, als die erhabene Gottheit darstellt und keine wesentliche Unterscheidung bzw. keine tatsächliche Überlegenheit an Rang zulässt zwischen dem undefinierbaren beziehungslosen Brahman und diesem Herrn der Wesen, der der Meister des Universums und der Freund aller Geschöpfe ist. Wie die frühere spirituelle Synthese der Upanishaden vermeidet diese spätere Synthese, die zugleich spirituell und intellektuell ist, ihrer Natur nach jede solche strenge Abgrenzung, die ihre universale Weite beeinträchtigen würde. Ihr Ziel ist genau entgegengesetzt dem der polemisierenden Kommentatoren, die in dieser Schrift eine der drei höchsten vedantischen Autoritäten aufgerichtet sahen und sie in eine Angriffs- und Verteidigungswaffe gegen andere Schulen und Systeme zu verwandeln suchten. Die Gita ist keine Waffe für dialektische Kriegsführung. Sie ist ein Tor, das Zugang zur ganzen Welt spiritueller Wahrheit und Erfahrung verschafft. Der Überblick, den sie uns gewährt, umfasst alle Gebiete dieser erhabenen Region. Sie stellt sie „kartografisch“ dar, aber sie zerschneidet sie nicht durch Mauern oder Zäune, die unsere Schau begrenzen.

In der langen Geschichte indischen Denkens gibt es noch andere Synthesen. Wir beginnen mit der Synthese der Veden. Diese verknüpft das psychologische Wesen des Menschen in seinem höchsten Flug und weitesten Schweifen in den Bereichen göttlicher Erkenntnis, Macht, Freude, Leben und Herrlichkeit eng mit dem kosmischen Dasein der Götter und geht ihnen hinter den Symbolen des materiellen Universums nach in jene höheren Ebenen, die den physischen Sinnen und der materiellen Mentalität verborgen sind. Die Krönung dieser Synthese war in der Erfahrung der vedischen Rishis etwas Göttliches, Erhabenes und Beseligendes, in deren Einung sich die aufschwingende Seele des Menschen und die ewige göttliche Fülle der kosmischen Gottheiten in vollkommener Weise treffen und zur Erfüllung bringen. Die Upanishaden nehmen diese krönende Erfahrung der früheren Seher auf und machen sie zu ihrem Ausgangspunkt für eine erhabene, tiefgründige Synthese spiritueller Erkenntnis. Zu einer umfassenden Harmonie ziehen sie all das zusammen, was durch eine große und an Früchten reiche Periode spirituellen Suchens hindurch von den inspirierten und befreiten Menschen, die das Ewige erkannten, geschaut und erfahren wurde. Von dieser Synthese des Vedanta nimmt die Gita ihren Ausgang und errichtet auf der Grundlage ihrer wesentlichen Ideen eine andere Harmonie der drei großen Mittel und Mächte Liebe, Wissen und Werke, durch die sich die menschliche Seele unmittelbar dem Ewigen nahen und sich in das Ewige versenken kann. Später gibt es noch eine andere Synthese, die des Tantra1. Sie ist zwar weniger subtil und spirituell tief, aber noch kraftvoller und kühner als die Synthese der Gita. Denn sie packt gerade die Hindernisse zu einem spirituellen Leben an und zwingt sie, Mittel für eine reichere spirituelle Eroberung zu werden. Dadurch befähigt sie uns, das Ganze des Lebens im Horizont unseres göttlichen Schauens als das Lila des Göttlichen2 zu umfassen. In mancher Hinsicht ist das Tantra unmittelbar reich und fruchtbar, denn es bringt, zusammen mit dem göttlichen Wissen, den göttlichen Werken und der gesteigerten Hingabe göttlicher Liebe, auch die Geheimnisse des Hatha-Yoga und des Raja-Yoga in den Vordergrund: Die Verwendung des Körpers und der mentalen Askese zur Erschließung des göttlichen Lebens auf all seinen Ebenen. Diesen Dingen schenkt die Gita ihre Aufmerksamkeit nur beiläufig und flüchtig. Außerdem enthält die tantrische Synthese jenen Gedanken, dass der Mensch göttlich vervollkommnet werden kann, eine Idee, die die vedischen Rishis kannten, die aber in den dazwischenliegenden Perioden in den Hintergrund gedrängt wurde, gleichwohl dazu bestimmt, in jeder künftigen Synthese menschlichen Denkens, Erfahrens und Strebens breiten Raum einzunehmen.

Wir Menschen des kommenden Tages stehen am Anfang eines neuen Zeitalters der Entwicklung, die zu solch einer neuen und umfassenderen Synthese führen muss. Unsere Berufung ist nicht, orthodoxe Anhänger einer der drei Schulen des Vedanta, des Tantra oder einer der theistischen Religionen der Vergangenheit zu sein, noch uns in den vier Ecken der Lehre der Gita zu verschanzen. Damit würden wir uns selbst eng begrenzen. Wir würden versuchen, unser spirituelles Leben aus Wesen, Wissen und Art anderer, aus dem der Menschen der Vergangenheit, zu erschaffen, anstatt es aus unserem eigenen Wesen und unseren eigenen Kräften aufzubauen. Wir gehören nicht zu den Morgendämmerungen der Vergangenheit, sondern zu den Mittagen der Zukunft. Eine Menge neuen Materials ergießt sich in uns hinein. Wir müssen uns nicht nur die Einflüsse der großen theistischen Religionen Indiens und der Welt und ein neugewonnenes Empfinden für die Bedeutung des Buddhismus einverleiben. Wir müssen auch den machtvollen, wenngleich begrenzten Offenbarungen moderner Erkenntnis und Forschung voll Rechnung tragen. Überdies kehrt die ferne, zeitlich unbestimmbare Vergangenheit, die tot zu sein schien, mit dem Aufblitzen vieler für das Bewusstsein der Menschheit lange verlorener lichtvoller Geheimnisse zurück und tritt jetzt wieder hinter dem Vorhang hervor. All das deutet auf eine neue, sehr reiche, sehr umfassende Synthese. Eine neue, weithin umfassende Harmonisierung all unserer Gewinne ist sowohl intellektuell wie spirituell notwendig für die Zukunft. Aber genauso, wie die bisherigen Synthesen die ihnen vorausgegangenen zu ihrem Ausgangspunkt nahmen, so muss auch die Synthese der Zukunft, wenn sie auf festem Grund weitergedeihen will, von dem aus fortschreiten, was die großen Gestaltungen spirituellen Denkens und spiritueller Erfahrung in der Vergangenheit gegeben haben. Unter diesen Gestaltungen nimmt die Gita einen höchst wichtigen Platz ein.

Wenn wir die Gita studieren, wird demnach unser Ziel nicht eine scholastische oder akademische Erforschung ihres Denkens sein, auch nicht die Einordnung ihrer Philosophie in die Geschichte der metaphysischen Spekulation. Auch werden wir mit ihr nicht auf die Art des analytischen Dialektikers umgehen. Wir nahen uns ihr, um von ihr Hilfe und Licht zu empfangen. Unsere Absicht muss sein, ihre wesentliche und lebendige Botschaft, also das in ihr zu unterscheiden, was sich die Menschheit für ihre Vervollkommnung und für ihr höchstes spirituelles Wohlergehen zu eigen machen muss. (3-11)

1 Man muss sich dessen erinnern, dass die gesamte Tradition der Puranas den Reichtum ihrer Inhalte aus dem Tantra bezieht.

2 Das kosmische Spiel.

Die Botschaft der Bhagavadgita

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