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1 Verwundert

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Gerd Fitsch, dieser Name ist groß in den Grabstein gemeißelt worden, vor dem die mittlerweile 27-jährige Sandy Hart steht. In Gedanken vertieft und in einer Eiseskälte dieser Winterzeit, legt sie aufrichtig eine rote Rose auf den Boden.

»Ach Opilie«, schnauft Sandy die Wörter aus der Seele mit einem schwachen Atemzug.

Dabei verliert sie eine Träne nach der anderen, während im Hintergrund der Laut zweier Glöckchen zu hören ist. Diese sind jeweils an den Schuhen einer alten Frau angebracht, die mit gefärbten pechschwarzen Haaren achtsam neben Sandy stehenbleibt. Auch sie bestückt das Grab von Gerd mit einer roten Rose, an der sich ein Zettel mit dem Namen des Blumengeschäftes befindet.

»Ich habe Sie noch nie gesehen, darf ich fragen, wer Sie sind?«, vergewissert sich Sandy mit der Sicht zum Grabstein.

»Wir haben uns bereits öfters gesehen, nur haben Sie nie hingeschaut.«

»Und wer sind Sie?«, will Sandy mit arroganter Stimmlage wissen, während sie der Frau noch immer keines Blickes würdigt.

Bis die Dame plötzlich Sandys Kinn zwischen die Finger nimmt und verlangt, ihr in die Augen zu sehen.

»Nichts ist respektloser, als einem den Zutritt zur Seele zu verweigern.«

Leicht am Herzen angetastet, schaut Sandy daraufhin in die Augen der Frau, die ihre blau angelaufenen Hände wieder zurück in die Jackentaschen packt.

»Ich sehe so viel Schmerz, so viel Kummer, Leid aber auch Hass. Ja, ich sehe Hass in Ihren Augen.«

Verfallen in dieser tiefgründigen Stimme der Älteren, ist nun in beiden Gesichtern die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu sehen.

»Wieso?«, stößt Sandy weinend heraus beim Anblick der Gegenüberstehenden.

»Wieso weinen Sie?«

»Mich nennen alle Glöckchen«, ignoriert sie tränenreich die Frage zuvor, wischt Sandys Tränen vom Gesicht und verlässt kurzerhand den Friedhof.

Im Anschluss schaut Sandy Glöckchen nur noch betrübt hinterher. Selbst einige Stunden später steht sie noch immer neben sich.

Mit einer Sonnenbrille versehen steigt sie am Abend vor einer großen Lagerhalle aus ihrem Wagen aus. Ein Rundumblick auf dem Gelände ermöglicht einem die Sicht über die gesamte Stadt. So hoch oben befindet sich der Parkplatz, auf dem Sandy von zwei Wächter freundlich und mit angemessenem Abstand begrüßt wird.

Ohne jeglichen Kommentar jedoch, wagt sie den Schritt ins Warme, wo ein großer Partyraum als ziemlich schön dekoriert und außerordentlich voll erscheint.

Darunter entpuppt sich noch ein wenig Weihnachtsschmuck, begleitet von sehr vielen Menschen, die an Stehtischen Snacks verspeisen und ihre kostenlosen Getränke zum Durstlöschen auskosten. Auch eine Liveband ist auf einer Bühne zu erkennen, um die Stimmung etwas aufzulockern.

Eilig stolziert Sandy in diesem ganzen Getümmel an der Wand entlang, um an einen Tisch in erster Reihe zu gelangen. Dabei trägt sie ein Kleid, das im Licht zauberhaft flimmert. Am Tisch angekommen, wird sie bereits freundlich erwartet.

»Die Rede hast du bereits verpasst«, erklärt ein etwas dickere Mann, der sich seinen Bauch beim Lachen festhält, während Küsschen rechts und links verpasst werden.

»Ach, ist ja eh jedes Jahr das gleiche Gerede«, antwortet Sandy selbstbewusst und greift sich ein Glas Orangensaft.

»Meine Abteilung habe ich noch gar nicht entdeckt.«

»Die werden sich vor dir versteckt haben und das wie ich sehe, wohl ziemlich gut«, gibt ein weiterer Kollege im förmlichen Anzug neunmalklug preis.

»Als wäre ich so schlimm.«

»In deinem Bezirk wirst du die Hexe genannt.«

»Meine Qualitäten als Chefin habe ich sehr gut präsentiert bis dahin und meine Mitarbeiter haben auch noch keinen Ton mir gegenüber verlauten lassen, dass ich mit einer Warze auf der Nase herumlaufe«, rechtfertigt sich Sandy erhobenen Hauptes, worauf ihr Blick auf einen Mann fällt, der in ihrem Alter scheint. Sofort von der Neugier getragen, schauen die Kollegen ihren Blicken hinterher.

»Meine Stellvertretung, ich werde mich entschuldigen dürfen.«

»Nur zu«, erlöst der kräftige Mann Sandy von dieser Runde, die sich daraufhin beeilt, Herrn Raven einige Tische weiter zu begrüßen.

»Seid ihr denn wirklich alle untergetaucht?«, fragt Sandy, während der hübsche Mann lachend den Kopf schüttelt.

»Sie haben einfach über ihre Kollegenschaft hinweggesehen, Frau Hart.«

»Na so ein Blödsinn«, meint Sandy überaus nervös und hängt sich im Anschluss in seinen Arm ein, um gezeigt zu bekommen, wo ihr Team denn ihren Platz hat. Dem Finger in Richtung Wand folgend, entdeckt sie ihr fünfköpfiges Team am Tisch stehend. Allesamt winken sie Sandy mit den Händen nach oben zu. Und auch sie grüßt diesmal lächelnd zurück, bevor sie in die großen Augen von Raven schaut.

Die darauffolgende Abfälligkeit ihrer Mitarbeiter ihr gegenüber bekommt sie von da an nicht mehr mit.

»Zum Glück kommt die nicht rüber«, spricht einer der Mitarbeiter lachend, nachdem ein anderer meint, dass sie sich prima unter dem Tisch versteckt hätten. Wieder dem Kreise von Sandy zugewandt, ist zu hören, wie sie über diese alte Frau vom Friedhof redet.

»Es wäre respektlos jemandem den Blick in die Seele zu verweigern, meinte sie.«

»Na dann los, Frau Hart, die anderen Seelen machen es uns bereits vor. Lassen Sie uns tanzen.«

»Ob ich das noch kann?«, fragt sie sich, während sie schon an der Hand zur Bühne geführt wird. Bei dem einen oder anderen Mitarbeiter lässt sich hierbei die Freude erkennen, den Anblick Sandys nicht mehr ertragen zu müssen.

»Dann schwingen wir mal unser Tanzbein.«

Sandy begrüßt diese Tanzeinlage voller Freude und fühlt sich frei in der Umgebung Ravens.

Dabei hält sie den Augenkontakt zu ihm aufrecht, der sie so tatkräftig unterstützt den Alltag zu vergessen. Eine kleine Gesangseinlage hier, eine kleine Drehung dort und schon scheint das Pärchen im Mittelpunkt der Abendsonne zu sein. Nun traut sich auch das Team von Sandy auf die Tanzfläche, um die Sau herauszulassen.

»Nun los, schwingen Sie Ihre Hüften«, meint Sandy keinen Meter weiter zu einem älteren Angestellten. Denn er versucht mit einem kleinen Lächeln seine Hüften steif hin und her zu bewegen.

Völlig gedankenlos und besessen von der Atmosphäre der imaginären Freundschaftsfeier, weist Sandy geradewegs Raven liebevoll ab.

Sie möchte ihrem untergeordneten Personal zeigen, wie auf solch einer Weihnachtsfeier richtig auf den Putz gehauen wird. Verwundert von dieser herzlichen Geste ihrer Chefin, trauen die anderen ihren Augen nicht.

Verwundert, wie liebevoll Sandy wohl sein kann. Da sie in diesem Moment ein Bild von sich zeigt, von dem ihre Mitarbeiter nicht mal geträumt hätten.

»So wird das Tanzbein geschwungen.«

»So kennt man Sie ja absolut nicht, Frau Hart«, kämpft eine junge Mitarbeiterin gegen die Lautstärke an, während die Tanzfläche immer mehr in Angriff genommen wird.

»Hören Sie, ich bin auch nur eine verzweifelte Träumerin zwischen all den Regeln und Vorschriften, die die Realität zu bieten hat. Doch manchmal muss man sich fallen lassen.«

Nachdem die Liveband auch noch ein One-Hit-Wonder spielt, werden nun alle zum lautstarken Singen animiert. Diese Melodie und Strophe lassen sich sogar noch Stunden später am Waldrand eines Einfamilienhauses lauschen, das umgeben ist mit Solarsternen.

Denn Sandy befindet sich hier mittlerweile zusammen mit Raven auf der Treppe ihrer Veranda, wo sie lebensfroh dieses Lied trällert. Und um dem Hit eine männliche Note zu verleihen, gibt Raven seine etwas dünne Stimme dazu. Den Kopf auf die Schultern ihrer Stellvertretung gelegt, genießt sie den letzten gesungenen Satz in vollen Zügen.

»Fühlen Sie sich nicht alleine hier oben, so weit weg von der Stadt?«, fragt Raven nach und streichelt liebevoll ihren Oberschenkel. Grinsend schmust sie sich an seinen Oberarm heran und antwortet mit geschlossenen Augen.

»Ich war mein ganzes Leben so gut wie alleine, ich liebe es mittlerweile. Ich liebe diese Stille, den Waldduft im Frühling, sowie den Schnee im Winter und die Sonne im Sommer, die durch die dichten Baumkronen blinzelt. Genauso mag ich die Blätter, die im Herbst auf den Boden fallen. Es ist einfach traumhaft.«

»Man könnte meinen, Sie würden sich von der Außenwelt abkapseln.«

»Vielleicht … wollen Sie eventuell noch auf einen Kaffee mit hereinkommen?«

»Oh«, meint Raven freundlich und steht von der Treppenstufe auf.

»Ich weiß nicht so recht … Sie sind immerhin meine Chefin.«

»Stellen Sie sich nicht so prüde an«, verlangt Sandy lächelnd, sich ebenfalls erhebend und läuft zur Haustür.

»Kommen Sie Herr Raven, wegen eines Kaffees werden wir unser Arbeitsverhältnis wohl nicht gleich zerstören«, befiehlt sie mit einem Augenzwinkern und öffnet die Tür.

»Na gut, Sie haben mich überredet.«

Nachdem sie das gemütliche große Wohnzimmer betreten haben, eilt Sandy sofort zum Kamin.

»Wunderschön«, kommentiert Raven die Sicht, wonach er die Tür hinter sich schließt und eine herzliche Wärme im Gesicht zu spüren bekommt.

Von einer Couchlandschaft angezogen fläzt er sich direkt entspannt hin.

»Kaffee hatten wir gesagt, nicht war?«, fragt Sandy nochmals nach, bevor sie in ihrer Küche nebenan, die durch eine Glaswand getrennt ist, Tee zubereitet.

»Wohnen Sie in diesem Haus ganz alleine?«, fragt Raven nach, während er inzwischen interessiert durch das Wohnzimmer läuft, mit der Absicht Bilder zu finden, die einem mehr von ihrem Charakter verraten können.

»Nett, nicht wahr?«, meint Sandy angelehnt an einen Küchenbogen, während sie wartet, bis das Wasser heiß genug ist.

»Keine Bilder?«

»Ich mag keine Bilder – alles Erinnerungen, die man vergessen möchte«, antwortet sie, bevor sie sich wieder der Zubereitung des Tees widmet.

»Ja, aber eventuell Bilder von gestern?«

»Das einzig Gute an gestern ist, dass es ein Heute gibt und ich diesen schönen Moment mit dir teilen kann.«

»Mit dir?«, fragt Raven schmunzelnd mit dem Blick zu Sandy nach, die zwei Tassen in der Hand hält und diese auf den Tisch stellt.

»Gerade in diesem Moment ist eine Sternschnuppe über mein Haus geflogen«, beginnt Sandy zu sprechen und setzt sich auf die Couch, auf der Raven ebenfalls wieder Platz genommen hat.

»Und da habe ich mir gedacht, mein Wunsch könnte ja in Erfüllung gehen.«

»Tee?«, fragt er sich plötzlich überrascht, nachdem er in seine Tasse geschaut hat, ohne noch eine Äußerung über Sandys Sternenwunsch zu tätigen.

»Kaffee, du wolltest Kaffee. Wo sind nur meine Gedanken?«

»Ach macht nichts, ich trinke auch Tee. Sie haben heute eine Menge Spaß verbreitet, wissen Sie das?«

»Fandest du?«

»Ja, sicher. Ich habe auch eine Menge Respekt vor dem, was Sie geleistet haben in so kurzer Zeit. Es so weit nach oben zu schaffen, hochachtungsvoll«, fügt Raven warmherzig hinzu und genießt sichtlich die Wärme von Sandy an seinem Körper.

Doch das wird auf einmal wieder schnell beendet, da sie sich von ihm abwendet und zur Tür eilt.

Verdutzt von dieser Handlung und diesem bösartigen Blick fragt Raven vorsichtig nach, ob er etwas falsch gemacht hat.

»Oh Herr Raven, denken Sie nicht, ich wäre auf den Kopf gefallen.«

»Schmeißen Sie mich raus?«

»Nach was sieht es denn wohl aus?«

»Wenn es den Eindruck gemacht hat, ich würde mit Ihnen diesen Abend genießen, nur um die Karriereleiter zu besteigen …«

»Hat es«, unterbricht Sandy überzeugt, während ihr vom eiskalten Wind, die Haare hin und her geweht werden.

»Und jetzt verschwinden Sie, Herr Raven!«

Enttäuscht und mit gesenktem Rücken ohne weiteren Kommentar, eilt er an ihr vorbei. Zu hören ist nur noch der Knall der Haustür, die hinter ihm zugeschmissen wird. Am ganzen Körper zitternd holt Sandy tief Luft und läuft ruckartig auf die Tasse mit dem Tee zu. Wutentbrannt nimmt sie diese in die Hand und schmeißt sie gegen die Haustür.

»Deinen scheiß Kaffee hast du auch nicht ausgetrunken! Scheißkerl!«

Die Tasse zerspringt beim Aufprall gegen die Holztür in tausend Scherben, so wie die Wut in Sandys Bauch, die sie mit einem lauten Schrei versucht zu lösen. Mit Schimpfwörtern nun um sich werfend, lässt sie sich auf ihr Sofa fallen, schreit all ihre Gedanken heraus und hofft auf Stille in ihrem Kopf.

Verträumt 2

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