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Eine russische Komödie

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Die Mittelklasse ging aus der Französischen Revolution von 1789 als Sieger hervor. Mit Hilfe der Unterklasse war es ihr gelungen, die französische Gesellschaft aus dem Zeitalter des Feudalismus in die Epoche des modernen Nationalstaates zu führen. Derselbe historische Szenenwechsel fand in Russland 1917 statt. Auch in der russischen Revolution war die Mittelklasse die treibende Kraft. Die Revolutionäre nutzten auf meisterliche Weise die unendliche Energie der Massen im Kampf gegen die letzten Bastionen einer ausgebrannten Oberklasse. Dass sie ihr Metier verstanden, kann man daran messen, dass die Revolution zu Ende geführt wurde, und die alte Ordnung unwiederbringlich zerschlagen war. Heutzutage ist es unvorstellbar, dass die ehemaligen Herrscher, das Geschlecht der Romanows und die Großgrundbesitzer, jemals ihre alte Machtposition wiedererlangen könnten. Die grundlegenden Umwälzungen in der russischen Gesellschaft konnten jedoch nicht verhindern, dass die soziale Struktur erneut ihr klassisches Gleichgewicht gewann. Die Oberklasse verschwand, ihr Platz wurde von der ehemaligen Mittelklasse besetzt, die Unterklasse verblieb in ihrer sozialen Position und eine neue Mittelklasse begann sich langsam herauszubilden.

Wie in Frankreich, so funktionierte auch in Russland die feudale Ordnung bis zuletzt. Die Aristokratie der Großgrundbesitzer bildete das Rückgrat der russischen Oberklasse. Die Macht, die sie über die Bauern hatte, war jedoch Ende des 19. Jahrhunderts vermindert. So hatte die Oberklasse das Recht verloren, Leibeigene zu verpfänden oder zu verkaufen. Im Jahre 1861 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben. In diesem Zusammenhang wurde ein neues System der örtlichen Verwaltung eingeführt und die Rechtsordnung verändert, was ebenfalls die Abhängigkeit der Bauern von ihren Herren verringerte. Obwohl diese Reformen für die Oberklasse einen Verlust an sozialer Macht bedeuteten, war ihre Position als Herrscherklasse doch in keiner Weise in Gefahr geraten. Die Reformen wurden nur langsam durchgeführt und sogar das Attentat auf den Zaren im Jahre 1881 wirkte bremsend auf die Selbständigkeitsbestrebungen der Bauern.

Seit Generationen waren die höchsten Ämter im Heer, in der Administration, im diplomatischen Dienst und in der Regierung den Großgrundbesitzern vorbehalten. Das bürokratische System in Russland war somit von den Interessen der Adligen geprägt. Vielen Angehörigen des Adelsstandes gelang es, eine Beamtenkarriere einzuschlagen und gleichzeitig der Verwaltung ihrer Güter vorzustehen. Die höchsten Staatsämter gingen wie in einer Erbfolge vom Vater auf den Sohn über. Änderungen in der sozialen Struktur waren damit ohne Billigung der Feudalklasse nicht möglich.

Für die russische Oberklasse war die Landwirtschaft die materielle Basis ihrer Machtausübung. Außerdem kontrollierte sie das staatliche Administrationssystem und die Streitkräfte. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begann sich eine ansehnliche Industrie zu entwickeln. Petersburg wurde zum Zentrum einer modernen Großindustrie, in Kivirog und um Moskau befanden sich beachtliche Erzbergwerke und im Donezbecken wurde Kohle gefördert. Um die Jahrhundertwende setzte eine stürmische Entwicklung des Eisenbahnverkehrs ein.

Das Interessante an diesem Industrialisierungsprozess ist jedoch, dass der keine Veränderungen der oberen Schicht in der sozialen Struktur bewirkte. Verglichen mit der industriellen Entwicklung in Westeuropa und den USA bildete sich nur eine kleine Klasse von Kapitalisten heraus. Das ist im wesentlichen dadurch zu erklären, dass der Industrialisierungsprozess hauptsächlich durch den Staat in Gang gesetzt und organisiert wurde. Diese Entwicklung führte zu einer größeren Zentralisierung und stärkte die Macht des Staatsapparates. Insgesamt stellte die Industrialisierung eine Bedrohung für die feudale Ordnung dar. Auf längere Sicht gesehen gefährdete sie nicht nur die führende Stellung der Landwirtschaft, sondern veränderte zudem die Methoden und Arbeitsgänge in den landwirtschaftlichen Betrieben. Dies allein war ausreichend, die Stellung der Feudalklasse ins Wanken zu bringen. Für den Ausgang der Entwicklung waren allerdings zwei andere Faktoren von entscheidender Bedeutung. Der erste ist die Mobilisierung der niedrigsten Schicht in der sozialen Struktur, die der Industrialisierungsprozess in Gang gesetzt hatte. Eine bedeutende Abwanderung vom Lande war zu verzeichnen, so dass sich in den Städten unter ärmlichsten Verhältnissen eine Arbeiterklasse herausbildete. Allein in Petersburg waren z.B. im Jahre 1917 etwa 400.000 Arbeiter der Großindustrie in primitiven Baracken zusammengepfercht. Diese Massen verkörperten eine schlummernde revolutionäre Kraft, die in permanenter Bereitschaft für den passenden Augenblick gehalten wurde.

Der zweite Faktor bestand darin, dass eine Anzahl von Angehörigen der Feudalklasse Einfluss in dem Teil des bürokratischen Systems zu gewinnen suchte, der den Industrialisierungsprozess durchführte. Obwohl dies im ersten Moment als Vorteil gewertet werden kann, erwies sich dieser Faktor als eine Bedrohung der Interessen der Oberklasse. Der Adel hatte damit eine Möglichkeit erhalten, den Verlauf des Industrialisierungsprozesses zu überwachen und dessen Richtung so zu lenken, dass dieser für die eigene Klasse keinen Schaden verursachen und ihr im Gegenteil von Vorteil sein konnte. Es war jedoch nicht zu vermeiden, dass die Industrialisierung im Laufe der Zeit die feudale Ordnung bedrohte. Die Interessen und Ideen der adligen Industriebürokraten waren nicht länger in Übereinstimmung mit denen des Landadels.

Von dieser Warte aus gesehen, war eine ideologische Spaltung in der führenden Schicht seit langem in Vorbereitung. Ein Teil der jungen Adligen wünschte sich eine Entwicklung für Russland nach westeuropäischem Vorbild. Mit Hilfe einer Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus sollte die Nation den Anschluss an die moderne Zeit erreichen. Diese Zukunftsvision wurde von einem anderen Teil der Oberklasse energisch bekämpft. Diesen Adligen ging es darum, Russland von der westeuropäischen Zivilisation zu isolieren, um die eigenen Privilegien zu beschützen. Die innere Spaltung der herrschenden Klasse war zu einer Tatsache geworden. Obwohl der Konflikt, der dieser Spaltung zugrunde lag, nicht von fundamentalem Charakter war, schwächte er doch die Verteidigungskraft der Klasse und konnte in einer Krisensituation zum Zünglein an der Waage werden.

Die Oberklasse war deshalb den Anforderungen, mit denen das Regime von Innen und Außen konfrontiert wurde, nicht mehr gewachsen. In der führenden Schicht wurden Ermüdungserscheinungen sichtbar. Innere Degeneration, schwindendes Selbstvertrauen und Perspektivlosigkeit lähmten den ohnehin schwachen Widerstandswillen der Klasse. Das Fehlen von Zukunftsvisionen, von Entscheidungskraft und resoluter Handlungsfähigkeit verurteilte die ehemals mächtigen Herrscher zum Untergang.

Zar Nikolaj II. war repräsentativ für eine Oberklasse, die mangelnde Willensstärke und eine falsche Realitätseinschätzung aufwies. Wankelmütigkeit verbreitete sich wie eine ansteckende Krankheit von der Spitze in die oberste Schicht der Gesellschaft. Diese Situation wurde noch durch eine Zarin verstärkt, die ihrem Gemahl beständig eine Wirklichkeit vorzauberte, die nicht mehr existierte. Auch sie war nicht in der Lage, die Kräfte zu erkennen, die sich systematisch gegen die feudale Ordnung mobilisierten.

Es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass sich die feudale Oberklasse fast von allein auflöste. Der Krieg gegen Japan und die Teilnahme am Ersten Weltkrieg sind deutliche Beweise dafür, dass die Führung des russischen Staates den technischen Anforderungen der modernen Kriegsführung nicht gewachsen war. Die Nachfolger der herrschenden Klasse hatten ein leichtes Spiel.

Die schwierigste Aufgabe bestand für die revoltierende Mittelklasse deshalb auch nicht in der Zerschlagung des alten Adels. Zuerst ging es darum, Ordnung in den eigenen Reihen zu schaffen. Die Mittelklasse war von Anfang an ideologisch gespalten. Die internen Streitigkeiten zehrten an ihren Kräften. Dieser Konflikt wurde jedoch erst nach der Revolution gelöst. Die nächste Schwierigkeit, mit der die Mittelklasse fertig werden musste, war ihre relativ geringe Anzahl. Die Struktur der russischen Gesellschaft unterschied sich von derjenigen westeuropäischer Staaten gerade durch eine zahlenmäßig geringe und schwache Mittelklasse. Dieses Handicap wurde dadurch aufgewogen, dass sowohl die Ober- als auch die Unterklasse noch schwächer waren. Das dritte Problem, dessen Lösung äußerste Geschicktheit und Dreistigkeit erforderte, bestand darin, die Unterklasse zu zähmen. Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass die internen Streitigkeiten in der ambitiösen Mittelklasse stets hinter dem gemeinsamen Verlangen nach der Klassenherrschaft und dem Wunsch nach der Zerschlagung der besitzenden Klasse zurücktraten. Der Streit ging um den Aufbau des zukünftigen Staates und um die Mittel, mit deren Hilfe die Spitze der Macht erklommen werden sollte.

Den festen Stamm der russischen Mittelklasse bildeten Intellektuelle, also Professoren, Lehrer, Juristen, Ärzte, Journalisten, Verfasser, Techniker und Studenten. Der Industrialisierungsprozess und eine wachsende Staatsbürokratie bildeten die materielle Grundlage für das Erstarken dieser Klasse. Der Bedarf nach Aufklärung und Bildung wuchs beständig, was die Lehranstalten näher ins gesellschaftliche Zentrum rückte. Kein geringer Teil der Studenten stammte aus dem wohlhabenden Bauernstand und kleinbürgerlichen, in Städten lebenden Familien. Viele Akademiker konnten sich deshalb nicht mit einer Herkunft aus der Oberklasse brüsten. Da der Staat unterdessen nicht in der Lage war, alle Akademiker zu absorbieren, konnten diese nicht die Anerkennung und Position erhalten, nach welchen sie gestrebt hatten. Die Unzufriedenheit unter den Intellektuellen nahm noch zu, als von einem bestimmten Zeitpunkt an die Staatsämter ausschließlich Adligen vorbehalten wurden. Hinzu kam, dass die soziale Situation vieler Studenten aussichtslos war. Sie lebten in äußerster Armut, mit dem ständigen Risiko, in die Arbeiterklasse abzusinken. Diese Aussicht und die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen im allgemeinen machte die Intellektuellen zu radikalen Revolutionären, die nur zu gewinnen hatten und nichts zu verlieren. Ihr kulturelles Niveau erhob sie hoch über die Volksmassen, nicht jedoch ihre ökonomische Lage. Ihre Ausbildung ermöglichte es ihnen, mit der Oberklasse zu konkurrieren, ihre ökonomische Situation jedoch errichtete unumstößliche Barrieren zwischen ihnen. Die Intellektuellen befanden sich in einem Vakuum, sowohl von der Ober- als auch Unterklasse getrennt. Gerade diese Tatsache machte sie zu einem beweglichen Faktor in der sozialen Struktur.

Zur Mittelklasse waren auch ein Teil der liberalen Groß-grundbesitzer, Industriellen und Geschäftsmänner zu zählen.

Die intellektuelle Mittelklasse war in verschiedenen Fragen gespaltener Meinung. Wann war der richtige Zeitpunkt zur Machtübernahme gekommen? Wer sollte die treibende Kraft in der Revolution sein? Wie sollte die soziale Ordnung nach dem Fall der Feudalmacht aussehen? Nach ihrer ideologischen Position ließen sich die Revolutionäre in vier Gruppen einteilen: Die Anarchisten, die Liberalen, die moderaten Sozialisten und die Bolschewiki. Nur wenige Anarchisten waren Intellektuelle. Dessen ungeachtet gab es in Russland eine starke anarchistische Tradition. Anarchistische Ideen waren besonders in der Unterklasse verbreitet. Im Gegensatz zu den intellektuellen Theoretikern lehnten die Anarchisten eine Revolution von oben ab. Nach ihrer Meinung würde eine solche Revolution nur ein neues Machtgebilde hervorbringen, das sich im Prinzip nicht von dem vorherigen unterscheide, nur die Führungsschicht würde ausgewechselt. Für die Unterklasse bedeute ein solcher Wechsel keine Änderungen, die Volksmassen hätten nur unter neuen Herren zu arbeiten. Deshalb müssten die Unterdrückten sich selbst befreien. Die Befreiung einer anderen Klasse zu überlassen sei unmöglich, da jede Klasse eine andere Vorstellung von Befreiung habe. Freiheit könne man nicht geschenkt erhalten, Freiheit könne nur erobert werden. Für die Anarchisten ging es nicht darum, die politische Macht zu revolutionieren, sondern diese abzuschaffen. Macht war in den Augen der Anarchisten eine vernichtende Kraft, die durch eine politische Revolution nicht aus der Welt zu schaffen war. Ein Auswechseln der politischen Führung erschien ihnen deshalb nutzlos. Innerhalb kurzer Zeit würde die Macht auch die neuen Führer vergiften und korrumpieren. Eine Revolution von oben sei nicht nur fruchtlos, sondern zugleich ein Verrat an den arbeitenden Massen.

Die Anarchisten erstrebten eine Revolution von unten, in deren Verlauf es in erster Linie um die Abschaffung jeglicher Autorität ging. Der Staat wurde als Hauptfeind betrachtet, diene er doch nicht den Menschen, sondern sei die Ursache aller Unterdrückung. Der Staatsapparat sei zu jeder Zeit ein Instrument in den Händen der herrschenden Klasse gewesen. Der Sinn der Revolution liege deshalb darin, diesen Apparat zu zerschlagen und zu sichern, dass sich keine neue Herrscherklasse dieses Apparates bedienen könne.

Die Anarchisten nährten die Vorstellung, dass eine neue soziale Ordnung aus den Ruinen einer in Stücke geschlagenen Staatsmacht erstehen könne. Diese Ordnung sollte auf einer Art freiwilliger, dezentraler Zusammenschlüsse beruhen. Sie nahmen an, dass sich eine Harmonie in den Beziehungen zwischen den Menschen von selbst einstellen würde, ist die Unterdrückung erst beseitigt. Ungerechtigkeiten würden nach dem Verschwinden der politischen Macht nicht mehr existieren. Der Mensch an und für sich sei gut, nur Tyrannei mache ihn unberechenbar.

Obwohl die Vorstellungen der Anarchisten vom Volk als romantisch, um nicht zu sagen als naiv bezeichnet werden müssen, lässt sich doch nicht leugnen, dass sie mit überzeugender Sicherheit den wunden Punkt jeglicher Machtphilosophie bloßlegten. Mit Recht waren sie misstrauisch gegenüber allen Philosophen, die Macht in ihren Theorien akzeptierten. Sie verabscheuten durchweg rationelle Systeme. Diese seien immer von Intellektuellen in Übereinstimmung mit den Interessen der Auftragsgeber geschaffen worden. Soll eine Gesellschaft mit rationellen Gesetzen geleitet werden, so ist dies gleichbedeutend mit der Rechtfertigung der Position der Intellektuellen an der Spitze des Staates. Die Anarchisten befanden sich deshalb in scharfer Opposition zur radikalen Intelligenz. Sie glaubten nicht, dass das Ziel der intellektuellen Sozialisten eine klassenlose Gesellschaft sei, sondern waren überzeugt davon, dass diese sich selbst als neue privilegierte Schicht etablieren wollten. Die Anarchisten unterstellten mehr oder weniger jedem linksorientierten Konkurrenten, eine soziale Ordnung zu erstreben, in der die Intellektuellen zur herrschenden Klasse aufrückten. Den marxistischen Intellektuellen warfen sie vor, das Proletariat als ein Mittel zum Zweck zu betrachten, als eine abstrakte Masse, die ausersehen sei, den historischen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Nach Meinung der Anarchisten sollten die Volksmassen aus eigenem Antrieb zu den Waffen greifen und eine soziale Revolution durchführen, ohne Beteiligung der Intellektuellen und insbesondere nicht unter deren Führung. Eine der anarchistischen Parolen lautete: „Schlagt die Studenten tot, wenn sie zu predigen beginnen!“

Heute ist bekannt, dass es nicht die anarchistischen Ideen waren, die den revolutionären Kampf inspirierten. Das bestimmende Element in der intellektuellen Mittelklasse hatte andere Pläne. Es herrschte Einigkeit, dass die gebildete Elite als Speerspitze fungieren sollte.

Das Ziel der liberalen Intellektuellen war eine bürgerliche Demokratie nach westeuropäischem Vorbild. In einem solchen System, so erwarteten sie, würde die politische Macht, die Regierung und die Bürokratie, in den Händen der liberalen Bürgerschaft liegen. Alle Gesellschaftsschichten sollten Zugang zu Aufklärung und Bildung haben, wodurch das Volk in größerem Umfang an der Führung teilnehmen könne.

Das war die Grundidee der meisten Sozialisten, deren übergeordnetes Ziel der Sozialismus war. Es erschien ihnen jedoch unmöglich, dass eine Gesellschaft direkt von der feudalen Ordnung zur sozialistischen übergehen könne. Ihrer Meinung nach stellte die Errichtung der bürgerlichen Demokratie eine notwendige Etappe dar, in der die Industrialisierung des Landes erfolgen sollte. In diesem Prozess würde sich der Kapitalismus nicht nur entfalten, sondern auch seinen Totengräber hervorbringen, nämlich die Arbeiterklasse. Wenn der Kapitalismus dann auf Grund innerer Widersprüche den Punkt baldigen Zusammenbrechens erreicht hat, könnten die Intellektuellen mit Unterstützung der Arbeiterklasse dem Feinde den vernichtenden Dolchstoss versetzen. Erst zu dann sei die Gesellschaft reif für den Sozialismus. Bis aus weiteres gelte es, die alte Ober­ klasse zu zerschlagen und dem Proletariat seine historische Mission bewusst zu machen.

Die radikalen Bolschewiki, an deren Spitze Lenin stand, hatten eine andere Auffassung. Lenin bezweifelte den Erfolg der schöpferischen und selbstregulierenden Kräfte einer Massenbewegung ohne koordinierende Führung. Er glaubte nicht, dass eine baldige Erhebung der Massen zu erwarten war. Durch seine Erfahrungen in Westeuropa wusste er, dass die bürgerliche Demokratie dämpfend auf die revolutionären Kräfte der Arbeiterbevölkerung wirkte. Die Aktionen der Arbeiter waren nur gegen einzelne Arbeitgeber gerichtet und hatten zum Ziel, die Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu verbessern. Der Sturz des Kapitalismus lag nicht mehr als aktuelle Aufgabe in ihrem Aktionsradius, denn je größer die ökonomischen Vorteile, die sich die Arbeiterklasse erkämpfte, waren, desto geringer wurde ihr revolutionäres Bewusstsein. Auf diese Weise wurden die Arbeiter verbürgerlicht. Lenin kam daher zu der Schlussfolgerung, dass der Aufbau des Sozialismus nach einer bürgerlichen Revolution eine Unmöglichkeit sei. Mit rhetorischer Überzeugungskraft und enormer Willensstärke verteidigte er die These, dass eine Übergangsperiode mit parlamentarischer Demokratie übersprungen werden muss.

Der Übergang vom Feudalismus zum Sozialismus war nur mittels einer zielgerichteten Revolution zu bewerkstelligen. Eine solche konnten die Massen aus eigener Kraft weder auslösen noch durchführen. Eine derartige Umwälzung war nur möglich unter Führung einer geschulten, disziplinierten und harten Elite, die die Massen mit Schlagwörtern unaufhaltsam vorwärtstrieb.

Die Möglichkeit, eine Revolution von oben zu inszenieren, war bereits von P.N. Tkatschow, der 1885 starb, in Erwägung gezogen worden. Dieser Revolutionär unterstrich die Notwendigkeit einer konspirierenden Elite, die ohne Rücksichtnahme auf die Kampfbereitschaft der Massen die Staatsführung erobern sollte. Er vertrat darüber hinaus die Meinung, dass die Machtübernahme zu einem Zeitpunkt erfolgen muss, bevor sich der Kapitalismus zu einem Machtfaktor entwickelt habe, da dieser stabilisierend auf die geschwächte Feudalherrschaft wirken könnte.

Diese Gedanken wurden von Lenin weiterentwickelt. Er behauptete nun, dass man nicht auf eine spontane Erhebung der Massen, wie dies insbesondere von Anarchisten vorhergesehen wurde, warten könne. Es gehe vielmehr darum, eine effektive Organisation von Berufsrevolutionären zu schaffen. Dieser gestählte Kern überzeugter Männer sollte sowohl über Handlungskraft als auch philosophische und historische Kenntnisse verfügen und die revolutionäre Theorie ausgezeichnet beherrschen. Eine solche kleine Elite, davon war Lenin überzeugt, konnte nicht nur das Bewusstsein der Massen sondern auch den Gang der Geschichte verändern. Die Elite, das ergibt sich aus der Natur der Sache, musste aus Intellektuellen bestehen, die derselben Klasse angehörten wie Lenin. Die revolutionäre Strategie wurde in folgender Parole zusammengefasst: "Gib uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden ganz Russland umstürzen!" Es war also keine Rede von einer breiten Organisation, die den Volksmassen offenstand, sondern nur von einer kleinen, disziplinierten Partei, vergleichbar Mauerbrechern, die die Bastionen der Oberklasse erfolgreich stürmen, die Spaltung der Mittelklasse überwinden und die revolutionäre Energie der Unterklasse dirigieren sollte. Das bedeutete nichts anderes, als dass alle Massenbewegungen und sozialen Veränderungen von einer intellektuellen Elite geleitet werden sollten. Mit dieser katastrophalen Lehre rechtfertigten die Intellektuellen fortan ihre Rolle als Administrator der Gesellschaft. Diese Ideologie, von Intellektuellen formuliert, war eine gefährliche Waffe in den Händen der ambitiösen Mittelklasse. Damit unterwarf sie die Unterklasse ihren eigenen Interessen.

Der Gedanke, dass die Entscheidungsmacht der breiten Bevölkerung einem revolutionären Kern übertragen wird, steht im Gegensatz zu den Grundlagen des Marxismus. Karl Marx hatte die Vorstellung, dass das Proletariat selbst den Staat erobern würde, wenn der Kapitalismus sein letztes, sich selbst zerstörendes Stadium erreicht hatte. Die marxistische Lehre hat einen theoretischen Aspekt, der darin besteht, dass die Entwicklung infolge historischer Gesetze unausweichlich zum Sturz des Kapitalismus und Sieg des Proletariats führt und einen Aktionsaspekt. Demnach würde die Unterklasse in einem letzten entscheidenden Kampf sich von ihren Ketten befreien und ihre Unterdrücker vernichten. Lenin hat sich den Aktionsaspekt ausgewählt und diesen mit der verhängnisvollen Elitetheorie erweitert. Auf diese Weise wurde der Marxismus den Interessen der Intellektuellen angepasst. Er wurde damit zu einem Instrument, das diese Klasse auch in Zukunft anwenden konnte. In ihrer Rolle als revolutionärer Vortrupp oblag es den Intellektuellen, die Marschrichtung festzulegen und die Befehle zu geben. Der resoluten bolschewistischen Avantgarde gelang es außerdem, die moderaten Sozialisten, die Anarchisten und die sogenannten bürgerlichen Intellektuellen zu besiegen. Im Kampf um die Gestaltung einer neuen sozialen Ordnung konnte diese strenge Organisationsform ihre Überlegenheit beweisen.

Den Bolschewiki kommt jedoch nicht allein das Verdienst zu, die Feudalherrschaft gestürzt zu haben. Die Februarrevolution von 1917 muss als Aufstand charakterisiert werden, in dem die Verzweiflung der Volksmassen die letzten Reste der Zarenherrschaft und deren Autorität hinwegfegten. Der Druck, den die revolutionäre Mittelklasse ein halbes Jahrhundertlang lang auf die Oberklasse ausgeübt hatte, hatte das Regime untergraben und zu einem leichten Opfer gemacht. Auch der Krieg hatte günstige materielle Voraussetzungen für revolutionäre Aufstände geschaffen. In den Großstädten fehlte es an Brot und Brennstoffen, in den Fabriken wurde ohne Disziplin und mit geringem Arbeitstempo gearbeitet, und die Menschen litten unter entwürdigenden Wohnverhältnissen. Diese Faktoren bereiteten den Boden für die Februarrevolution, die als Werk der Unterklasse ist. Es war die Unterklasse, die das morsche Zarenregime zum Einsturz brachte, so dass ab dem 27. Februar die Soldaten und Arbeiter die Herrschaft in der Hauptstadt St. Petersburg ausüben konnten.

Überall wurden nun Arbeiter- und Soldatenräte, die sogenannten Sowjets, errichtet. Zu gleicher Zeit begann das Dumakomitee die parlamentarische Arbeit aufzunehmen. Eine provisorische Regierung wurde gewählt, die umgehend demokratische Rechte einführte. Russland stand vor dem Problem, ob in Zukunft die Duma, als Grundlage für eine bürgerliche Republik, oder die Sowjets das Rückgrat der politischen Ordnung sein sollte. Die provisorische Regierung wurde zwar von dem einflussreichen Arbeiter- und Soldatenrat von St. Petersburg anerkannt, in der Praxis hatte Russland aber in der Zeit zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution zwei Regierungen. Offiziell war die provisorische Regierung das höchste Führungsgremium des Landes, der St. Petersburger Sowjet beherrschte jedoch das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen sowie die Miliz, die die Nachfolger der Polizei bildete. Außerdem kontrollierte der Petrograder Sowjet, wie er nun genannt wurde, die bewaffneten Streitkräfte der Stadt. Nach und nach wurde dessen Einfluss auf alle bewaffneten Truppenverbände des Landes ausgedehnt. Die Sowjets setzten im allgemeinen auch Löhne und Preise fest, bestimmten über Arbeitsbedingungen und entschieden über die Besetzung von Beamtenstellungen.

Die provisorische Regierung erstrebte ein demokratisches System nach westeuropäischem Vorbild. Da die Regierung jedoch hauptsächlich aus bürgerlichen Intellektuellen bestand, wurde sie durchweg von den Sowjets abgelehnt und nicht als Regierung des Volkes betrachtet. Die meisten Sozialisten waren der Meinung, dass die bürgerliche Demokratie ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Sozialismus sei. Die provisorische Regierung wurde daher von den moderaten Sozialisten anerkannt und teilweise von ihnen gestützt. Sie vertraten den Gedanken, dass die Arbeiterbewegung den Kampf der bürgerlichen Intellektuellen gegen die Feudalklasse unterstützen sollte. Feindschaft zwischen Arbeitern und Bürgertum sollte vermieden werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt waren sogar die Bolschewiki bereit, einen Friedensvertrag mit den moderaten Sozialisten zu schließen.

Die Tendenzen zur Verbrüderung, um die in der Februarrevolution erzielten Ergebnisse zu bewahren, wurden von Lenin hintertrieben. Seine Ankunft in Petrograd, im April, wurde zum bestimmenden Ereignis für die weitere Entwicklung. In der Debatte um die zukünftige Rolle der Sowjets und der provisorischen Regierung stand sein Standpunkt unveränderlich fest. Alle Macht den Sowjets und keine Unterstützung der Regierung, forderte er. Mit Trotzkis Hilfe gelang es Lenin, die Partei der Bolschewiki zu einem schonungslosen Kampf gegen die provisorische Regierung zu überreden. Damit waren die Tage dieser Regierung gezählt.

Die Ursachen, die zum Fall der bürgerlichen Demokratie und zum Sieg des Bolschewismus führten, lassen sich nicht in wenigen Worten beschreiben. Die provisorische Regierung fühlte sich mehr oder weniger gezwungen, eine Demokratie zu verfechten, für die kaum eine materielle Basis gegeben war. Diese Aufgabe war fast unmöglich zu lösen. Auf der anderen Seite hat die Regierung zu lange gezögert, effektiv gegen die offene Konspiration der Bolschewiki einzuschreiten. Hinzu kommt, dass die moderaten Sozialisten die Regierung nur halbherzig unterstützten. Den Regierungsmitgliedern selbst fehlte das nötige Selbstvertrauen und der Wille zur Macht, wodurch sie der überlegenen Organisation der Bolschewiki die Arbeit erleichterten. Die provisorische Regierung war sich auch nicht der Bedeutung des moralischen Rechts bewusst. Ihre Politik den Krieg fortzusetzen, obwohl das Heer sich in Auflösung befand, hatte katastrophale Folgen. Zwei weitere Unterlassungen untergruben die moralische Berechtigung der Regierung. Die provisorische Regierung verzögerte zum einen die Einberufung einer grundgesetzgebenden Versammlung und zum anderen die Verabschiedung eines Gesetzes über die Bodenreform. In einer revolutionären Situation bleiben derartige Versäumnisse auf moralischem Gebiet nicht ungestraft.

Die Nachlässigkeit der provisorischen Regierung, ihre Legitimität zu sichern, wurde prompt von der bolschewistischen Elite ausgenutzt. Diese wusste die Bedeutung einer geschickt gesteuerten Propaganda zu schätzen. Seit der Französischen Revolution hat die Welt kein Beispiel zweckdienlicherer Agitation gesehen. Eine maßgeschneiderte Propaganda appellierte direkt an die Gefühle der breiten Massen. In einfachen Worten wurden Gemeinplätze, kaum Tatsachen, ins unendliche und mit einer solchen Überzeugung wiederholt, dass man leicht Agitation mit tiefsinnigen Wahrheiten verwechseln konnte.

In jeder revolutionären Phase entfaltet sich eine rege geistige Aktivität, in der lange zurückgehaltene Energien plötzlich hervorzubrechen scheinen. Die verbale Wirksamkeit erreichte ungeahnte Höhen. Dies hatte man während der Französischen Revolution erlebt, und die russische Komödie machte keine Ausnahme. Ein unerschöpflicher Quell neuer Ideen begann zu sprudeln. Eine Flut neuer Zeitungen und Zeitschriften kam auf den Markt, Beratungen und Konferenzen fanden vermehrt statt. Es wurde demonstriert, marschiert, Proklamationen wurden erlassen, Klagen eingereicht und Delegationen ernannt. Eine ganze Nation war in Aufbruch. Nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die Volksmassen hatten sich erhoben und offenbarten einen verblüffenden geistigen Reichtum. Überall diskutierte man und Vorträge wurden gehalten, in Schulen, auf Strassen und Plätzen, in Straßenbahnen, in den Fabriken, in den Gewerkschaften, im Theater, in den Kasernen und Klubs. Eine glühende Beredsamkeit und ein optimistischer Schaffensdrang kamen zur Entfaltung. Bisher unscheinbare Menschen entwickelten überraschende rhetorische Fertigkeiten. Waren auch nicht alle Reden reine Meisterwerke, so waren sie doch Teil eines großartigen historischen Schauspiels, das die Welt in Erstaunen versetzte. Einen Augenblick lang konnte man die schöpferische Kraft des Volkes verspüren. Wie ein Komet erleuchtete sie den dunklen Himmel, um aber schon bald wieder zu verblassen. Die revolutionäre Mittelklasse entriss dem Volke die Fackel. Die Intellektuellen hatten die Revolution herbeigeführt, um ihr eigenes Licht zu verbreiten.

Die bolschewistischen Intellektuellen hatten unterdessen ihre Beredsamkeit zu größerer Vollkommenheit entwickelt als ihre Konkurrenten. Trotzkis Reden waren rhetorische Kunstwerke, die den Vergleich mit den brillanten Reden der Französischen Revolution nicht zu scheuen brauchten. Genauso kunstfertig erwies sich die bolschewistischen Elite in der Fähigkeit, sich als Proletarier zu maskieren. Die Experten der Revolutionstheorie waren sich der Wichtigkeit dieser Strategie voll bewusst. Die Verkleidung der Bolschewiki erreichte eine Perfektion und zählt zu den besten in der Revolutionsgeschichte. Später sollten die chinesischen Revolutionäre alle diesbezüglichen Rekorde schlagen. Die Kleidung, das Benehmen und die Sprechweise der bolschewistischen Elite waren so gekonnt imitiert, dass man nur bei sehr genauem Hinsehen die Kopie vom Original unterscheiden konnte. Vor der Revolution hatten dies nur die Anarchisten erkannt. Nach der Machtübernahme konnten es alle sehen, aber da war es zu spät.

Die Organisation der Bolschewiki, mit ihrer skrupellosen Führung und Überredungskunst und der Fähigkeit, eine den Volksmassen gemäße Propaganda zu betreiben, hatten bald überraschende Ergebnisse erzielt. Niemandem war es bisher gelungen, die öffentliche Meinung auf so geniale Weise zu beeinflussen. Die intellektuelle Elite verstand es, ihre Sache als eine Angelegenheit höherer Gerechtigkeit, als moralisch unantastbar und als einleuchtende Wahrheit glaubwürdig darzustellen. Die Handlungen des Gegners hingegen wurden als Zeichen der Schwäche und Feigheit sowie als Versuche, das Volk zu unterdrücken, ausgelegt. Die Bolschewiki behaupteten, dass sie ausschließlich den Kampf der Unterklasse kämpften. Frieden für die Soldaten, das Land den Bauern und Brot für die Arbeiter waren ihre Parolen. Wie zur Zeit der Französischen Revolution, mangelte es nicht an betrügerischen Versprechungen der Mittelklasse. Selbst Skeptiker konnten sich dem verführerischen Einfluss der revolutionären Parolen und Phrasen nicht entziehen. Voller Unverfrorenheit verkündete die Elite, dass die russische Arbeiterklasse die Avantgarde des internationalen Proletariats, der Vortrupp der Weltrevolution sei. Solche Reden mussten auf die Menschen in Westeuropa befremdend wirken. Die Arbeiterbewegungen in diesem Teil der Welt verfügten bereits über bedeutende Erfahrungen im revolutionären Kampf und standen auf einer höheren Aufklärungsstufe. Doch in einer revolutionären Situation geht es nicht so sehr um Sachlichkeit, sondern in erster Linie darum, mittels einer schmackhaften und überzeugenden Propaganda die freigewordenen Energien der aufrührerischen Massen in die richtigen Bahnen zu lenken. Diese Aufgabe meisterte die intellektuelle Avantgarde exzellent. Möglicherweise war dies die wesentlichste Ursache für den Sieg der Intellektuellen im Oktober 1917.

Wie die französischen Revolutionäre suchte die siegreiche russische Mittelklasse die Unterstützung des Bauernstandes. Die Bauern fürchteten zwar den Sozialismus, aber noch mehr die Großgrundbesitzer. Analog zu den Ereignissen in Frankreich rechnete das Landproletariat selbst mit seinen Unterdrückern ab und verteilte den Boden untereinander. Dieser blutige Aufruhr verlief parallel mit der Revolution in den Städten und im Heer. Die Bezwingung des mächtigen Feudaladels durch die Bauern und die bolschewistische Machtübernahme wurden deshalb als ein Prozess aufgefasst. Auf diese Weise wurden die Bauern mit der Revolution verbunden. Da die Bauern die Bolschewiki den alten Herren vorzogen und die Rückkehr der Großgrundbesitzer befürchteten, unterstützten sie bis zu einem gewissen Grad die Revolution. Es ist jedenfalls eine Tatsache, dass die Bauern die Revolution anfangs nicht bekämpften. Die revolutionäre Avantgarde war in der Bauernfrage nicht kleinlich mit falschen Parolen und verräterischen Zugeständnissen.

Die bolschewistischen Theoretiker waren ohne Zweifel ihren Gegner in allen Punkten, die für den revolutionären Prozess bedeutungsvoll waren, überlegen. Die meisten von ihnen besaßen internationale Erfahrungen. Während ihrer Aufenthalte in Westeuropa waren sie mit den modernsten philosophischen Ideen in Berührung gekommen. Der Marxismus war sicherlich zum damaligen Zeitpunkt die passende revolutionäre Theorie, die Lenin auf die russischen Verhältnissen anwenden konnte. Er wurde in ein ideologisches Instrument für den aktuellen politischen Kampf verwandelt, in dem die Beeinflussung des Bewusstseins der Massen eine wichtige Funktion einnahmen. Die klassische marxistische Lehre sieht das Bewusstsein als ein Produkt der materiellen Bedingungen an. Dagegen räumt Lenins weiterentwickelte marxistische Theorie dem Bewusstseinsfaktor eine selbständigere Rolle ein. Die ökonomischen Voraussetzungen traten damit etwas in den Hintergrund. Die Lehre von der ausschlaggebenden Bedeutung der richtigen Organisation verfolgte dieselbe Richtung. Der Erfolg Lenins, eine Arbeiterpartei neuen Typus geschafft zu haben, reichte lang über die revolutionäre Zeit hinaus.

Eine weitere Besonderheit, der oftmals keine Beachtung geschenkt wird, soll erwähnt werden. Typisch für frühere Revolutionen der Mittelklasse war, dass diese unter dem Banner der Gleichheit und Freiheit starteten. Endlose Reden und Schlagwörter zu diesem Thema waren fester Bestandteil in den revolutionären Komödien. Der letzte Akt endete jedoch immer mit der Errichtung einer Gewaltherrschaft. Die russische Mittelklasse veränderte die Szenenfolge und verkündete die Gewaltherrschaft schon im Prolog. Diese Taktik erschien auf den ersten Blick aussichtslos zu sein, doch in Wirklichkeit gehört die Proklamation der Diktatur des Proletariats zu den genialsten Entwicklungen innerhalb der Revolutionstheorien. Diese programmatische Ankündigung der Diktatur hatte unschätzbare Vorteile, denn man sprach natürlich nicht von der Diktatur der Intellektuellen, sondern von der Diktatur der Arbeiterklasse. Historische Erfahrungen wurden auf den Kopf gestellt. Die Oberklasse sollte Unterklasse und die Unterklasse Oberklasse werden, die Unterdrückten sollten die Rolle der Unterdrücker übernehmen.

Die Genialität dieses Vorgangs lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Zum ersten appellierte die bolschewistische Elite an das verständliche Rachegefühl der Unterdrückten. Die Rollen mussten getauscht werden! Mit diesem Programm war es nicht schwierig, die Unterklasse zu gewinnen. Zum zweiten hatte die Vorankündigung der Diktatur den Vorteil, dass nach der Revolution keine Anklagen über die Unterdrückung elementarer Freiheitsrechte erhoben werden konnten. Jegliche Unterdrückung war von vornherein legitimiert als Notwendigkeit für den erfolgreichen Ausgang der Revolution, in der die Volksmassen selbst als Geburtshelfer agiert hatten. Und zum dritten konnte man mit der Diktaturtheorie spätere Revolten des Proletariats verhindern. Die Arbeiter waren dann selbst die Herren im Hause. Dieser raffinierte Gedankengang entzog den Arbeitern die Basis für eine Fortsetzung des Klassenkampfes nach der Revolution, denn man kämpfte logischerweise nicht gegen sich selbst.

Der Gedanke, die Errichtung einer Diktatur im Voraus zu rechtfertigen, war absurd. Die Theoretiker behaupteten, dass die Diktatur eine Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der Revolution sei. Historische Erfahrungen aber zeigen, dass Diktaturen niemals errichtet wurden, um eine Revolution zu verwirklichen, sondern dass Revolutionen oftmals stattfanden, um später eine Diktatur zu etablieren. Ist eine Diktatur erst einmal errichtet, kann diese nicht ohne Kampf beseitigt werden.

Die Oktoberrevolution verlief wie in einem Rausche. Ein unbändiger Enthusiasmus lag in der Luft und die Begeisterung hatte das ganze Land ergriffen. Die erwachten und sich erhebenden Volksmassen strahlten Stolz und Selbstvertrauen aus. Die unterdrückte Bevölkerung war voller Erwartungen für eine bessere Zukunft. Ihr Jubel währte jedoch nur kurze Zeit, denn es war nicht die Revolution des Proletariats, sondern die Revolution der Mittelklasse, in der die Volksmassen als Hilfstruppen das Streben der bolschewistischen Elite unterstützt hatten. Die siegreichen Intellektuellen standen nun vor der Aufgabe, die Macht zu festigen und die Unterklasse auf ihren Platz zu verweisen. Zu allererst mussten sie sich als Regierende legitimieren. Jedes Regime braucht ein philosophisches und politisches Alibi, um seine Machtausübung zu rechtfertigen. Wie schon angeführt, ist der Kampf um das moralische Recht von entscheidender Bedeutung in einem revolutionären Prozess. Obwohl diese Aufgabe schwierig erscheinen mag, so lösten sie die bolschewistischen Intellektuellen auf verblüffend einfache Weise: Sie behaupteten, das Proletariat zu repräsentieren, und damit die Regierungsmachtausüben zu müssen. Andere Revolutionäre vertraten die Ansicht, dass die Revolution ein Sieg der Sowjets sei und die Regierungsmacht deshalb diesen Organen zufallen sollte.

Die Sowjets waren ursprünglich als Streikkomitees in der Revolution von 1905 entstanden. Nach dem Sturz des Zaren 1917 erlebten sie eine Renaissance. Sie entfalteten eine hektische Aktivität und maßten sich Befugnisse an, die normalerweise Regierungsstellen zustanden. Einige Revolutionäre hegten die Vorstellung, dass die Räte überhaupt die Regierung, die letztlich ein Unterdrückungsinstrument sei, ersetzen sollten. Im Revolutionsjahr verbreiteten sich die Sowjets über das ganze Land, sie waren im Heer, in den Fabriken und auf dem Land zu finden. Im Juni desselben Jahres entstand eine nationale Förderation der Sowjets. In den lokalen Räten hatten die Arbeiter in Kollektiven die Leitung der Produktion anstelle der Fabrikanten und Direktoren übernommen. Gewaltige Kräfte kamen auf diese Weise zum Einsatz, Begeisterung musste die mangelnde Erfahrung kompensieren. Im Juni 1917 war das russische Reich für eine kurze Zeit eine Arbeitergesellschaft. Volkseigene Arbeiterläden wurden eröffnet. Es wurde versucht, Geld als Zahlungsmittel abzuschaffen. Die gesamte Produktion war fast vollkommen unter die Kontrolle der Massen geraten. Die Dorfsowjets beschlagnahmten den riesigen Grundbesitz der Großgrundbesitzer und begannen, diesen zu verteilen. Von den Räten gingen vor und während der Revolution unzählige Impulse aus, die den revolutionären Kampf stärkten. Es wurde deshalb erwartet, dass der Aktionsradius der Räte nach der Revolution weiter ausgedehnt würde. Diese Annahme erschien, nicht zuletzt auf Grund Lenins Forderung "Alle Macht den Sowjets" im April 1917, realistisch zu sein.

Die Räte wurden unterdessen von moderaten Sozialisten kontrolliert, die nicht uneingeschränkt die bolschewistische Behauptung, die einzig wahren Vertreter des Proletariats zu sein, vertraten. Unter diesen Umständen veränderten die Bolschewiki ihre Pläne über die zukünftige Rolle der Räte in der neuen sozialen Ordnung.

Die Forderung "Alle Macht den Sowjets" wurde modifiziert zu "Alle Macht der Partei". Den Bolschewiki war es im Frühjahr 1918 gelungen, die Sowjets unter ihre Kontrolle zu bringen. Im Interesse einer effektiven Machtausübung wurden die Räte der Parteipolitik untergeordnet. Die Parteimitglieder rechtfertigten die Unterdrückung der Sowjets mit der Behauptung, die Arbeiterräte könnten nur unter der Bedingung existieren, dass sie die führende Rolle der Partei anerkennen und deren Politik unterstützen. Diese These war zudem ein direkter Angriff auf die Anarchisten.

Das Legitimitätsproblem der Bolschewiki war nicht allein auf deren Verhältnis zu den Sowjets begrenzt. Die provisorische Regierung hatte die Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung auf den November festgesetzt. Immer wieder hatten die Bolschewiki der Regierung vorgeworfen, die Durchführung der Wahlen hinauszuschieben, weshalb die neuen Machthaber die Wahlen nicht absagen wollten. Wie sich dann herausstellte, waren nur 25% der gewählten Delegierten zur Anerkennung des Bolschewismus bereit. Als die Versammlung sich weigertet eine vorgelegte bolschewistische Resolution anzunehmen, wurde das Gebäude von Rotgardisten umringt und die gesetzgebende Versammlung gesprengt. Die entschlossenen, machthungrigen Bolschewiki hatten einen weiteren leichten Sieg errungen.

Die russischen Arbeiter hatten während der Revolution heldenmütig gekämpft. Trotzdem gelang es ihnen nicht, den erzielten Einfluss im Produktionsablauf zu behalten. Die entscheidende Frage nach der Revolution lautete: Wer soll den Aufbau der sozialistischen Ökonomie leiten und wie soll dieser Prozess verlaufen? Sollte die Gestaltung der neuen sozialen Ordnung von den Arbeitern und Bauern übernommen werden oder von einer Klasse, die nicht direkt am Arbeitsprozess teilnahm, geleitet werden? Der revolutionäre Einsatz der Unterklasse basierte auf der Vorstellung, die Gestaltung und Leitung der Produktion selbst übernehmen zu können. Diese Gedanken resultierten aus der Erkenntnis, dass die Klasse, die die Ökonomie beherrscht, auch die Gesellschaft beherrscht. Hier lag der Schlüssel zur Macht. Wie bereits erwähnt, hatten die Arbeiter die ehemaligen Herren entmachtet, einen Fabrikrat gebildet und eine kollektive Leitung gewählt. Das Kollektiv bestand aus gewählten Arbeitern des jeweiligen Unternehmens und ersetzte sozusagen das kapitalistische Prinzip der Einzelleitung. Es dauerte nicht lange, bis es zu Uneinigkeiten über die Führungsmethoden kam. Die siegreiche Mittelklasse bemächtigte sich mit Selbstverständlichkeit der Staatsorgane der alten Oberklasse, war dies doch das Ziel der Revolution gewesen. Die kollektive Leitungsmethode wurde umgehend von den Partei- und Staatsorganen durch die Einzelleitung ersetzt, indem man sogenannte "bürgerliche Spezialisten“ aus der vorrevolutionären Periode beauftragte, die ökonomische Leitung zu übernehmen. Die große Klasse der ausgebildeten Intellektuellen erhielt damit die Möglichkeit, die Rolle der ehemaligen Machthaber zu spielen und die Plätze der verdrängten Kapitalisten einzunehmen.

Um diese Entwicklung zu verstehen, sollte man beständig vor Augen haben, dass es sich um eine Revolution der Avantgarde und nicht der Massen beziehungsweise Massenorganisationen handelte. Dieser Avantgarde gelang es, die Herrschaft während des gesamten revolutionären Prozesses zu behalten. Die Revolution endete deshalb damit, dass die siegreiche Klasse ihren Klassenbrüdern die Türen zu den ökonomischen, politischen und organisatorischen Schlüsselstellungen im Staate öffnete. Dieses Vorgehen machte den Bolschewismus auch für diejenigen Intellektuellen der Mittelklasse annehmbar, die bis dahin das Vorgehen der bolschewistischen Elite mit Skepsis betrachtet hatten.

Das Prinzip der Einzelleitung war der Kern der individualistischen Weltanschauung der französischen Bourgeoisie. Die der Französischen Revolution von 1789 immanente Freiheitsbotschaft begrenzte jedoch die Gefahr der willkürlichen Ausnutzung dieses Prinzips. Die Programmatik der russischen Revolution von 1917 beinhaltete keinerlei Freiheitsbotschaften. Diese wurden durch die Proklamation einer Diktatur ersetzt. Der bolschewistischen Bourgeoisie war es damit möglich, die Massen nach den Zielen der Avantgarde zu dirigieren. Wie eine Herde geschorener Schafe trieb man das Volk zusammen und stellte es unter den Schutz der privilegierten Schäfer, die den Vormarsch der Spezialisten mit wissenschaftlichen Thesen verteidigte.

Der Wandel von der Diktatur des Proletariats zur Diktatur der Partei verlief nicht ohne Widerstand. In den ersten Jahren nach der bolschewistischen Machtergreifung wurde immer wieder diskutiert, wer die Wirtschaft beherrschen sollte. Die sogenannte Arbeiteropposition forderte, die Leitung der Industrie den Gewerkschaften zu überlassen. Die Bedeutung von Dezentralisierung und direkter Arbeiterdemokratie wurde von dieser mit anarchistischen und syndikalistischen Argumenten begründet. Andere Kreise wiederum verlangten, die Leitung der Wirtschaft den staatlichen Organen beziehungsweise der Bürokratie zu übertragen. Schließlich gab es auch Stimmen, die meinten, dass sich die Partei bis auf weiteres dieser Angelegenheit annehmen sollte.

Die Diskussionen waren geprägt von der Frage nach der zukünftigen Rolle der Gewerkschaften in einem sozialistischen Staat. Sollten die Gewerkschaften, wie in der vorrevolutionären Periode, auch weiterhin als Kampforgane fungieren? Bestand ihre zukünftige Aufgabe in der Leitung der Wirtschaft? Oder sollte ihr Wirkungsbereich auf soziale und erzieherische Funktionen begrenzt werden? Es wurde sogar die Frage laut, ob für die Gewerkschaften überhaupt ein Platz in der sozialistischen Gesellschaftsordnung vorhanden sei.

Die Entwicklung in den nachrevolutionären Jahren hat dazu geführt, dass der Handlungsspielraum der Gewerkschaften in zunehmendem Masse eingeschränkt wurde. Die Diktatur des Proletariats wurde bald zu einer leeren Phrase. Die Macht war nicht abgeschafft, sie trat nur in neuen Kleidern auf. Macht war nach wie vor ein Mittel, um herrschen zu können. Mit der Abschaffung des Privateigentums war die Hackordnung als Grundlage der sozialen Struktur nicht verschwunden. Das Wesen der neuen sozialen Struktur bestand in der Zentralisierung der ökonomischen Macht in den Händen der neuen Klasse. Es hatte sich nichts daran geändert, dass einige Gesetze und Verordnungen erließen, und andere diesen folgten. Mit der Ausbreitung des Bürgerkrieges nahm auch die Zentralisierung der Macht zu. Die schwierigen ökonomischen Verhältnisse rechtfertigten strengere Führungsmethoden. Unter den aktuellen Bedingungen verlegten die neuen Herren das Ziel von sozialer und ökonomischer Gleichheit in die Zukunft. Ungeachtet dessen diente die Phrase der Gleichheit auch weiterhin der Befriedung der Unterklasse.

Schon kurz nach dem Sturz des Feudalregimes begann eine wilde Jagd nach den besten Plätzen in der sozialen Ordnung des neuen Staates. In der Mittelklasse war nur solange Raum für Solidaritätsgefühle mit der Unterklasse, bis die Klassenherrschaft erobert war. In der Zeit danach und bis die neue Gesellschaftsstruktur gefestigt war, bestand die soziale Aktivität in einem Kampf aller gegen alle. Knappheit erzeugt Ungleichheit und führt unausweichlich zu einem Kampf um die materiellen Güter. Wo die Armut als Fundament dient, wird der fertige Aufbau immer eine Diktatur sein. Die Fassade kann unterschiedliche Baustile haben, es wird aber immer die Minorität sein, welche die komfortabelsten Räume im jeweiligen Gebäude beschlagnahmt.

Die Intellektuellen verdrängten die Arbeiter in zunehmendem Masse aus den beschließenden Organen. Die Gebildeten eroberten die Führungspositionen in der Wirtschaft und Industrie. Als Techniker, Ingenieure und Verwaltungsexperten lebten sie ausgezeichnet auf Kosten der "Diktatur des Proletariats". Im allgemeinen waren sie die Spezialisten der alten Finanz- und Industriekreise, die sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit den neuen Verhältnissen anpassten. Die Beamten waren besonders flexibel und durchdrangen alle Sowjetorgane. Diese Vertreter der alten Ordnung hatten logischerweise feste Vorstellungen über die Leitung von Unternehmen und die Führung des Staates. Der Geist, mit dem sie die Sowjetorgane durchdrangen, war dem Proletariat fremd. Das Wissen und die Zungenfertigkeit der Spezialisten setzten sich durch. Selbst die Rote Armee wurde nach und nach von Spezialisten untergraben. Jüngere Offiziere bekannten sich zum Bolschewismus und wurden großzügig mit Beförderungen belohnt. Mit ihnen kam die alte Disziplin, der Respekt vor den Schulterklappen und das Wissen um den korrekten Kommandoweg. Die Revolution hatte für den einfachen Soldaten in der Armee nichts Neues gebracht, abgesehen davon, dass die Armee einen anderen Namen erhalten hatte.

Der Kern der Partei hat immer aus Spezialisten bestanden, dies entsprach auch Lenins Elitetheorie. Im Anfang bestand die Partei fast ausschließlich aus unzufriedenen Universitätsangehörigen. Später wurden einige der am besten geeigneten Vertreter der Arbeiterklasse aufgenommen, die den Intellektuellen gleichzeitig als Aushängeschild dienten. Außerdem nahm die Partei Offiziere und Beamte aus der zaristischen Bürokratie auf, die bereit waren, mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten. Bald ging die Partei zur Zentralisierung über, was sie mit der Gefahr konterrevolutionärer Anschläge und einem Wiedererstarken kapitalistischer Tendenzen begründete. Die allgemeinen schwierigen Verhältnisse erleichterten die Notwendigkeit einer straffen Leitung der Industrie- und Nahrungsmittelproduktion. Da Regierung und Partei in Wirklichkeit identisch waren, führten die verstärkten Zentralisierungsbestrebungen dazu, dass ohne die Partei keine Entscheidung getroffen werden konnte. Alle Staatsorgane gerieten nach und nach unter die Kontrolle von Parteiorganisationen, während die Sowjets als selbständige Organe eliminiert wurden. Eine politische Alleinherrschaft begann sich zu formen. Der ratgebende Einfluss der Arbeiter und Bauern nahm denselben passiven Charakter an, den die Ständekammer in einer absoluten Monarchie hat.

Die Anerkennung der Elitetheorie kam somit einem Misstrauensvotum an die schöpferischen Kräfte des Volkes gleich. Auch nach der Revolution waren keine Anzeichen für eine Änderung in Sicht, im Gegenteil, in der Partei wuchs der Glaube an die Experten. Obrigkeitsdenken und Funktionärsmentalität prägten binnen kurzer Zeit den gesamten Parteiapparat. Der Bürokratisierungsprozess verbreitete sich von der Partei ausgehend in den staatlichen Organen. Die Intellektuellen setzten sich an die Spitze der Macht, und die Unterklasse wurde wie eh und je auf der niedrigsten Stufe der sozialen Hierarchie platziert. Darin bestehen die praktischen Ergebnisse der Elitetheorie. Das Proletariat wurde von den neuen Herren wie eine willenlose Viehherde in die Bergwerke, die Fabriken und auf die Schlachtfelder dirigiert. Unter dem Eindruck derartiger Tendenzen unternahm die Arbeiteropposition einen letzten Versuch, die Entwicklung zu wenden.

Die Opposition bestand hauptsächlich aus aktiven Gewerkschaftlern, die nicht, wie viele der Gewerkschaftsführer, von der neuen Machtkonstellation korrumpiert waren. Diese Führer waren vor der körperlichen Arbeit geflüchtet und hatten eine Karriere innerhalb der Sowjetorgane oder der Partei gesucht. Die Angehörigen der Arbeiteropposition, die schon während der Revolution das schwere Los gezogen hatten, hielten weiterhin die Stellung in den Fabrikshallen. Sie konnten deutlich sehen, wie der Arbeiterbevölkerung eine immer unbedeutendere Rolle in der Sowjetrepublik zugeteilt wurde, wie sich deren Einfluss auf die Gestaltung der neuen Gesellschaft in zunehmendem Tempo verringerte. Die Arbeiter wurden aus der Partei, der Regierung und den zentralen Machtorganen von einer Klasse verdrängt, die nie eine Fabrik von innen gesehen hat. Dass die Arbeiter sowohl des Rechts zur Organisierung des Produktionsprozesses als auch ihrer bewährten Kampforgane, der Gewerkschaften, beraubt wurden, wurde von der Opposition als Katastrophe aufgefasst.

Die Parteielite behauptete, dass die Gewerkschaften in einer sozialistischen Gesellschaft neue Funktionen zu erfüllen haben. Der Klassenfeind sei vernichtet, und damit bestehe keine Notwendigkeit für Kampforganisationen. Leo Trotzki entwickelte den Gedanken, die Gewerkschaften zu einem Teil der Staatsmacht zu machen, zu einer Art Arbeitsministerium. Dort sollten sie sich auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und die Erhöhung der Produktion konzentrieren. Trotzki unterstellte den Menschen, arbeitsscheu zu sein und sah deshalb die Funktion der Gewerkschaften darin, ihre Mitglieder zu disziplinieren und zu selbstlosem Arbeitseinsatz zu motivieren. Trotzki wurde zum Fürsprecher einer Militarisierung des Arbeitslebens: Arbeit sei eine Pflicht und es sei auch nicht annehmbar, dass die Arbeitskräfte sich frei nach eigenem Gutdünken und individuellen Wünschen von einem Ort zum anderen bewegten. Arbeitskräfte müssten dort platziert werden, wo sie der Gesellschaft den größten Nutzen bringen. Zeitweilig hatte Trotzki durchgesetzt, dass Arbeiter zu dringenden Arbeitseinsätzen verpflichtet werden konnten. Auf diese Weise war es möglich, die Arbeiter wie Soldaten zu kommandieren und Arbeitsverweigerung als Desertion zu betrachten. Für Trotzki bestand die Aufgabe der Gewerkschaften darin, die Mitglieder zu bestimmten Arbeitsmissionen zu verpflichten und die Arbeit zu verteilen. Jeder wahre Sowjetbürger sollte sich als Arbeitssoldat fühlen, der nicht über sich selbst disponieren konnte.

Ein anderer Spitzenführer der Partei, Nikolai Buchanin, schloss sich im Wesentlichen den trotzkistischen Grundprinzipien über die Funktion der Gewerkschaften in der sozialistischen Gesellschaft an. Auch Buchanin sprach sich dafür aus, die Gewerkschaften den sowjetischen Organen zu unterstellen und nicht umgekehrt. Die Tatsache, dass der Sowjetstaat ein Arbeiterstaat sei, war Garantie genug, um das Entstehen von Gegensätzen zwischen Arbeitern und Staatsorganen zu verhindern. Es müsse der Grundsatz gelten, dass sich kleine und unbedeutende Institutionen den größeren unterordneten, da diese über einen breiteren gesellschaftlichen Überblick verfügten. Buchanin sah daher keinen Grund, den Gewerkschaften ökonomische Funktionen zu übertragen. Die Entwicklungsrichtung und den Umfang der Produktion zu bestimmen, sei Aufgabe der Sowjetorgane. Den Gewerkschaften stehe damit auch mehr Zeit zur Disziplinierung der Arbeitskräfte zur Verfügung.

Buchanins Vorschlag, die Gewerkschaften den Sowjetorganen zu unterstellen, ging davon aus, dass über diesen Institutionen die Partei stand. Die Partei verkörperte den progressivsten Teil des Volkes und war die Avantgarde des Proletariats. Auf Grund dieser Tatsache sei die Partei verpflichtet, alle gesellschaftlichen Prozesse zu leiten. In Bezug auf die Gewerkschaften bedeutet dies, dass die Partei deren ideologische Führung übernimmt. Wie das Triebrad einer Maschine, so müsse die Partei dafür Sorge tragen, dass sich alle kleineren Räder in der richtigen Richtung bewegten. Eine kommunistische Fraktion in allen Gewerkschaftsgruppen war somit eine Notwendigkeit. In dem Konflikt zwischen der Arbeiteropposition und der Trotzki-Buchanin-Gruppierung stand Lenin zwischen den beiden Seiten. Seiner Meinung nach sollte den Gewerkschaften eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Staatsorganen eingeräumt werden. Der Staat stütze sich ja auch auf die Bauern. Was das Verhältnis zur Partei betraf, war indessen keine Diskussion möglich. Die Diktatur des Proletariats war nur mit Hilfe der Avantgarde zu verwirklichen, da diese alle revolutionäre Energie des Proletariats in sich vereinte. Die Partei war sozusagen die Inkarnation der Arbeiterklasse, und die Gewerkschaften sollten als Bindeglied zwischen der Elite und den Massen fungieren. Lenin ging es darum, sich den Massen zu nähern, sich mit ihnen zu verbünden und sie zu beherrschen. Die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften war pädagogischer Art. Sie bestand darin, den Mitgliedern die Politik der Partei zu erklären und für die Realisierung der Parteibeschlüsse zu sorgen. Dies erforderte eine ständige Erziehung der Mitglieder im kommunistischen Geist und in revolutionärer Disziplin.

In dem Maße, in dem sich Lenins Linie durchsetzte, wurden die Gewerkschaften zu einem Hilfsinstrument für die Verwirklichung der Interessen der intellektuellen Avantgarde reduziert. Die Parteiführer degradierten die Gewerkschaften zu einem Mittel ihrer Politik, zu einem Organ, dem die richtige Erziehung der Massen oblag. Der Arbeiterbevölkerung war eine Waffe entrissen worden, wehrlos war sie den Anschlägen der Oberklasse ausgesetzt.

Die Arbeiteropposition sah deutlich, wohin diese Entwicklung führte. Auf dem Parteikongress von 1920 warnte sie vor diesen Entwicklungstendenzen, der Zentralisierung, Bürokratisierung, den Privilegien der Partei und der Verringerung der sozialen Macht der Arbeiter. Insbesondere protestierte sie gegen die neue Rolle der Gewerkschaften als Handlanger der Partei. Ihr war klar, dass wenn sich die Gewerkschaften nur auf die Vermittlung der Ideen des Parteiprogramms beschränken, Schulen des Kommunismus zu sein und die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten, sollten die Arbeiter auf diese Weise entwaffnet werden und der Willkür der neuen Klasse preisgegeben werden. Die Proteste der Opposition verblieben ergebnislos. Die neuen Machthaber konstatierten, dass die Arbeiter in einem Staat, in dem sie die herrschende Klasse darstellten, keinen Schutz benötigten. Aus dem Schlagwort "Arbeiterkontrolle" war "Kontrolle mit den Arbeitern" geworden. Vor der Revolution rief die Mittelklasse "Es lebe das Proletariat". Nachdem sie mit Hilfe des Proletariats die Macht erobert hatte, rief sie "Es lebe die Partei". Und die Partei war identisch mit den Intellektuellen.

Der Aufstand von Kronstadt, im März 1921, kann als der letzte größere Versuch gewertet werden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Matrosen von Kronstadt, einst die treibende Kraft in der bolschewistischen Revolution, sahen die autoritäre Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Freiheit, für die sie gekämpft hatten, begann zu entschwinden. Zu spät erkannten sie, dass jede Klasse sich selbst befreien muss. Bolschewistische Elitetruppen schlugen die revoltierenden Matrosen schonungslos nieder.

Welcher Ursache ist es zuzuschreiben, dass die Unterklasse ihre Interessen nicht energischer verteidigte? Warum hatten die Intellektuellen so leichtes Spiel? Der Hauptfehler der Unterklasse bestand darin, dass sie die Führung der Revolution Angehörigen der Mittelklasse überließ. Es fehlte ihr die notwendige historische Einsicht, dies zu verhindern. Die Befreiung einer Klasse kann nur das Werk dieser Klasse selbst sein. Das Wissen um den Verlauf und den Ausgang der Französischen Revolution beispielsweise wäre eine unschätzbare Hilfe gewesen. Dieser revolutionäre Prozess hatte überraschende Ähnlichkeit mit der Entwicklung in Russland. Von dem Moment an, da es den Intellektuellen überlassen wurde, den revolutionären Verlauf zu steuern, war die Revolution für die Unterklasse verloren. Die Arbeiter wussten nicht, dass sich der Sozialismus äußerst leicht in ein System zum Vorteil der Intellektuellen umformen ließ. Angelockt vom Versprechen einer sozialistischen Gesellschaft, übergaben sich die Arbeiter den intellektuellen Vertretern der Mittelklasse.

Der geistigen Überlegenheit der Mittelklasse hatte die Arbeiterbevölkerung nichts Adäquates entgegenzusetzen. Die Intellektuellen verstanden es, diese Situation auszunützen und festzuhalten. Die Indoktrinierung von der notwendigen Eliteherrschaft rief in der Unterklasse Minderwertigkeits-und Untertänigkeitsgefühle hervor. Die Partei verkündete, die volle Wahrheit zu kennen, so dass die marktschreierische Propaganda den Unterdrückten keinen Raum für selbständiges Denken ließ. Kritische Gedanken wurden unterdrückt. Auf diese Weise verhinderte die aufsteigende Klasse, dass das Proletariat seine eigenen schöpferischen Kräfte entwickelte und Macht erringen konnte. Die Begrenzung der Entwicklungsmöglichkeiten der Arbeiter, die auch auf materielle Verhältnisse zurückzuführen ist, hatte weitreichende Konsequenzen. Die äußeren Umstände ließen keine Zeit für Experimente, und so konnte man nicht auf die Hilfe der erfahrenen ausgebildeten Experten verzichten. Gerade dies wäre jedoch eine unbedingte Voraussetzung für einen anderen Ausgang der Revolution gewesen. In der gegeben Situation wurde jedoch nicht einmal der Versuch gewagt.

Die Widerstandskraft der Unterklasse wurde auch auf Grund einer inneren Spaltung geschwächt. Die Ideologie der Arbeiter und Bauern war nicht dieselbe, erstere strebten nach Kollektiveigentum, letztere nach Privateigentum. Hinzu kam, dass die Arbeiter in den Städten nach und nach ihre aktiven und begabtesten Kollegen verloren. Viele erfahrene Arbeiter aus der Zarenzeit erhielten Stellungen, die sie sowohl ökonomisch als auch politisch von ihrer Klasse distanzierten. Einzelne avancierten sogar innerhalb des Parteiapparates und gelangten in die Spitze der Gesellschaftspyramide. Andere machten Karriere als Sowjetfunktionäre oder Offiziere in der Armee. Die aktivsten Arbeiter beteiligten sich am Bürgerkrieg, von dem viele nicht zurückkehrten. Einige kritischen Arbeiter fielen auch den konterrevolutionären Säuberungsaktionen der Bolschewiki zum Opfer. Zunehmender Terror lichtete die Reihen der Arbeiter. Die Arbeiterklasse wurde auf diese Weise ihres intelligenten und aktiven Potentials beraubt. Ohne eigene Führer war sie zu sozialer und gesellschaftlicher Machtlosigkeit verurteilt.

Den Bauern gelang es erst gar nicht, Einfluss auf die soziale Struktur auszuüben. Gewiss waren auf dem Lande große Veränderungen geschehen. Die Bauern hatten die Feudalklasse vertrieben, Arbeitskräfte durften nicht mehr ausgeliehen werden, und das private Eigentumsrecht wurde bis auf weiteres nicht angetastet. Begabte Bauernsöhne suchten Aufnahme in die Reihen der Intellektuellen, da sie träumten von einer Karriere im bürokratischen System in den Städten träumten.

Während das Proletariat durch den Verlust seiner aktivsten Elemente geschwächt wurde, trug dies gleichzeitig zur Stärkung der Oberklasse bei. Den Intellektuellen wurden auf diese Weise neue dynamische Kräfte zugeführt. Die ehrgeizigen Arbeiter und Bauern, die in die neue Herrscherklasse integriert wurden, unterstützten die Revolution aus aller Kraft. Sie hatten der Revolution alles zu verdanken und wussten, dass bei einem Misslingen nur der Abgrund auf sie wartete.

Der Industrialisierungsprozess brachte auch keine Veränderung der bisherigen Position der Unterklasse innerhalb der sozialen Struktur. Die Machtübernahme der Intellektuellen im Oktober 1917 bedeutete nur dass die verschiedenen Machtinstrumente des Staates ab diesem Zeitpunkt von einer neuen Herrschklasse benutzt wurden. Das Ziel der Revolution bestand ja in der Eroberung und nicht in der Abschaffung des Staates. Der Staat eignete sich die Macht an, die vorher auf Grund des Privateigentumsrechts auf viele verteilt und über große geographische Gebiete verstreut war. Die Abschaffung des privaten Besitzes der Produktionsmittel führte zu einer bisher nicht gekannten ökonomischen Machtkonzentration. Die Eigentümer des Staates waren Bürokraten und diese wiederum Intellektuelle. Mit dem Untergang der Marktwirtschaft fiel die Steuerung der gesamten Wirtschaft in die Hände der Staatsbeamten.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft bildete den Abschluss dieses Prozesses. Die Bauern waren damit ebenfalls unter die Herrschaft der Bürokraten gelangt. Die Degradierung der Bauern zu Sklaven des Staates war ein schmerzvollerer Vorgang, als ihn die Arbeiter erlebt hatten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft begründete man offiziell mit der Notwendigkeit, die nötigen finanziellen Mittel für den Aufbau der Schwerindustrie zu schaffen. Der eigentliche Zweck dieses gewaltsamen Schlages gegen den Bauernstand war jedoch politischer Art. Während die neuen Machthaber die Ambitionen der Arbeiter schnell kanalisieren konnten, so dass diese nach 1921 keine Gefahr mehr für die Oberklasse darstellten, haben sich die Bauern, insbesondere die Kulakbauern, im Verlauf der NOP-Politik zu einem Machtfaktor entwickelt. Zweifellos stellten die Kulaken eine Gefahr für die intellektuelle Elite dar.

Die Kollektivierung der Landbevölkerung wurde daher zum Ziel einer der blutigsten Kreuzzüge der Geschichte. Die Bauern vernichteten die Ernte, erschlugen das Vieh und verschanzten sich vor den Todesschwadronen des Staates. Die Zahl der Bauern, die in diesen schrecklichen Kämpfen umkamen, wird auf mehr als mehr als 5 Millionen geschätzt. Aber ihr desperater Widerstand war vergeblich. Nach diesem Blutbad war der Bauernstand, nun auf die niedrigste Stufe der sozialen Ordnung verwiesen, vollkommen ungefährlich für die wachsende Klasse der Bürokraten.

Das private Eigentumsrecht konnte nun nicht länger als Bollwerk gegen die zunehmende Macht des Staates dienen. Der Staat übernahm die Kontrolle über alle Produktionsmittel. Die Intellektuellen disponierten über die gesellschaftlichen Reichtümer. Allein besaßen sie nichts, zusammen jedoch alles. Die mächtigste Klasse in der Geschichte begann sich zu etablieren. Die Arbeitskräfte und Produktionsresultate einer riesigen Nation waren unter die Vormundschaft der Intellektuellen geraten.

Die Bürokratie begann zu wachsen. Ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten boten sich der intellektuellen Klasse. Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln hinterließ einen sozialen Leerraum, der von einer bisher recht unbeachteten Gesellschaftsgruppe besetzt wurde: Die Anzahl der Funktionäre stieg sprunghaft. Man rechnet damit, dass jeder vierte Einwohner Petrograds bereits 1920 in der Administration beschäftigt war. Heutzutage gibt es in der Sowjetunion genauso viele Spezialisten und Administratoren wie Kollektivbauern. Die soziale Last des unproduktiven Überbaus liegt schwer auf der produktiven Bevölkerung, was eine dementsprechende Ausbeutung zur Folge hat. Die Einkommen der Staatsbeamten können nur vom Mehrwert, den die Arbeiter und Bauern durch ihren produktiven Einsatz geschaffen haben, bestritten werden. Die Staatsbeamten disponieren über die Produktionsmittel und Produkte wie ehedem der Feudaladel. Im Unterschied zu diesem haben sie jedoch eine bessere Kontrolle über die Bevölkerung, denn durch die Revolution wurde das Wirkungsfeld der Gewerkschaften eingeschränkt, das Streikrecht beseitigt, die Rede- und Pressefreiheit sowie der Rechtsschutz zu Proformarechten verwandelt. Der Umsturz hat sozusagen zu einer Klassenherrschaft geführt, die schlimmer als die vorherige war.

Den Rechtsschutz im zaristischen Russland muss man unbestritten als unvollkommen bezeichnen, trotzdem war das ehemalige Rechtssystem fast vorbildlich verglichen mit der sozialistischen Rechtsordnung. Die Revolution hat die juristischen Grundlagen völlig verändert. Während das alte Rechtssystem beispielsweise das private Eigentumsrecht beschützen sollte, war die neue Rechtsordnung auf den Schutz des Kollektivs ausgerichtet. Diese Änderung hatte zur Folge, dass das Recht des Individuums nun in einem ganz anderen Masse der Rechtsauffassung der Gesellschaft untergeordnet wurde. Der einzelne bedeutete nichts im Verhältnis zum Kollektiv. Vielen sozialistischen Theoretikern ist unerklärlich, dass die Willkürmaßnahmen gegenüber der Bevölkerung nicht mit der Liquidation der Ausbeuterklasse verschwunden waren. Die Lösung des Rätsels ist einfach und besteht in der Etablierung einer neuen Ausbeuterklasse, deren Herrschaft auf dem Verfügungsrecht über das öffentliche Eigentum beruht. Die Bekanntgabe, dass mit dem Sieg der Revolution der Klassenkampf zu Ende ist, diente den neuen Machthabern als Rechtfertigung, die bisherige Gewaltenteilung im Staat aufzuheben. Eine prinzipielle Trennung zwischen der gesetzgebenden, rechtssprechenden und Regierungsmacht einschließlich der Macht über die Informationsquellen existierte nicht länger. Der einzelne Bürger war deshalb der Willkür der Behörden preisgegeben.

Der Machtmissbrauch in der Mitte der 30erJahre war ohne Beispiel in der Geschichte. Im Rechtssystem wie in der Verfassung waren keine prinzipiellen inneren Widersprüche eingebaut. Die Handhabung des Rechtssystems funktionierte reibungslos. Prozesse verliefen ohne Konflikte, strebten doch Richter, Ankläger und Verteidiger nach dem gleichen Ziel. Dass auch der Angeklagte sich in diese Richtung bewegte, hing damit zusammen, dass dessen Wille schon vor der Verhandlung gebrochen worden war. Die Voruntersuchung diente nicht der Wahrheitsfindung, sondern hatte zum Ziel, den Willen des Angeklagten zu brechen. Der Anwendung von Folter ist es zuzuschreiben, dass fast alle Angeklagten sich der vorgeworfenen Verbrechen schuldig bekannten. Allein die Geständnisse der Angeklagten waren ausreichend, deren Schuld als bewiesen zu erachten. Die tiefe Erniedrigung, der die Angeklagten in der sozialistischen Rechtsordnung ausgesetzt waren, dienten nicht der Lösung der Schuldfrage, sondern waren immer eine Folge politischer Zweckmäßigkeit. Rücksicht auf die Interessen von Partei und Staat hatte den Vorrang vor der Wahrheit. Es existierte kein Gericht, das ein Individuum gegenüber dem Staat verteidigt hätte. Die Richter waren Parteimitglieder und Agenten des Staates. Waren sie zu mild, konnten sie ausgewechselt werden. Prozesse waren nur öffentlich, wenn sie als Propagandamittel dienten oder Furcht verbreiten sollten.

Die Ideologie der Partei rechtfertigte alle Übergriffe. Von Anfang an hatte die Partei sich des Rechts bemächtigt. die jeweils geltende politisch-ideologische Linie zu bestimmen. Jede Herrscherklasse verfügt über das Definitionsrecht. Von dieser Gesetzmäßigkeit wich auch die bolschewistische Elite nicht ab. Die neue Klasse war in diesem Zusammenhang sogar raffinierter als ihre Vorgänger. Sie verkündete nämlich den Führungsanspruch und die Unfehlbarkeit der Partei als wissenschaftlich bewiesen. Die Begründung von politischen und juristischen Entscheidungen mit Hilfe wissenschaftlicher Fakten war ein Phänomen in der Weltgeschichte. Bisher hatten sich die Herrscherklassen vernunftmäßiger und moralischer Argumente bedient, um ihre Entscheidungen zu begründen. Für die Partei verschmolzen Ideologie und Wissenschaft. Dies galt selbstverständlich nicht für abweichende Ideologien, die nach ihrer Meinung falsch waren und die Wirklichkeit verzerrten. Hinrichtungen und die Verschleppung von Millionen in Konzentrationslager geschahen im Namen des Sozialismus. Die Taktik, die Diktatur im voraus zu proklamieren, feierte wieder Triumphe.

Warum aber kam es in den Arbeitslagern zu keinen Aufständen? Die Antwort ist darin zu suchen, dass die öffentliche Meinung durch die Meinung der Partei ersetzt wurde, da diese ja wissenschaftlich begründet war. Ohne die Existenz einer öffentlichen Meinung blieb jede Form von Widerstand ohne Wirkung. Proteste, Hungerstreiks, Selbstverbrennungen und Aufstände wurden nie öffentlich bekannt. Bereits ab 1926 hatte die Kommunistische Partei das Pressemonopol. Die Bevölkerung konnte von diesem Zeitpunkt an nur über Ereignisse und Tatsachen informiert werden, die von höchster Stelle genehmigt waren. Die Folgen des Fehlens einer freien Meinungsbildung sollten der Menschheit als mahnende Warnung für die Zukunft dienen.

Nach und nach beherrschte der Staat alle Bereiche des geistigen Lebens. Die Parteipresse konnte den Lesern die jeweils vorherrschenden politischen und ideologischen Anschauungen indoktrinieren, ohne dass diese die Möglichkeit zu protestieren hatten. Unterricht und Erziehung unterlagen den Interessen der neuen Klasse. Die Schulen wurden in den Dienst des neuen Regimes gestellt, um die Jugend für das System zu gewinnen. Die Lehrer wurden umgeschult, die Lehrbücher umgeschrieben. Es galt, die Wirklichkeit so darzustellen, dass sie mit den Erfordernissen der neuen Situation in Übereinstimmung war. Jugendorganisationen wurden gegründet, um die ideologische Schulung der jungen Generation zu sichern und diese auf den kommenden Militärdienst vorzubereiten. Die spätere Karriere in der Gesellschaft war zum Teil von dem Einsatz in den Jugendorganisationen ab hängig. Mittels Beförderung und Degradierung war die neue Generation relativ leicht zu zähmen.

Literatur und Kunst wurden gleichgeschaltet, die Zensur wieder eingeführt. Nur progressive Kunst fand Anerkennung, und was progressiv war, definierte die neue Klasse.

Wissenschaft und Forschung unterlagen ebenfalls der offiziellen Philosophie, dem dialektischen Materialismus. Das wohl bekannteste Beispiel politischer Übergriffe auf diesem Gebiet ist die Lysenko-Affäre. Der Biologe Trofin Lysenko hatte die These aufgestellt, dass Pflanzen und Tiere unter veränderten Umweltbedingungen neue Eigenschaften erwerben konnten, die zudem erblich seien. Durch Veränderung der Lebensbedingungen sei es demzufolge möglich, neue Arten zu schaffen. Diese an und für sich interessante Theorie wurde im Jahre 1948 vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als progressiv und proletarisch anerkannt. Die bisher in der Genetik geltenden Mendelschen Gesetze wurden als falsch und reaktionär erklärt, da diese den Grundsätzen des dialektischen Materialismus widersprachen. Lysenkos Gegner wurden ganz einfach in Arbeitslagern und Gefängnissen interniert. Die Theorie des dialektischen Materialismus besagt, dass das menschliche Bewusstsein und Verhalten das Produkt seiner Umwelt sei. Lysenkos Ideen konnten daher unter Umständen wissenschaftlich beweisen, dass es möglich ist, einen kommunistischen Menschentyp zu schaffen und dessen Eigenschaften zu vererben. Die Ideologie war jedoch nicht in der Lage, die Gesetze der Natur zu verändern. Der Marxismus war zu einem Instrument umfunktioniert worden, das das neue Machtsystem in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens verteidigen sollte. Die humanistischen Wissenschaften waren deshalb einem besonders starken ideologischen Druck ausgesetzt, da zum Beispiel Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung wechselnden politischen Auffassungen und Interessen der obersten Parteiführung unterlagen. Weder der Durchschnittsbürger noch der der sowjetische Historiker kennen die Vergangenheit auf Grund eigener Quellenstudien. Die meisten Archive, sowohl die örtlichen als auch staatlichen, waren vor dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 nicht zugänglich. Es war daher nicht einmal möglich, die Geschichte der Revolution auf der Grundlage von Originaldokumenten zu beschreiben. Die Historiker waren auf die Parteizeitungen angewiesen. Auch heute sind es die Parteiideologen, die die Vergangenheit erklären, wobei abweichende Meinungen nicht toleriert werden. Es ist die jeweils aktuelle politische Zweckmäßigkeit, die über die Darstellung historischer Tatsachen bestimmt. Die Beschreibung der Vergangenheit wird je nach Erfordernissen der herrschenden Elite justiert. Natürlich wird Geschichte auch in westlichen Ländern umgeschrieben. Dies ist jedoch Aufgabe der Historiker. Beispielsweise können historische Ereignisse mit neuen Maßstäben gemessen werden, das Auftauchen neuen Quellenmaterials kann das bisherige Verständnis von historischen Geschehnissen verändern, und neue Problemstellungen führen eventuell zu neuen Erkenntnissen. In den demokratischen Ländern wird in solchen Fällen immer eine öffentliche Diskussion um die betreffenden historischen Personen oder Ereignisse geführt. In der Sowjetunion hingegen ist die Interpretation der Vergangenheit eine Parteiangelegenheit. Dort werden Personen wie Trotzki oder Stalin nicht von Historikern beurteilt, sondern vom Politbüro.

Dass unter derartigen Bedingungen die Wissenschaften verkümmerten, ist kaum verwunderlich. Dass der Bevölkerung damit jedoch die Möglichkeit der vorurteilsfreien Bewertung historischer Tatsachen genommen wurde, ist sehr bedenklich. Geschichtskenntnisse sind Voraussetzung, um politisches Urteilsvermögen zu erlangen und um den Rechtsanspruch der existierenden Gesellschaft in Frage stellen zu können. Die fehlende Geschichtsvermittlung hat zu einem kollektiven Gedächtnisschwund geführt, mit dem die Elite in großem Stil manipulierte. Der Partei war es dadurch gelungen, sich als die Verkörperung des Progressiven darzustellen, die Jugend zu Ergebenheit zu erziehen und das Streben der Unterklasse zu lenken. Historische Abläufe werden für die Bevölkerung derart verändert, dass kein Vergleich mit der Gegenwart möglich war. Der Unterklasse wurde vorgegaukelt, ihr ginge es niemals so gut ging wie jetzt, was sie der unfehlbaren Partei zu verdanken hätte. Die Interpretation der Vergangenheit geriet in Abhängigkeit zu den jeweils aktuellen Interessen der Oberklasse. Damit wurde versucht, die Bevölkerung am Erkennen des wahren Charakters der Gesellschaft zu hindern. Die meisten Sowjetbürger waren sich trotzdem darüber im Klaren, dass die Geschichte verfälscht wurde. Sie wussten nur nicht, worin die Verfälschung bestand. Über dieses Wissen verfügte nur die oberste Schicht der neuen Klasse.

Hat die Revolution von 1917 im Endeffekt zu positiven Veränderungen für die Unterklasse geführt? Als in der besitzenden Schicht Zeichen von Schwäche sichtbar wurden, zog die Mittelklasse Nutzen aus dieser Situation und schlug zu. Sie lenkte geschickt die revolutionäre Energie der Unterklasse auf die schwachen Stellen der Oberklasse und etablierte sich selbst als neue Führungsschicht. Die Intellektuellen hatten damit die Hauptrolle in der sozialen Komödie übernommen. Der Klasse, die ihr dabei behilflich war, wurde die vertraute Rolle als Statist zugeteilt. Die neue Klasse konfiszierte jegliche Form von privatem Eigentum und beraubte die Bevölkerung der elementarsten Freiheitsrechte. Was die revolutionären Intellektuellen einst zu bekämpfen vorgaben, übernahmen sie nun selbst: den Staat, das Schulwesen, Forschungseinrichtungen, die zaristische geheime Staatspolizei, die Gefängnisse, Foltermethoden, den Gehorsam sowohl in der Armee als auch in den Fabriken. Indem die genannten Institutionen und Methoden der Machtausübung den Interessen der neuen Klasse angepasst wurden, bedienten sich die neuen Machthaber der Macht auf äußerst effektive Weise, waren sie doch nicht mit liberalem Gedankengut belastet, das bei ihnen Gewissensbisse hätte hervorrufen können. Die Errichtung der Diktatur war das Hauptziel der Revolution, das bereits im voraus verkündet worden war. Das hatte zur Folge, dass sie fest dazu entschlossen waren, jegliche Opposition niederzuschlagen. Die neue Klasse festigte ihre Stellung im Gesellschaftsgefüge auch durch eine geschickte Ausnutzung der sozialistischen Ideologie. Der Sozialismus wurde zur Ideologie einer neuen Ausbeutergesellschaft, die erkannt hatte, dass sich Reichtum und Privilegien leichter unter dem Deckmantel des Kollektivismus verteidigen ließen. Die Inbesitznahme des privaten Eigentums verlief wohl deshalb so erfolgreich, weil sie als Kollektivierung dargestellt wurde. Die ökonomische Ungleichheit wurde damit zementiert. Darüber hinaus kontrollierte nun der Staat die soziale Mobilität. Damit erwies sich der Sozialismus als eine geniale Erfindung der Intellektuellen. Insbesondere Lenins Elitetheorie war von unermesslichem Wert, da sie die Intellektuellen in ihrer Rolle als Führer des Proletariats rechtfertigte. Die Verfechter des Sozialismus konnten sich somit relativ leicht als Herren über die Volksmassen erheben. Für die Arbeiter bedeutete dies jedoch eine neue Versklavung. Dass der Sozialismus, die ideale politische Theorie für die Diktatur der Intellektuellen war, war für das Proletariat wohl kaum zu verstehen, geschweige denn zu beweisen. Die marxistische Lehre scheint ja auch auf den ersten Blick den Interessen der Unterklasse zu dienen. Und als die wenigen aufmerksamen und kritischen Beobachter den Betrug erkannten, war es bereits zu spät. Die Volksmassen waren mit sozialistischen Phrasen bombardiert worden. Sie befanden sich in einem mit marxistischen Parolen vernebelten Zustand und ohne Verteidigungswaffen. Sie waren dadurch außerstande ihr rechtfertiges Streben nach Freiheit fortzusetzen. Ihr Erkenntnisvermögen und ihre Handlungsfähigkeit waren gelähmt. Im Gegensatz zu ihren westlichen Klassenbrüdern mussten sich die Arbeiter mit einem niedrigeren Lebensstandard, schlechteren Arbeitsbedingungen und weniger Bewegungsfreiheit zufrieden geben. Elementarer bürgerlicher Rechte, beispielsweise des Rechts auf freie Meinungsäußerung oder des Organisationsrechts, waren sie beraubt worden. In keinem anderen Teil der Welt wurden die Arbeiter so unmündig gemacht, wie dort, wo der Sozialismus gesiegt hatte. Nicht genug, dass die sozialistische Ideologie zur Ausbeutung der Arbeiter missbraucht wurde, sie stellte auch noch die theoretische Basis für die Verfolgung von Regimegegnern. Grausame und blutige Aktionen wurden im Namen des Sozialismus gerechtfertigt.

Man kann deshalb nicht von einer Befreiung des Proletariats durch die russische Revolution sprechen. Die Arbeiter wurden zwar von der feudalen Kapitalistenklasse befreit, aber nicht sie, sondern die Intellektuellen übernahmen deren gesellschaftliche Stellung. Die Intellektuellen wiederum behaupteten, dass die Arbeiterklasse die führende Rolle in der Gesellschaft übernommen habe. Dieser Kunstgriff war von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung. Die Diktatur der Intellektuellen wurde als Diktatur des Proletariats maskiert, die Sklaven zu Herren ernannt. Mit diesem Schachzug entwaffneten die Intellektuellen die Unterklasse vollkommen. Denn wenn der alte Klassenfeind vernichtet war und die Arbeiter zur herrschenden Klasse avanciert waren, gegen wen sollte dann eigentlich der Klassenkampf geführt werden? Alle Ursachen für Konflikte waren ja beseitigt. Auf diese Weise wurden die Arbeiter daran gehindert, den Kampf für ihre eigenen Interessen fortzusetzen. Was der kapitalistischen Bourgeoisie nicht gelang, nämlich den Arbeitern eine soziale Ordnung aufzuzwingen, in der sie nicht mehr gefährlich werden konnten, das gelang der intellektuellen Bourgeoisie. Der neuen Oberklasse war es nun möglich, sich den von den Arbeitern geschaffenen Mehrwert anzueignen, ohne mit nennenswertem Widerstand rechnen zu müssen.

Die russische ist wie die Französische Revolution ein klassisches Beispiel für die Unveränderlichkeit der hierarchischen sozialen Struktur. Selbst gewaltige soziale Erschütterungen vermögen nicht, das klassische Gesellschaftsmodell zu verändern. Auch im Fall der russischen Revolution wurde die Oberklasse zwar vernichtet, aber die Mittelklasse übernahm deren Rolle. Die Position der Unterklasse war nach wie vor die gleiche. An der Spitze der sozialen Pyramide residierten die mächtigen Parteiführer, die höchsten Vertreter des Militärs und eine Führungsgruppe, die den Staat und den Produktionsapparat leiteten. Deren Macht war ungeheuerlich und erstreckte sich auf alle Gebiete der Gesellschaft: Ökonomie, Politik, Militär, Ausbildung, Recht, Kultur und Information. Die produzierende Unterklasse war dieser neuen Oberklasse hilflos ausgeliefert.

Unsere neue Herrscherklasse

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