Читать книгу Paul - Wir haben ihn kaputt gemacht - Stefan Brauer - Страница 10

Aus Gesprächen mit Frau Schneider vom Jugendamt

Оглавление

Nur noch wenige Mitarbeiter sind uns im Jugendamt geblieben. Die meisten hören schon nach ein paar Monaten auf, weil, so sagen sie, viele der Vorfälle sie zu sehr belasteten.

Ich kann das ja verstehen. Für mich ist es auch nicht immer leicht, mit alldem fertig zu werden. Selbst wenn man glaubt, man hätte schon alles gesehen und miterlebt, zeigt mir unsere Welt fast täglich aufs Neue, dass es in allen Bereichen der Grausamkeit noch Steigerungsmöglichkeiten gibt.

Immer wieder gibt es Fälle, die meine bis dahin gültige Vorstellung von der Boshaftigkeit des Menschen noch übertreffen.

Ordnerweise stehen solche Fälle hinter meinem Schreibtisch und füllen meinen Schrank. Als wollten sie mich irgendwann erschlagen, werden es jedes Jahr mehr. Derzeit bearbeite ich 160 von ihnen gleichzeitig.

Ich habe schon längst den Überblick verloren.

Vergewaltigung der eigenen Tochter, häusliche Gewalt durch die eigenen Eltern, Missbrauch, Verwahrlosung, Freiheitsberaubung, Entführung und Totschlag. Es ist alles vertreten; man braucht die Akten nur grob zu überfliegen, um auf diese Schlagworte zu stoßen.

Ich bin diejenige, die diese Akten füllt.

Die Fotos einzukleben, ist das Schlimmste. Mir ist, als würden mich die Kinder vorwurfsvoll anschauen und mir ihre Hilflosigkeit und ihr Leid entgegen schreien. Ich frage mich dann, ob ich es bin, die die Schuld daran trägt, ob ich ihr Elend hätte verhindern können, wenn ich meinen Job besser gemacht hätte. Genau diese Gedanken sind es, die meine Kollegen laut aussprechen, bevor sie alles hinschmeißen und mich alleine lassen.

Doch sich einfach feige aus der Verantwortung zu stehlen, bessert die Situation auch nicht. Das Problem bleibt ja bestehen.

Ich habe mir geschworen, niemals aufzugeben. Ich werde durchhalten, allen Widerständen zum Trotz.

Jedes Mal, wenn mein Telefon klingelt, zucke ich zusammen und schicke ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, bevor ich abhebe. Und mein Telefon klingelt fast unaufhörlich, wieder und immer wieder. Meist sind es verzweifelte Frauen, die uns anscheinend mit der Polizei verwechseln und die ihre Kinder vor ihrem Ehemann oder Exmann beschützen wollen. Laut Vorschrift müssen wir jedem Hinweis nachgehen; aber die offiziellen Richtlinien des Jugendamts werden bei uns schon lange nicht mehr eingehalten. Das ist eine Katastrophe.

Der Mangel an Personal zwang mich, mir eine Prioritätenliste anzulegen. Jeder Fall entspricht einem kleinen Magnetstreifen auf einer Magnettafel, und ich bemühe mich, angemessen zu sortieren. Der oberste Magnetstreifen ist immer der härteste Fall. Auf den Streifen stehen die Namen der Kinder, die ich begutachten soll.

Es fällt mir schwer zu entscheiden, welches Kind mehr Aufmerksamkeit braucht und welches weniger. Der Gedanke, dass bei einer Fehleinschätzung ein Kind sterben könnte, bereitet mir jedes Mal starkes Bauchweh.

Oft geht es in unserem Job um Leben und Tod. Diese große Verantwortung ist manchmal regelrecht erdrückend.

Doch ich werde durchhalten.

Selbst wenn ich jeden Tag Menschen begegne, die sich als Monster entpuppen, weil sie Dinge tun, zu denen nicht mal Tiere fähig wären – Dinge, die man nicht mal in Worte fassen möchte.

Viele Male schaute ich in die tiefen Abgründe des Menschen. Manch einer zerbricht an dem, was er da sieht.

Vielleicht muss man selbst zum Monster werden, um all das zu verkraften und weiterzumachen. Abstumpfen oder irgendwie abschalten.

Meine Vorgängerin, mit der ich in der Einarbeitungszeit noch einige Monate zusammenarbeitete, wirkte auf mich sehr kalt und lieblos. Wer weiß, eventuell würde ich mit der Zeit genauso werden, dachte ich schon damals.

Sie hatte keine Kinder und wollte auch keine. Vermutlich bringt das dieser Job mit sich.

Ich dagegen wollte schon immer Mutter werden, irgendwann. Doch wenn ich die Eltern der Kinder meiner Fälle kennenlerne, bekomme ich Angst, möglicherweise genauso überfordert zu sein und dann zu werden wie sie.

Wenn man diesen Eltern auf der Straße begegnet, fallen sie niemandem auch nur ansatzweise besonders auf. Viele von ihnen könnte man sogar für richtig nette Menschen halten. Mittlerweile muss ich aufpassen, dass mir perfekt auftretende Eltern nicht sofort suspekt sind, so sehr hat meine Menschenkenntnis gelitten.

Überall glaube ich irgendwelche Anzeichen auf Gewalttätigkeit gegenüber Kindern zu entdecken, selbst in meinem privaten Umfeld. Die Arbeit scheint mir nie aus dem Kopf zu gehen.

Fast jeder von uns in der Abteilung hatte schon mal einen schlimmen Fall, der einen von Innen aufzufressen drohte und am Glauben an die Menschheit zweifeln ließ.

Bei mir war es eine Mutter, die ihr wenige Monate altes Baby in einem Krankenhaus so schwer misshandelte, dass die Ärzte verzweifelt versuchen mussten, es wiederzubeleben. Es sei ihr runtergefallen. Nie vergesse ich ihre kalte, gefühllos vorgetragene Ausrede, während das Ärzteteam am blau angelaufenen Babykörper eine Herz-Lungen-Massage vornahm.

Ich bin diese Ausreden so satt:

»Mir ist doch nur die Hand ausgerutscht.«

»Mir hat das damals auch nicht geschadet.«

»Er ist schon wieder gegen die Tür gelaufen.«

Auf der Suche nach den Schuldigen sind wir vom Jugendamt ein gefundenes Fressen. In den Medien stehen wir regelmäßig als Sündenbock der Nation da.

Es ist immer das Gleiche. Entweder rauben wir Familien die Kinder oder schreiten viel zu spät ein, wenn dies schon längst überfällig ist.

Und nun kämpfe ich erneut um das Leben eines Kleinkindes namens Paul.

Wir bekamen den ersten Hinweis von der Hebamme und den Krankenschwestern, die bei der Entbindung dabei gewesen waren. Die Mutter sei unter Drogeneinfluss im Krankenhaus eingetroffen, als die Wehen einsetzten. Der Vater sei nicht anwesend gewesen. Dafür aber ein Mann, der ihnen durch seine Gleichgültigkeit seltsam vorgekommen sei.

Da dies alles nur Vermutungen waren und wir keine hundertprozentigen Beweise vorliegen hatten, blieb uns erst mal nichts anderes übrig, als eine neue Akte anzulegen und mit der Mutter Kontakt aufzunehmen. Auf meiner Prioritätenliste kam Paul nach ganz unten.

Also schickten wir einen Brief an die frisch gebackene Mutter mit der Bitte um ein Treffen. Damit signalisieren wir den Betroffenen, dass wir sie unterstützen wollen, und zugleich wollen wir ihnen die Angst vor uns nehmen. Bei solch schwierigen Rahmenbedingungen versuchen wir den Eltern zu helfen, den ganz normalen Alltag zu überstehen. Eine alleinstehende Mutter hat es nie leicht.

Die Wochen vergingen ohne eine Antwort. Wir schrieben einen zweiten Brief, in dem wir untermauerten, dass wir ihr zur Seite stehen wollten und sie uns doch wenigstens anrufen könnte.

Wieder keine Antwort. Im dritten Brief wurden wir schon etwas mürrischer. Wir drohten mit Konsequenzen und ermahnten sie, nun endlich mit uns zu kooperieren. Alle Briefe blieben unbeantwortet.

Ich ging davon aus, dass die Mutter schon längst umgezogen war, ohne sich umgemeldet zu haben. Das passiert uns ständig. Viele versuchen auf diese Weise, dem Jugendamt auszuweichen. Mir kam das ganz recht. Ein Fall weniger, dachte ich mir und kümmerte mich wieder um die anderen Kinder auf meiner Liste.

Paul - Wir haben ihn kaputt gemacht

Подняться наверх