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Nationalismus und Nation II: Neuer Nationalismus

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Das gleiche Gegen- und Nebeneinander territorialer und ethnischer Vorstellungen findet sich beim neuen Nationalismus, der sich vom alten Nationalismus hauptsächlich durch die Preisgabe der ständischen Abstufung der politischen Teilhaberechte unterscheidet. Ein erstes Beispiel hierfür ist der weitgehend an Riehl anknüpfende Wilhelm Stapel. Ihm gelten Volk, Stamm, Sippe und Familie als eigenständige Lebensreihe, bei der jeweils die kleinere durch die umfassendere Gruppe, der Teil durch das Ganze bestimmt sei (1929a, 6f.; 1922, 85). Die Einheit dieser Lebensreihe werde durch Kräfte triebhaft-vegetativer Art hergestellt, insbesondere durch die Liebe, den „Drang, der über uns selbst hinausgreift, die Familie, den Stamm, das Volk, die Rasse und schließlich die ganze Menschheit, das All umfaßt und in sich aufnimmt und zur Einheit zusammenschließt“ (1920, 25). Daneben existiere jedoch eine zweite, gleichursprüngliche Lebensreihe, die durch ‘Kampf’ statt durch ‘Liebe’ bestimmt sei, im Verhältnis von Herr und Knecht wurzele, von dort zur Beziehung von König und Stab überleite, um schließlich in den Institutionen des Staates und des Imperiums zu kulminieren (1929a, 11ff.).

Während bei Riehl indes die von der Familie über das Volk zur Gesellschaft führende Linie eine eigene Dynamik aufwies, die in Gestalt des Bürgertums in das Feld des Staates und der Geschichte hinüberwirkte – der Obertitel seines Hauptwerkes hieß nicht zufällig Naturgeschichte des Volkes –, riß Stapel diese Beziehung auseinander. Wohl erhob auch er das Volk zur höchsten Wirklichkeit, von der aus gesehen der Staat nur ein Nachgeordnetes, Abhängiges sein könne: Volk sei ein „Stück Natur“, ein „unmittelbares Gebilde aus Gottes Schöpferhand“, das als solches nur hingenommen und durch keine willentliche, politisch-staatliche Aktion verändert werden könne (1920, 18, 38, 43; 1919, 167). Im Gegenzug wurde jedoch auch die Übertragung volksgemeinschaftlicher Prinzipien auf den Staat abgelehnt. Alle bloße Volksgemeinschaft habe etwas Anarchisch-Kommunistisches an sich und produziere deshalb nur Chaos, wenn sie sich im politisch-staatlichen Feld geltend mache (1929a, 14f.). Zwischen dem Staat als territorial bestimmter Herrschaftsordnung und dem Volk als naturhaft-vegetativem Zusammenhang gebe es eine „immerwährende Auseinandersetzung“, bei der mal die eine, mal die andere Seite das Übergewicht habe, ohne daß je an eine Aufhebung dieser Spannung zu denken sei (1927, 509).

Die Probleme einer derartigen Konzeption blieben nicht unbemerkt. Max Hildebert Boehm hielt Stapel 1932 vor, er nähere sich bedenklich einer naturalistischen Übersteigerung, wenn er das Volk als ein höheres Naturwesen auffasse, dem der einzelne als Glied eindeutig und endgültig eingeordnet sei (1965, 136). Gewiß gebe es diese Naturseite: Volk sei immer auch Demos, der sich aus den Familien als Zellen aufbaue; durch sie wurzelten Volk und Volkstum „in einem Bereich des Urhaften und Menschentümlichen, der bis ins Animalische übergreift“. Daneben aber sei das Volk auch Staatsvolk bzw. Nation, eine Größe, die sich „im Element der Macht zu einer willensgebundenen Einheit hinentwickelt und sich als solche (…) neu konstituiert“. Und dann sei es noch Ethnos, ein geistig-kultureller Zusammenhang, der sich vor allem auf zwei Ebenen manifestiere: im Lebensstil, der heute an die Stelle der Sitte getreten sei, und der Ehre, die „durch führende Personen und vorbildliche Schichten oder Sondergruppen“ eines Volkes erkämpft und bewährt werde (19, 35, 188). Das richtete sich nicht nur gegen die ‘Volksbiologie’ im Sinne Stapels und Kolbenheyers, sondern auch gegen den „Blutdeterminismus“ im Sinne Alfred Rosenbergs, den Boehm als „pseudoreligiös“ verwarf (23). Obwohl Boehm sich von dieser Gegnerschaft später nicht abhalten ließ, sein Expertenwissen in Sachen Osteuropa dem NS-Regime zur Verfügung zu stellen, hielt er seinen, wenn nicht antinaturalistischen, so doch die ‘natürlichen’ Aspekte des Volkes deutlich herunterspielenden Standpunkt mit beachtlicher Konsequenz durch. So vertrat er etwa während des Krieges die Forderung, die Polen zu assimilieren und ihnen Aufstiegschancen im deutschen Volk einzuräumen, da nur auf diese Weise die eroberten Gebiete zu halten seien (Klingemann 1996, 81).

Boehms Auffassungen stießen auf den Widerspruch Hans Freyers, der Ende 1933 zum ‘Führer’ der deutschen Soziologie aufstieg. Freyer fand, daß die von Boehm zu Recht betonte Eigenständigkeit des Volkes zu wenig auf politischem Gebiet zur Geltung gebracht werde (1933, 6, 16f.). Politik bleibe bei den neuen Volkstheoretikern (zu denen er auch Stapel zählte) monopolistisch auf die Staatsnation bezogen, womit man in den Grenzen des „alten Nationalismus“ verharre (1934a, 9). Der „junge“ oder „neue Nationalismus“ seit Moeller van den Bruck hingegen sei „völkisch“. Sein Ausgangspunkt sei das deutsche Volkstum als eine Wirklichkeit, „die unabhängig von politischen Grenzziehungen und Grenzzerreißungen ihren Bestand hat“ (1934b, 3), aber deshalb keineswegs unpolitisch sei. Anstatt mit zwei oder drei unterschiedlichen Daseinsmodi des Volkes, die nicht miteinander vermittelt seien, habe man es mit einem dialektischen Prozeß zu tun, der steten Verwandlung von „Volkstum“ in „Volk“. Volkstum sei ein „Geschenk“, eine Bildung der Natur, die durch bewußte menschliche Aktivität weder erzeugt noch verändert werden könne; Volk ein Gut, das erworben werden wolle, eine geschichtliche Leistung. „Und während das Volkstum seiner Seinsweise nach Potenz, seinem Werden nach Wachstum, seinen Wurzeln nach Natur ist, ist das Volk seiner Seinsweise nach Gebilde, seinen Wurzeln nach Wille, seinem Werden nach Geschichte“ (1929, 16).

Näher besehen löste sich die Differenz zu Boehm freilich in nichts auf. Wie sehr Freyer sich auch darum bemühte, dem werdenden Volk die volle Konkretion einer Naturmacht zuteil werden zu lassen, wie laut auch sein Freund und Mitstreiter Gunther Ipsen das Lob des Landvolkes sang und „Blut und Boden“ beschwor (Ipsen 1933 a; 1933b), so genau wußte man doch gleichzeitig, daß dies alles tempi passati war. Freyer und Ipsen waren Soziologen genug, um nicht zu wissen, daß auch das deutsche Volk „durch das Schicksal der industriellen Gesellschaft so gründlich hindurchgegangen (ist), daß es dadurch aufs tiefste umgeformt worden ist“ (Freyer 1934a, 5). Sie registrierten genau, daß Industrialisierung und staatliche Sozialpolitik vom Volkstum wenig mehr als die Sprache übriggelassen hatten und daß es gänzlich unrealistisch war, dies rückgängig machen zu wollen.16 Das Volk, das sie zur geschichtlichen Aktion aufriefen, zur Revolution von rechts, war denn auch weder Demos noch Ethnos im Sinne Boehms, sondern eine rein politische Größe: „das aktive Nichts in der Dialektik der Gegenwart, also die reine Stoßkraft“ (Freyer 1931a, 53). Volk: das war „reine Kraft, reiner Aufbruch, reiner Prozeß“ (ebd.), war das Streben, ein autonomes Willenssubjekt zu werden und politisch aktiv zu werden. Im gleichen Maße aber, in dem es dies tat, war das Volk auch bereits Staat, so daß Volk letztlich nichts anderes war als Staat in statu nascendi, Staat nichts anderes als Volk in verfestigtem Zustand. In der Revolution von rechts, schrieb Freyer, erscheint die tiefste Schicht des Volkes als Staat. Diese Revolution besteht nachgerade im Staatwerden des Volkes, in der „Einswerdung von Volk und Staat“ (69, 62):

„Das Volk, zumal das revolutionäre, ist kein Körper, sondern ein Kraftfeld. Der Staat, zumal der revolutionär handelnde, ist nicht die Haut oder das Fell oder der Panzer jenes Körpers, sondern er ist die Integration jenes Kraftfeldes zu politischer Geschichte. In millionenfältigen Antrieben und Auftrieben regt sich das Volk: ein lebendiger Raum, der in allen seinen Elementen zittert. Der Staat ist nichts als die geschichtliche Dynamik, zu der dieser Raum zusammenschießt. Er ist nichts als das politisch werdende Volk, – aber das ist viel. Er ist das Erwachen des Volks aus zeitlosem Dasein zur Macht über sich selbst und zur Macht in der Zeit“ (65).

Das war exakt die gleiche Konstellation, die Boehm und vor diesem schon Max Weber mit dem Begriff der (Staats-)Nation belegt hatte.

Nur „reine Bewegung“ und sonst nichts war der neue Nationalismus bei Ernst Jünger und seinem Kreis (1926d, 9). Und so verwundert es denn auch nicht, daß diese reine Bewegung alles mitnahm, was irgendwie mobilisierend wirken konnte. Der Akzent lag zwar sehr deutlich auf dem holistisch-ethnischen Nationsbegriff, doch finden sich die diversen Elemente desselben in buntem Durcheinander, manchmal bejaht und manchmal verneint. Sehr gern wurde die Nation als „Blutsgemeinschaft“ beschrieben (1927c, 68ff.) und mit charismatischen Qualitäten ausgestattet, von denen her „jede Vermischung und Gleichberechtigung der Rassen“ als „ein Greuel“ perhorresziert wurde (F. G. Jünger 1926, 33).

Gleichzeitig wurde das Wort Rasse scharf zurückgewiesen und betont, das Blut lege keinen Wert darauf, „sich auf einem Wege legitimieren zu lassen, auf dem auch die Verwandtschaft zum Pavian bewiesen werden kann“ (E. Jünger 1927c, 71). Blut sei kein vorwiegend biologischer, „sondern ein vorwiegend metaphysischer Begriff“ (1926e, 579). Für diese Metaphysik wiederum wurde der Rekurs auf den deutschen Idealismus mit der Auskunft abgelehnt, das Land Fichtes gebe es nicht mehr, jedoch nur, um wenig später emphatisch Fichtes Ursprachendoktrin zu erneuern (578; 1930a, 26). Im Arminius wurde in großen Worten die Bedeutung der Tradition beschworen, während man zur selben Zeit im Deutschen Volkstum Tradition für einen mindestens so peinlichen Begriff erklärte wie Rasse (1927a, 6; 1926e, 579). Was die deutsche Nation war, war diesem Nationalismus höchst unklar. Klar war nur, daß man möglichst viel davon wollte: ein „großes und mächtiges Reich aller Deutschen“, den „unwiderstehliche(n) Hundertmillionenblock des Deutschtums im Herzen Europas“, der ein weltbeherrschendes Imperium germanicum schaffen sollte (1925, 2; F. G. Jünger 1926, 65, 69).

Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945

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