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Westpolynesien

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Polynesien ist von den östlichen Teilen Melanesiens durch einen 850–1000 km breiten Wassergraben getrennt, der die für regelmäßige Hin- und Rückfahrten errechnete maximale Reichweite von 600 km deutlich übersteigt. Von Fiji bis zu den Marquesas sind es rund 4500 km, von dort nach Hawaii 3800 km, bis zur Osterinsel 2700 km. Unter den Bedingungen einer neolithischen Technologie waren diese Distanzen wohl überwindbar, wie die Besiedlungsgeschichte dokumentiert; aber nur in aufwendigen und deshalb wohl nicht allzu häufigen Unternehmungen. In dieser Hinsicht kann insbesondere der polynesische Teil Ozeaniens als eine Art Experiment angesehen werden, das darüber Aufschluss gibt, welche Wirkung die Ausdehnung des Raums bei gleichzeitigem Fehlen der umweltbedingten Abgegrenztheit im Sinne Carneiros auf die soziale und politische Struktur hat.

Diese Wirkung zeigt sich bereits in Westpolynesien, das ab 1200 v. Chr. von Lapita-Siedlern erschlossen wurde (Kirch 1997, S. 62). Das Band, das die auf Fiji, Samoa und Tonga etablierten Dörfer – durchweg in Küstennähe gelegen und in Bezug auf die Ernährung von marinen Ressourcen abhängig (Spennemann 1990) – mit ihren Muttergemeinden in Melanesien verband, scheint sich schon bald gelockert zu haben und schließlich ganz gerissen zu sein, wie sich sowohl aus archäologischen als auch aus linguistischen Befunden ergibt. Auch innerhalb dieses Segments – der „Eastern Lapita“-Interaktionssphäre –, scheint ein regelmäßiger Austausch nicht länger als zwei oder drei Jahrhunderte bestanden zu haben. Das gemeinsame Proto-Zentralpaziflsche Idiom differenzierte sich während des 1. vorchristlichen Jahrtausends in Proto-Fiji und Proto-Polynesisch, die Begräbnissitten auf Samoa und Tonga entwickelten sich auseinander, und der Lapita-Stil erfuhr eine fortschreitende Simplifizierung, bis um ca. 500 n. Chr. die Töpferkunst ganz aufgegeben wurde. Die wachsende Isolation und Binnenorientierung der westpolynesischen Gesellschaften zeigt sich auch in der Änderung der Ernährungs- und Siedlungsweise. Die küstennahen Dörfer wurden aufgegeben und durch Niederlassungen im Landesinneren ersetzt. Der Fischfang trat an Bedeutung hinter dem Gartenbau zurück.26

Ob diese Veränderungen auf die Anpassung an lokale Bedingungen oder auf eine zweite Besiedlungswelle zurückzuführen sind, die Bevölkerungsgruppen aus Asien mit andersgearteter materieller Kultur und anderen Sitten nach Westpolynesien brachte, ist Gegenstand einer anhaltenden Diskussion.27 Auch über die anschließende Zeit gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse. Patrick Kirch hat zwar den anerkennenswerten Versuch unternommen, einen Idealtypus der „Ancestral Polynesian Society“ (APS) zu konstruieren, der um das Konzept des konischen Klans zentriert ist (Kirch 1984, S. 66; vgl. Hage/Harary 1996, S. 106), doch kann er sich dabei nur auf linguistische Indizien stützen. Dass die APS darüber hinaus durch eine fortgeschrittene Stratiflkation und ein erbliches Häuptlingstum gekennzeichnet gewesen sei, das religiöse und weltliche Funktionen vereint habe (Kirch/Green 2001, S. 201ff., 226ff., 248f.), würde wohl vorzüglich in ein evolutionistisches Szenario passen, ist aber nicht hinreichend belegbar, um die Kritiker zu überzeugen, die ein Ramagesystem und ein daraufgestütztes Häuptlingstum erst für ein späteres Stadium gelten lassen wollen.28 Folgt man Lichtenberk, so gab es im Proto-Ozeanischen wohl einen Terminus für ‚Führer‘, doch sei ohne zusätzliche Informationen über den Kontext nicht genau zu bestimmen, ob es sich dabei um Führung im Sinne des Häuptlingstums oder des Big-Man handele.29 Kurzum: Um ein einigermaßen begründetes Urteil über die APS abzugeben, ist die Faktenlage zu dürftig.

Deutlichere Konturen gewinnt die Entwicklung erst seit dem 13. Jahrhundert, als auf Tonga das sogenannte Formativum zu Ende ging und sich die Anfänge einer inselübergreifenden Herrschaftsordnung abzeichneten.30 Dass diese um Tonga zentriert war, ist auf den ersten Blick überraschend, denn mit nur 700 km2 verfügt dieser Archipel über eine bedeutend geringere Bodenfläche als Samoa (3000 km2) und Fiji (18.000 km2). Auch die Einwohnerzahl (20.000–40.000) konnte sich mit derjenigen der beiden anderen Inselgruppen (80.000 bzw. 150.000 bis 200.000) nicht messen.31 Darüber hinaus hat die Landwirtschaft auf Tonga mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die Samoa und Fiji nicht kennen: Es fehlen permanente Wasserläufe, sodass Bewässerungsanbau nicht möglich ist; der Niederschlag ist unregelmäßig, mit der Folge von Trockenperioden; schließlich kommt es auch häufiger zu Zyklonen (Kirch 1984, S. 221). Auf der Plus-Seite steht dem die große Fruchtbarkeit der vulkanischen Böden entgegen, ferner die Lage in einer günstigen Windrichtung, die häufige und regelmäßige Kontakte zwischen den Inseln des Archipels erleichtert.

Erste Siedlungsspuren auf Tonga werden auf die Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. datiert (Burley 2013, S. 440f.). Genaueres lässt sich allerdings erst für eine sehr viel spätere Epoche sagen, das sogenannte Formativum, das gegen Ende Zeichen für einen Hierarchisierungsprozess erkennen lässt. Um 1250 n. Chr. wurde in Heketa auf Tongatapu das große Ha’amonga-’a-Maui genannte Trilithon errichtet, dessen aufrecht stehende Steine die älteren und jüngeren Söhne des Herrschers symbolisierten, während der Verbindungsstein für das Band der Brüderschaft zwischen beiden stand (Burley 1998, S. 372). Mündlich überlieferten Traditionen zufolge wurde bereits nach zwei Generationen die Residenz des Herrschers nach Lapaha verlegt, das über einen sicheren und leicht zugänglichen Hafen verfügte. Der etwa 140.000 m2 umfassende Bezirk war durch einen Graben abgegrenzt, für dessen Bau ca. 28.000 Tonnen Kalkstein ausgehoben werden mussten. In ihm wurden, vermutlich seit Mitte des 15. Jahrhunderts, monumentale Gräber angelegt, mit denen die Herrscher sich selbst und ihre Ahnen verewigten.32 Auf dem Platz vor diesen Gräbern fand die jährliche ’inasi-Zeremonie statt, bei der die lokalen Häuptlinge Yams, Schweine und wertvolle Gegenstände als Tribute offerierten (Kirch 1990, S. 208). Weitere Großbauten waren Memorialsteine, Plattformen und Erdaufschüttungen, die z.T. in Stein gefasst wurden und der Elite als Aussichtspunkte oder zu sportlichen Zwecken wie der Taubenjagd dienten.33

Die Schaffung eines solchen Zentrums, dessen Bau ein hohes Maß an Mobilisierung und Organisierung von Arbeitskräften implizierte, ist ein deutlicher Hinweis auf eine Konzentration der rituellen und politischen Macht. Es ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit eine Lineage über die anderen die Oberhand gewann und unter dem Titel Tu’i Tonga die Herrschaft über Tongatapu erlangte. Schon der bloße Titel deutet Entscheidendes an. Denn während überall sonst in Polynesien Häuptlinge mit dem Ausdruck ariki bezeichnet wurden, kommt tu’i, übersetzbar etwa mit „Herr des Ortes“, nur in Westpolynesien vor. Nach Kirch ist die Annahme vertretbar, dass der Terminus die Entwicklung einer zweiten Ebene der Häuptlingshierarchie signalisiert, „das Haupt entweder der höchstrangigen Ramage innerhalb des konischen Klans oder der im Krieg stärksten Gruppe. Es scheint, daß zu Beginn des 2. Jahrtausends n. Chr. eine bestimmte Lineage auf Tongatapu die Hegemonie über einige früher unabhängige Häuptlingstümer gewonnen hat, unter denen die Insel geteilt war. Der Häuptling dieser aufsteigenden Linie nahm den Titel Tu’i Tonga an: Herr von Tonga“ (Kirch 1984, S. 223). Da schon bald auch die unmittelbaren Nachbarinseln wie Ha’apai, Tofua, Eua etc. unter die Oberhoheit des Tu’i Tonga gerieten, spricht Jean Guiart nicht mehr von einem Häuptlingstum, sondern von einem Staat: einem „ozeanischen Palaststaat“, der als einziges Herrschaftsgebilde dieses Raums vor der Ankunft der Europäer das Bild einer zentralisierten politischen Organisation biete, die an das japanische Shogunat oder den europäischen Absolutismus erinnere (Guiart 1963, S. 661, 667). In der epigenetischen Zivilisationstheorie firmiert Tonga als singuläres Beispiel in Ozeanien für eine Entwicklungssequenz, die von der tribalen Stufe über den konischen Klanstaat bis zum „dual state“ geführt habe.34

In seinen späteren Arbeiten über Ozeanien hat Friedman dies allerdings nicht wiederholt und eher eine Entwicklung nahegelegt, die im Rahmen tribaler Ordnungen verbleibt. Tonga erscheint in dieser neuen Perspektive als ein durchaus expansives, jedoch nicht staatlich organisiertes Prestigegüter-System, das sich bei seiner Ausdehnung wohl auch physischer Zwangsmittel bedient haben mag, für eine dauerhafte Kontrolle der unterworfenen Gebiete jedoch nicht über die erforderlichen personellen und materiellen Ressourcen verfügte.35 Wie für Prestigegüter-Systeme generell üblich, spaltete sich die Verbandsspitze. Nach der Ermordung des dreiundzwanzigsten Tu’i Tonga, so die Legende, trat der älteste Sohn die Nachfolge an, behielt für sich aber nur die rituellen Funktionen. Die politische und administrative Prärogative wurde auf das neue Amt des Hau oder „Temporal Lord“ übertragen und einem jüngeren Bruder zugewiesen (Gifford 1929, S. 48f.; Williamson 1924, Bd. I, S. 143ff.). Der archäologische Befund bestätigt diese Überlieferung insofern, als das zeremonielle Zentrum, Lapaha, in dieser Zeit in einen heiligen und einen weltlichen Bezirk untergliedert wurde. Gleichzeitig wurde ein großes Dock angelegt, das die wachsende Bedeutung der Außenbeziehungen dokumentiert (Kirch 1984, S. 227f.). Eine weitere Veränderung vollzog sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als im Zuge des Aufstiegs eines anderen kollateralen Zweigs der herrschenden Lineage in die Position des Hau ein neuer befestigter Bezirk geschaffen wurde, der an das alte Zentrum angrenzte und als Residenz des politischen Herrschers, seiner Priester und anderer Mitglieder seines Stabes diente (ebd., S. 229f.).

Auch in der ethnografisch dokumentierten Periode zeigt Tonga noch die typischen Merkmale eines tribalen Prestigegüter-Systems (Friedman 1981, S. 281; vgl. Hage/Harary 1996, S. 117f.). An der Spitze der soziopolitischen Hierarchie stand eine in Rängen gegliederte Patrilineage (haa), die ihre jüngeren Mitglieder (tehina) als Repräsentanten auf die Inseln des Archipels delegierte, wo sie in die örtlichen Häuptlingslinien einheirateten und die autochthonen Häuptlinge ersetzten (Bott 1981, S. 41f.). In umgekehrter Richtung entsandten die lokalen Lineages ihre Töchter nach Tongatapu, wo sie zu Frauen oder Konkubinen des Tu’i Tonga oder des Hau wurden (Kirch 1984, S. 235, 232). Diese Allianz verbürgte den Gemeinden der Inseln Zugang zu den imaginären Quellen des Wohlstands und der Fruchtbarkeit, der herrschenden Lineage dagegen einen ständigen Strom von Opfergaben, vor allem in Gestalt der ersten Früchte, die in der bereits erwähnten ’inasi-Zeremonie dem Tu’i Tonga dargebracht wurden. Dessen herausragende Stellung manifestierte sich dabei nicht nur in der rituellen Hierarchie, sondern auch in der Verfügung über den Boden. Er vergab ihn gegen Abgaben an die Adligen (’eiki), die es ebenfalls gegen die Verpflichtung zu Abgaben an die Gemeinden (tu’a) verliehen. Die reichhaltige Ausstattung ihres Haushalts mit Ressourcen wiederum ermöglichte es den Adligen, insbesondere den größeren Häuptlingen, beträchtliche Gefolgschaften (matapule) zu unterhalten, die sich z.T. aus Landfremden rekrutierten, etwa aus Samoanern, die mit angeheirateten samoanischen Häuptlingstöchtern nach Tonga gekommen zu sein scheinen.36

Wie alle Prestigegüter-Systeme, so wies auch dieses eine beträchtliche Zentrifugalkraft auf. Die Dispersion der dominierenden Patrilineage durch die Etablierung jüngerer Zweige führte zu einer Bilinearität der Rangbestimmung, in deren Gefolge sich die Praxis entwickelte, rituelle Ehren und mystische Kräfte über die weibliche, Titel, Land und politische Macht über die männliche Linie zu übertragen (Goldman 1970, S. 290f.; Rogers 1977, S. 171). Der grundsätzlich höhere Rang, den eine Schwester gegenüber ihrem Bruder einnahm, verschaffte dieser allerdings auch außerhalb rein ritueller Zusammenhänge eine erhebliche Vetomacht (Rogers 1977, S. 180; Bott 1981, S. 17ff.). Die Bilinearität verstärkte die Konkurrenz in der Oberschicht, indem sie die Zahl der Anwärter auf politische Führungspositionen vergrößerte. Entsprechend war die Geschichte Tongas, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, durch endemische Kämpfe um das Amt des Hau geprägt, das offenbar nicht mehr streng nach den Prinzipien genealogischer Seniorität vergeben wurde, sondern dem jeweils Mächtigsten und Durchsetzungsfähigsten – und das heißt faktisch: dem über das größte kriegerische Charisma Verfügenden – aus dem für die Nachfolge legitimierten Kreis zufiel (Douglas 1979, S. 26; Gunson 1979, S. 30). Wie instabil die Herrschaftsstruktur dabei wurde, zeigen die Ereignisse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als der Hau aus der Linie der Kanokupolu auf Veranlassung der ihm nachgeordneten Häuptlinge ermordet wurde und ein Angehöriger der rivalisierenden Tu’i Vava’u-Dynastie, Finau, den Titel erwarb (Gunson 1979, S. 44). Derselbe Finau war es auch, der von seiner lokalen Basis auf Vava’u aus den in Tongatapu residierenden Tu’i Tonga für abgesetzt erklärte und keine Tribute mehr entrichtete (Uplegger 1962, S. 120).

Sehr wahrscheinlich wurde damit nur der Schlusspunkt unter eine seit Längerem in Gang befindliche Erosion der Herrschaftsstruktur gesetzt. Die Entscheidung des Tu’i Tonga im 15. Jahrhundert, auf die Ausübung der politisch-administrativen Funktionen zu verzichten und diese an einen Zweig seiner Lineage zu delegieren, mag für eine gewisse Zeit den Zusammenhalt des Netzwerks gewährleistet haben, doch war der Preis dafür ein Auseinanderdriften der rituell und genealogisch bestimmten Ranghierarchie und der politischen Macht (Bott 1981, S. 39). Die Hau-Funktion entglitt bald der Kontrolle durch das Zentrum. Sie wurde zum Objekt heftiger Rivalitäten innerhalb der Aristokratie, während die Autorität des Tu’i Tonga immer weiter schrumpfte. Ausgeschlossen von der Gesellschaft, immobilisiert durch eine Plethora von Tabus, ohne Möglichkeit, in die Macht- und Besitzverteilung einzugreifen, verwandelte sich das Leben des Tu’i Tonga, wie es Kajsa Ekholm für die sakralen Herrscher Afrikas ausgedrückt hat, in „ein langes, kontinuierliches Ritual, dessen Zweck es ist, eine Ordnung zu bewahren, die in der Wirklichkeit seit langem verschwunden ist“.37

Zur Zeit Mariners scheint die Involution des Amtes zwar noch nicht so weit fortgeschritten gewesen zu sein wie in Zentralafrika, wo der Regizid zu den Strukturmerkmalen des sakralen Königtums gehörte, doch gab es bereits Erscheinungen, die in diese Richtung wiesen: Der gleiche Tu’i Tonga, dessen Stellung so gottähnlich war, dass man bei der Begrüßung seine Fußsohlen mit Kopf und Händen zu berühren hatte, musste bei der dem Gott Alo-Alo gewidmeten Zeremonie mit jedem männlichen Tonganer, der dies wollte, kämpfen, und wurde dabei nicht selten verletzt (Uplegger 1962, S. 142). Der ‚ozeanische Palaststaat’ (Guiart), der die europäischen Ethnografen so beeindruckt hat, ruhte auf einer äußerst brüchigen Grundlage. Wie war es möglich, dass ein derart fragiles Gefüge nicht nur die rund 200 Inseln des Tonga-Archipels verband, sondern auch noch die weit größeren Inselgruppen von Fiji und Samoa zu integrieren vermochte?

Eine Antwort kann aus Raumgründen hier nur für Fiji angedeutet werden, das wie Samoa in zahlreiche selbstständige Einheiten gegliedert war.38 Zum einen war dieser Archipel der Ort, an den Tonga seine höchstrangigen Frauen „exportierte“ (um nicht zu sagen: „entsorgte“), insbesondere die Tu’i Tonga Fefine, die Schwester des Oberhaupts der rituellen Hierarchie, die sogar ihren Bruder an Heiligkeit übertraf und deshalb praktisch in Tonga nicht zu verheiraten war (Rogers 1977, S. 178; Bott 1981, S. 32). Zum andern war Fiji die Quelle von Gütern, die für die Aufrechterhaltung des tonganischen Prestigegüter-Systems unverzichtbar waren.39 Da es auf Tonga nicht genügend Holz für den Bau von Hochseekanus gab, versorgte man sich auf Fiji, teils auf dem Tauschweg, teils durch gewaltsame Wegnahme, teils durch Produktion vor Ort: Auf den Lau-Inseln im westlichen Teil des Archipels fand noch Hocart Niederlassungen von Tonganern, insbesondere von Zimmerleuten.40 Die Leute aus Tonga, so beschrieb einer seiner Informanten das Verhältnis, „sind lästige Gäste, denn sie bringen wenig und tragen viel davon“.41 Tatsächlich scheint die Beziehung weitaus asymmetrischer gewesen zu sein als die zu Samoa. Denn während Letzteres als Lieferant hochrangiger „weiblicher“ Güter galt, bot Fiji nur Gegenstände „männlicher“ Arbeit, die wohl für Tonga unentbehrlich waren, aber nichtsdestoweniger in der Prestigeskala deutlich niedriger rangierten. Nach dieser Seite zeigte Tonga denn auch häufiger seine aggressiven, „phallischen“ Züge, wie die Berichte von militärischen Expeditionen gegen die Fiji-Inseln dokumentieren.42

Es ist denkbar, wenngleich auf der Basis des derzeitigen Forschungsstandes nicht hinreichend belegbar, dass diese asymmetrische Beziehung auch der seit Hocart viel diskutierten Einrichtung des „Stranger King“ auf Fiji zugrunde liegt: jener eigentümlichen, auf vielen Inseln des Archipels verbreiteten Auffassung, nach der der Häuptling ein vulagi sei, ein Gast aus einer anderen Welt, von jenseits des Meeres, der durch komplizierte Einsetzungsrituale gleichsam erst domestiziert, seiner Fremdheit und Gefährlichkeit beraubt und der lokalen Gemeinschaft inkorporiert werden muss.43 Die starke Akzentuierung der kriegerischen Eigenschaften dieses Fremden, der Umstand, dass ihm eine einheimische Frau von Rang zugeführt wird, die Tatsache, dass ihm keineswegs sämtliche Leitungsfunktionen übertragen werden und insbesondere die Verfügung über den Boden in den Händen der Einheimischen bzw. ihrer Repräsentanten bleibt: Dies alles deutet darauf hin, dass wir es mit einer jener für Prestigegüter-Systeme typischen Dyarchien zu tun haben, wie sie auch in Melanesien zu finden sind.44 Nicht recht hierzu passen will freilich die Beobachtung von Sahlins, derzufolge sich diese Dyarchie nicht in einer klaren Funktionsteilung zwischen Priesterschaft und Häuptlingsamt manifestiert, sondern als „komplementäre und zyklische Entgegensetzung“ von zwei Seiten des Herrschers, als „Ambivalenz, die sich niemals auflöst“ (Sahlins 1992, S. 94), worin möglicherweise ein Effekt der „Peripheralisierung“ Fijis zu sehen ist. Die einschlägige Literatur bietet leider keine präzisen Informationen über die Herkunft dieser Stranger Kings. Im Lichte der Kenntnisse über das aggressive Auftreten der Tonganer im Fiji-Archipel erscheint jedoch die Vermutung nicht abwegig, dass es sich um jüngere Mitglieder der zentralen Lineage von Tonga gehandelt haben könnte, die auf ähnliche Weise in Fiji Fuß faßten wie zuvor auf den Inseln des Tonga-Archipels. Eine Unterwerfung im Sinne einer Kontrolle des Alltagslebens durch Tonga wird dies nicht bedeutet haben. Wohl aber scheinen die Tonganer ein Netzwerk von Allianzen etabliert zu haben, durch das sie die Zirkulation von Prestigegütern in Westpolynesien weitgehend zu monopolisieren vermochten. Kein Eingeborener von Fiji, so berichtet jedenfalls Mariner, sei je anders nach Tonga gelangt als auf einem tonganischen Kanu, noch sei er je anders in seine Heimat zurückgekehrt als unter derselben Führung (Kirch 1984, S. 239).

Der charismatische Staat

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