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Kapitel 2

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Es war totenstill in dem schmucklosen Büro. Der Mann, der am Schreibtisch saß, war leichenblass. Zwischen seinen vom Alter ausgebleichten, fast weißen Haaren und seiner Gesichtsfarbe bestand kaum ein Unterschied.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Harkon Magnus, Präsident des Terranischen Konglomerats.

Die vier Männer und eine Frau, die ihm gegenüber im Halbkreis saßen, warfen sich unbehagliche Blicke zu und einigten sich wortlos darüber, wer denn nun fortfahren sollte.

Konteradmiral Okuchi Nogujama machte den Anfang. Der drahtige, alte Japaner leitete schon seit vielen Jahrzehnten erfolgreich den MAD und hatte in dieser Zeit gelernt, schlechte Nachrichten präsentierte man am besten direkt und ohne Schönrederei. Denn schlechte Nachrichten wurden nicht besser, wenn man um den heißen Brei redete.

»Was sich auf Ursus ereignete, hat sich in elf weiteren Systemen wiederholt«, begann der Geheimdienstchef seinen Bericht. »Zu den Kolonien, die gefallen sind, gehören unter anderem Oreanus, Edinburgh, Deltona, Kensington und Rainbow. Außerdem haben wir die Flottenbasis auf New Born und die Raumfestung im New-Zealand-System verloren.«

Präsident Magnus sah auf. Seine Augen war trübe vor Trauer und Schmerz. »Unsere Verluste?«

»Waren verheerend«, antwortete die einzige Frau der Runde. Admiral der Flotte Maria Antonetti rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Es war klar, dass sie am liebsten geschwiegen hätte, doch ihre Dienstauffassung zwang sie zu reden. Der Präsident hatte gefragt und die Beantwortung dieser Frage fiel in ihr Ressort. Während sie redete, strich sie sich eine Locke ihrer brünetten Löwenmähne hinter das linke Ohr.

»Wir haben die 3., 7. und 11. Flotte verloren.«

»Doch nicht etwa vollständig??«

»Beinahe. Zusammen erlitten die drei Flottenverbände fast achtzig Prozent Verluste. Die überlebenden Schiffe sind verstreut und ziehen sich in kleinen Grüppchen von der Frontlinie zurück. Es wird Zeit brauchen, sie wieder zu sammeln, und selbst dann werden sie eine ganze Weile nicht einsatzfähig sein.

Zum Glück war Kehler so umsichtig, sich nicht auf eine Verteidigung der Ursus-Kolonie bis zum letzten Mann einzulassen. Somit ist seine 5. Flotte noch relativ einsatztauglich. Allerdings mit fast fünfunddreißig Prozent Verlusten. Trotzdem hätte es weit schlimmer kommen können.«

»Das Ganze ist ein absoluter Albtraum.« Magnus schlug erneut die Hände über dem Kopf zusammen. Die Klimaanlage des Präsidentenpalais war defekt und alle Anwesenden litten unter der derzeitigen Hitzewelle. Aber obwohl es August und die Temperatur für Oslo ungewöhnlich warm war, schlugen über dem Präsidenten Wellen der Eiseskälte zusammen und er fröstelte. Eine Kälte, die sich nicht durch das Aufdrehen der Heizung hätte vertreiben lassen.

»Eine Katastrophe«, murmelte General Ephraim MacCullogh verdrossen. Der Oberkommandierende des Marine Corps fuhr sich mit einer Hand über den kahlrasierten, kantigen Schädel. Obwohl es in dem Büro über 30 Grad warm sein musste, war die Uniform des Marines geradezu penibel bis zum Kragen zugeknöpft. Mehrere dicke Schweißperlen rannen ihm über die Stirn und Magnus bewunderte seine Disziplin, sie nicht mit dem Ärmel der Uniform wegzuwischen.

General Daniel Sutter, Oberkommandierender der TKA, reichte Magnus wortlos eine Datendisc, die dieser mit zitternden Fingern annahm und in einen Schlitz auf der rechten Seite seines Schreibtischs steckte.

Nahezu ohne Verzögerung erschien flackernd ein Hologramm über der Eichenholztischplatte. Es war eine vollständige Darstellung der ruulanischen Vorstöße, komplett mit Schätzungen der aktuellen freundlichen und feindlichen Verluste sowie Hochrechnungen der vermuteten nächsten Ziele. Drei Systeme zwischen den eigenen und ruulanischen Linien glühten orange und zeigten damit an, dass sie derzeit noch verbissen umkämpft waren. Doch ein System fiel Magnus besonders ins Auge. Es befand sich an der äußersten Grenze des menschlichen Raums und war ebenfalls in Orange gehalten. Alle Systeme um diese einzelne, isolierte Enklave herum, glühten in Rot, um anzuzeigen, dass sie sich bereits in Feindeshand befanden.

»Was ist das?« Er deutete auf das einzelne System.

Sutter schnaubte kurz auf. Der grauhaarige, schmächtige TKA-General hatte als Tribut an die Hitze die obersten zwei Knöpfe seiner Uniform aufgemacht.

»Unser derzeit einziger Lichtblick. Das ist das Taradan-System.«

»Karpov?«

Sutter nickte. »Seit Negren’Tai waren wir bemüht, das Taradan-System in eine Festung zu verwandeln. Uns war zu jedem Zeitpunkt klar, es würde unsere erste Verteidigungslinie sein. Anscheinend haben sich unsere Erwartungen voll und ganz erfüllt.«

»Karpov hält also stand?!«, fragte Magnus mit aufkeimender Hoffnung.

»Allerdings«, erklärte Antonetti an Sutters Stelle. »Karpov hat den ersten Angriff abgewehrt und sich im Taradan-System eingeigelt. Seitdem hält er die Slugs auf Abstand.«

»Vielleicht kann er den Ruul in den Rücken fallen. Seine Position scheint mir ideal für einen Angriff auf ihren Nachschub zu sein. Er könnte ihren Vormarsch zum Erliegen bringen.«

Maria Antonetti schüttelte traurig den Kopf. Sie war diejenige, die dem Präsidenten auch diese Hoffnung nehmen musste.

»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Die Slugs konnten Taradan zwar nicht einnehmen, aber isolieren. Es gelang ihnen, beide Nullgrenzen des Systems mit den dazugehörigen Sprungpunkten zu erobern und Karpov sozusagen von jeder Möglichkeit abzuschneiden, das System zu verlassen. Der Admiral kontrolliert das innere System mit dem Flottenstützpunkt, der Werft und den bewohnten Planeten, die Ruul dafür das äußere System.

Außerdem wären seine Kräfte ohnehin nicht stark genug, die Ruul in Schwierigkeiten zu bringen. Selbst wenn er in der Lage wäre, das System zu verlassen. Und ein solches Abenteuer würde nur die bewohnten Planeten Taradans unnötig exponieren und einen Angriff der Slugs regelrecht herausfordern.«

»Dann ist er sozusagen neutralisiert.« Magnus’ Stimme troff vor Frustration und er war nahe daran, sich seinen beginnenden Depressionen zu ergeben.

»So würde ich das nicht gerade ausdrücken«, kam Nogujama Antonetti zu Hilfe. »Durch seinen anhaltenden Widerstand bindet Karpov zwei große feindliche Flotten. Flotten, die nicht gegen unsere Kolonien eingesetzt werden können. Allein dadurch entlastet er uns schon. Außerdem müssen die Ruul ihm an dieser Front ihre ganze Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wenn sie nur für einen Augenblick in ihrer Wachsamkeit nachlassen, wird der bärbeißige alte Haudegen ihnen die Hölle heißmachen.«

»Wie stehen seine Chancen, über einen längeren Zeitraum durchzuhalten?«

Nogujama fuhr sich mit einer Hand über das Kinn, als er über die Frage nachdachte. »Taradan ist fast völlig autonom. Karpov hat genügend Schiffe und durch die Werft auch die Möglichkeit, sie zu warten und zu reparieren. Ich denke, er kann durchhalten, solange es nötig sein wird. Zumindest können wir das nur hoffen.«

»Na schön«, lenkte Magnus ein. »Und wie sehen die Pläne meiner Stabschefs zur Rückeroberung der besetzten Kolonien aus?« Der Präsident sah auffordernd von einem zum anderen.

Wieder wechselten die Anwesenden unbehagliche Blicke. Der Schwarze Peter fiel erneut auf Nogujama.

»Es gibt keine.«

»Bitte??«

»Lassen Sie mich eines ganz klar vorneweg sagen. Wir haben darüber ausführlich diskutiert und sind uns einig, dass unser Militär derzeit nicht in der Lage ist, einen erfolgversprechenden Gegenangriff auf die Beine zu stellen. Unsere Verbände in der Nähe der Frontlinie sind eingekesselt oder zerschlagen und die Umgruppierung anderer Flotten, um die zu ersetzen, die wir verloren haben, braucht Zeit. Zeit, die wir nicht haben.

Auch die Ersetzung zerstörter Schiffe mittels Nachschub aus unseren Werften wird Zeit beanspruchen. Zu viel Zeit. Unsere militärischen Schiffswerften arbeiten mit hundertprozentiger Auslastung, aber wir müssen realistisch sein. Unsere Verluste auszugleichen, wird Monate oder sogar Jahre dauern. Vom notwendigen Personalbedarf, um diese Schiffe auch zu bemannen und gefechtsklar zu kriegen, will ich gar nicht sprechen.«

Magnus sah ratlos in die Runde. Wobei ratlos das falsche Wort war. Fassungslos beschrieb es da schon besser.

»Das ist Ihre Antwort? Wir tun einfach nichts?«

»Dass wir nichts tun, habe ich nicht gesagt. Wir können nur keine Gegenoffensive auf die Beine stellen.« Bevor Magnus etwas entgegnen konnte, hob Nogujama beschwichtigend die Hand. »Verstehen Sie mich richtig. Wir könnten durchaus einige der besetzten Systeme zurückerobern. Aber was dann? Die Ruul greifen mit einer solchen Stärke an, dass es abzusehen ist, dass wir die Systeme lediglich Tage würden halten können. Danach würden sie von den Slugs erneut eingenommen. Wir hätten Schiffe und Leben vergeudet, die wir noch dringend brauchen werden. Es wären die Siege, mit denen wir letztendlich den Krieg verlieren würden.«

»Was ist mit den Til-Nara oder anderen unserer Nachbarn? Wäre von denen nicht jemand bereit, uns zu helfen?«

Antonetti schlug bestürzt ihre Augen nieder. »Wohl kaum. Die Til-Nara haben noch mehr Systeme verloren als wir. Darunter auch fünf ihrer Brutplaneten. Die haben ihre eigenen Probleme. Was die anderen Völker in unserer Nachbarschaft angeht, so bezweifle ich, dass sie fähig oder willens sind, uns zu helfen. Die Slugs greifen nicht nur uns und die Til-Nara an, sondern alle Völker, die sich in der Stoßrichtung ihrer Hauptflotten befinden. Niemand hätte für möglich gehalten, dass die Ruul zu so etwas fähig sind. Tatsache ist, wir haben sie gründlich unterschätzt. Dies ist nicht nur ein Krieg zwischen uns und den Til-Nara auf der einen und den Ruul auf der anderen Seite. Dieser Krieg umfasst die gesamte Milchstraße.«

»Mein Gott!«, flüsterte Magnus andächtig.

»Aber noch gibt es Hoffnung«, ergriff zum ersten Mal der einzige Anwesende, der Zivilkleidung trug, das Wort. Der Mann war in einen einfachen, unscheinbaren Anzug gekleidet. Das einzige Zugeständnis des Sprechers an die Hitze war eine leichte Lockerung des Krawattenknotens. Sowohl Anzug als auch Krawatte waren in dezenten Beige- und Grautönen gehalten. Auf der Nase saß eine Brille mit schmalem Rand. Der Mann sah in jeder Hinsicht durchschnittlich aus und hätte eher in ein Buchhaltungsbüro denn in eine derart hochkarätige Besprechung gepasst. In einer Menschenmenge würde er sofort untergehen. Nur einer aus Tausenden gesichtsloser Geschäftsleute.

Nur war der Mann alles andere als Durchschnitt. Seine Äußeres war das Produkt eines jahrzehntelang fein säuberlich aufgebauten Images. Der Name dieses Mannes war Robert »Bobby« Bates. Der Leiter der Sicherheitsbehörde Erdsektor. Der SES war das zivile Gegenstück zum MAD und ein streng gehütetes Geheimnis. Offiziell gab es so etwas wie den SES gar nicht. Seine Existenz war nur einem streng begrenzten Kreis einflussreicher Persönlichkeiten bekannt, wovon die Anwesenden bereits zwei Drittel ausmachten.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, forderte Magnus ihn zum Fortfahren auf.

»Ich sage Ihnen aber gleich, es dürfte Ihnen kaum gefallen, was wir vorschlagen.«

»Sehr viel schlimmer kann es wohl kaum noch kommen.«

»Seien Sie sich da nicht so sicher«, beschwor Bates mit einer unheilverkündenden Stimme, die Magnus weitere Schauer dunkler Vorahnungen über den Rücken jagten.

»Wie Admiral Nogujama bereits ausgeführt hat, sind wir nicht in der Lage, die Ruul dauerhaft aus den besetzten Systemen zu vertreiben. Zumindest vorerst. Bis wir unsere Flotten wieder aufgebaut haben und dadurch in die Lage versetzt werden, das, was wir zurückerobern, auch halten zu können.«

»Soweit hab ich es verstanden. Und weiter?«

Bates atmete hörbar auf, bevor er weitersprach. »Wir schlagen vor, eine Verteidigungslinie aufzubauen, die stark genug wäre, den Vormarsch der Ruul zu stoppen.«

»Das klingt doch sehr vielversprechend?!«, antwortete Magnus zaghaft, dem langsam bewusst wurde, dass das noch längst nicht alles war. »Wo liegt der Haken?«

»In der jetzigen Konstellation ist die Frontlinie nicht fähig, dies zu gewährleisten.«

»Was wollen Sie mir sagen?«, wollte Magnus zögernd wissen.

»Dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird.« Bates reichte dem Präsidenten eine weitere Datendisc. Magnus nahm sie entgegen und tauschte sie gegen die bereits vorhandene aus. Ein weiteres Hologramm erschien über dem Tisch. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was an diesem Bild nicht stimmte. Als er endlich erkannte, worauf seine Stabschefs hinauswollten, verschlug es ihm glatt die Sprache.

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein«, begehrte er auf und meinte damit alle Anwesenden und niemand im Speziellen.

»Ich weiß, es ist schrecklich, und wir müssen heute eine furchtbare Entscheidung treffen, aber leider ist es auch unsere einzige Hoffnung.«

»Sie reden davon, weitere Kolonien aufzugeben? Sie dem Feind zu überlassen? Vor den Ruul praktisch zu kapitulieren?« Seine Stimme wurde immer lauter.

»Nein!« Bates hob mahnend den Zeigefinger. »Niemand redet von Kapitulation. Es geht nur darum, die Verteidigung von Welten einzustellen, die wir ohnehin nicht halten können, und die Truppen darüber hinaus aus drei weiteren Systemen abzuziehen und so eine Linie zu schaffen, die den Ruul standhalten kann. Wir müssen die komplette Frontlinie um vielleicht hundert Lichtjahre zurückziehen. Nur so haben wir eine reelle Chance.«

»Und die Menschen? Es ist unsere Pflicht, die Menschen zu beschützen. Wir können sie doch nicht einfach alle ihrem Schicksal überlassen?!«

»Der Sinn hinter unserem Vorschlag ist es, uns eine Atempause zu verschaffen. Die Ruul müssen Ressourcen und Zeit darauf verwenden, die eroberten Planeten unter Kontrolle zu bringen.«

»Das heißt, Sie werfen ihnen die Menschen einfach als Köder vor.«

»Sollten Sie unserem Plan zustimmen, beginnen wir umgehend mit der Evakuierung der gefährdeten Welten. Doch selbst wenn wir jedes einzelne zivile Transportschiff beschlagnahmen und einsetzen, werden Zehntausende Menschen zurückbleiben. Also im Endeffekt: ja. Wir benutzen sie als Köder. Und es hat keinen Sinn, etwas anderes zu behaupten.«

»Und wie weit wollen Sie die Linie zurückziehen?«

»Bis zu diesem Punkt.« Bates zog eine kleine Fernbedienung aus der Tasche und drückte einen Knopf. Sofort wurden drei Systeme hervorgehoben.

»Dies sind die Systeme Starlight, Fortress und Serena. Diese drei Kolonien werden das Rückgrat unserer neuen Verteidigung bilden. Wir nennen es die Fortress-Linie. Jedes der vorgenannten Systeme verfügt nur über einen einzelnen bewohnten Planeten. Das macht es für uns günstiger, sie zu verteidigen. Wir müssen unsere Ressourcen nicht auf mehrere zu verteidigende Kolonien verteilen, sondern sind in der Lage, unsere Kräfte zu konzentrieren.«

»Gibt es noch andere Gründe, warum es ausgerechnet diese Systeme sein müssen?« Das Ausmaß des umrissenen Plans weckte in Magnus noch immer Brechreiz und Übelkeit, dennoch war er bereit, zumindest zuzuhören.

»Starlight und Serena sind stark bevölkerte Kolonien und verfügen beide bereits über ausgedehnte Verteidigungsanlagen und ausreichend große Flottenstützpunkte sowie umfangreiche Truppenverbände an TKA, Marines und Miliz. Fortress hingegen ist unbewohnt und befindet sich zwischen den beiden vorgenannten Systemen.

Dort befindet sich ein alter ausgedienter Stützpunkt, der allerdings vor mehr als dreißig Jahren aufgegeben wurde. Wir werden ihn reaktivieren und alle Schiffe und Truppen dorthin umleiten, die sich derzeit von der Front zurückziehen. Mit all diesen Verbänden sind wir sicher, dass wir Fortress zu einem starken Stützpunkt ausbauen können. Und zwar bevor die Ruul ihn erreichen.« Bates räusperte sich verlegen.

»Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass sich Admiral Hoffer mit dem, was von seiner Flotte übrig ist, bereits auf dem Weg dorthin befindet. Nach seinem Rückzug aus dem Asalti-System hat er sich nach New Zealand begeben und dort bei der Verteidigung gegen die ersten Angriffe geholfen. Als klar war, dass weiterer Widerstand sinnlos ist, hat er Malkner und den Rest seiner Stationsbesatzung evakuiert und die Raumfestung zerstört. Zusammen mit dem Rest von Kehlers 5. Flotte hätten wir bei Fortress bereits den Kern eines großen funktionierenden und aufeinander eingespielten Verbands. Die übrigen Schiffe, die wir nach Fortress umleiten, würden nur noch dazu dienen, Lücken zu füllen und die Stärke auf ein akzeptables Maß aufzustocken.«

»Und Sie haben bereits meine Entscheidung vorweggenommen und ihn dorthin geschickt?« Trotz der ernsten Situation schmunzelte Magnus.

»Es war wenig Zeit, erst um Erlaubnis zu bitten. Zeit zu verschwenden ist etwas, das wir uns nicht leisten können.«

»Ich sehe allerdings noch ein paar Probleme. Der Weltraum ist kein zweidimensionales Gebilde. Warum sollten die Slugs unsere Fortress-Linie nicht einfach ignorieren und zum nächsten Ziel weiterziehen? So, wie sie es mit Taradan gemacht haben.«

»Sie konnten Taradan isolieren, weil die Planeten ringsherum bereits gefallen waren. Hier ist das nicht der Fall. Die Ruul sehen sich mit drei stark befestigten Systemen konfrontiert. Sie können die Systeme nicht belagern, weil die anderen dem jeweils angegriffenen System sofort zu Hilfe kommen könnten. Und sie können sie nicht ignorieren und weiterziehen, weil Hoffer und seine zwei Kollegen bei Starlight und Serena in der idealen Lage wären, den Ruul in den Rücken zu fallen.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ruul ihre Überfallkommandos an der Fortress-Linie vorbeischleusen werden, um unser Hinterland anzugreifen«, ergriff Antonetti erneut das Wort. »Mit denen werden wir aber schon fertig. Doch die Hauptstreitmacht der Ruul wird sich mit unserer Verteidigungslinie befassen. Sie können sie in ihren Überlegungen nicht außen vor lassen.«

»Und da sind Sie sich sicher?«, fragte Magnus argwöhnisch.

»So gut wie«, lächelte Nogujama schwach. »Aber es ist der beste Plan, den wir in der kurzen Zeit austüfteln konnten.«

Magnus kämpfte gegen den Drang an, sich von Nogujamas Optimismus anstecken zu lassen. »Mit Hoffer, Malkner und Kehler befinden sich bei Fortress drei Admiräle. Wer übernimmt das Kommando über das System.«

»Hoffer ist der Ranghöchste und Dienstälteste«, antwortete der weibliche Admiral sofort. »Kehler wird sein Stellvertreter und Malkner als ehemaliger Stationsbefehlshaber übernimmt Logistik und stationäre Verteidigung des Systems. Die drei werden sich perfekt ergänzen.«

»Wie es aussieht, habe ich wohl keine andere Wahl, als dem Plan meine Zustimmung zu geben.«

»Da … wäre … noch etwas«, fiel Bates ihm ins Wort.

»Irgendwie hab ich es geahnt. Und das wäre?«

»Die Kolonien auf dem Weg der Ruul zu räumen wäre allein nicht genug, um ihren Vormarsch so weit zu verlangsamen, dass wir die Fortress-Linie aufbauen können. Unser Plan umfasst daher zwei weitere Punkte.«

»Ich höre«, sagte Magnus mit der Stimme eines Mannes, der wusste, ihm würde nicht gefallen, was er gleich zu hören bekam.

»Der Kontakt mit den angegriffenen Welten ist so gut wie abgeschnitten, dennoch erreichen uns fast stündlich neue Signale von Amateurfunkern aus den besetzten oder umkämpften Kolonien. Wir versuchen, aus diesen Sendungen so viel Informationen wie möglich herauszufiltern, und demnach gibt es bereits auf einigen Welten Widerstandsgruppen. Vereinzelt sind zurückgelassene Soldaten darunter. Hauptsächlich Miliz, aber auch Marines und TKA. Die Mehrzahl der Widerstandskämpfer besteht jedoch aus Zivilisten mit bestenfalls dürftiger Ausrüstung und Ausbildung.

Wir würden nun Blockadebrecher aussenden, um die entsprechenden Kolonien anzufliegen und Ausrüstung sowie Ausbilder abzusetzen. Das würde die Ruul beschäftigt halten und die Eroberung unserer Systeme durch den Feind hinauszögern. Die ROCKETS würden sich als Ausbilder hervorragend eignen und den Slugs zur Abwechslung mal in deren Hinterland einigen Ärger bereiten. Mir liegen bereits Gesuche der meisten ROCKETS-Teams vor, sich für diese Aufgabe freiwillig zu melden.«

»Das hört sich gar nicht schlecht an. Dafür haben Sie meine Einwilligung. Und der zweite Punkt?«

Bates betätigte erneut einen Knopf an seiner Fernbedienung. Das Bild wechselte. Die Karte machte der Aufnahme eines ruulanischen Schiffes Platz. Aber eines Schiffes, wie Magnus es noch nie gesehen hatte.

»Gütiger Himmel!«

Bates nickte zustimmend. »Hoffer hat diese Aufnahme auf seinem Rückzug aus dem Asalti-System gemacht. Wir teilen seine Auffassung, dass es sich hierbei um das feindliche Flaggschiff mit der ruulanischen Führung an Bord handeln muss.«

Ein weiterer Knopf wurde gedrückt und entlang des gesamten Schiffes glühten einzelne Punkte rot auf. »Von der schieren Größe des Schiffes abgesehen, ist es auch noch überaus stark bewaffnet und wird ständig von einer großen Flotte abgeschirmt, deren einziger Zweck es ist, das Flaggschiff zu beschützen. Ein direkter Angriff auf dieses Schiff ist undenkbar und wäre von vorneherein zum Scheitern verurteilt.«

»So, wie Sie sich ausdrücken, haben Sie eine andere Möglichkeit im Sinn, diesem Schiff zu Leibe zu rücken.«

»Allerdings«, nickte Bates. »Von innen.«

»Entweder bin ich in meinem Alter schon verkalkter, als ich dachte, oder Sie haben gerade tatsächlich angedeutet, wir zerstören das Schiff von innen.«

»Mit Ihrem Gehör und Ihren Arterien ist alles in Ordnung«, beruhigte ihn der SES-Chef lächelnd. »Sie haben schon richtig verstanden. Wir haben vor, ein Team zu rekrutieren und auszubilden, um in dieses Schiff einzudringen, dort Sprengladungen zu legen und es zu zerstören. Damit schalten wir nicht nur die ruulanische Führung aus, sondern stürzten die Ruul vielleicht sogar ins Chaos.«

»Welches ROCKETS-Team schlagen Sie für eine solche Selbstmordmission vor?«

Bates wechselte einen schnellen Blick mit Nogujama. Dieser verstand den Wink und sprang für seinen Geheimdienstkollegen in die Bresche.

»Nun ja, wie bereits erwähnt, werden die ROCKETS für die Ausbildung der örtlichen Widerstandskämpfer gebraucht. Und zwar alle ROCKETS. Andere Spezialeinheiten sind ebenfalls im Einsatz oder für eine Mission von solchen Ausmaßen nicht hinreichend ausgebildet. Unsere Ressourcen sind bis an ihr absolutes Limit beansprucht.«

»Und das heißt …?«

»Das heißt, dass wir uns an Orten nach Männern und Frauen für diesen Einsatz umsehen müssen, an dem man für gewöhnlich eher weniger nach Patrioten sucht.«

Magnus sah aufmerksam in die Runde, doch diesmal wich jeder der Anwesenden peinlich berührt seinem Blick aus.

»Würde mir endlich jemand sagen, was in Ihren Köpfen vorgeht?«

Nogujama umriss in groben Zügen, was sie sich ausgedacht hatten, und Magnus musste seine ursprüngliche Einschätzung revidieren. Nur zu behaupten, dass ihm der Plan nicht gefiel, war eine glatte Untertreibung. Was seine Stabschefs sich da ausgedacht hatten, war schlichtweg Wahnsinn.

Als Harkon Magnus drei Stunden später den Plenarsaal des Parlaments des Terranischen Konglomerats betrat, wurde er von einem Blitzlichtgewitter der Medien empfangen. Er versuchte, seine Augen nicht allzu sehr zuzukneifen. So etwas machte sich auf Zeitungsfotos oder im Fernsehen nie besonders gut. Begleitet wurde er nur von Nogujama. Bates und die übrigen Offiziere hatten sich bereits aufgemacht, alle notwendigen Schritte einzuleiten. Auch der MAD-Chef würde noch vor dem Einbruch der Nacht aufbrechen. Ein Schiff stand bereits im Orbit bereit, um ihn nach der heutigen Krisensitzung zu seinem Bestimmungsort zu bringen.

Alles, was noch fehlte, war die Zustimmung des Parlaments. Sollten die Abgeordneten dem Plan nicht zustimmen, wäre Nogujamas anstehende Reise sinn- und zwecklos geworden. Alles hing von den nächsten paar Minuten ab. Und davon, wie überzeugend er auf die Abgeordneten wirkte.

Ohne Umschweife ging Magnus zu seinem Rednerpult an der nördlichsten Ecke des Raumes. Nicht nur die Presse, sondern auch 409 Augenpaare beobachteten aufmerksam jede seiner Bewegungen. Er war sich unangenehm der Fernsehkameras auf der Tribüne bewusst, die die Sitzung live übertrugen. Was er nun tun musste, würde einen Sturm der Entrüstung entfachen. Aber wie Nogujama bereits auf der Fahrt hierher gesagt hatte, entweder sie stoppten den Vormarsch der Ruul oder sie wurden binnen weniger Monate überrannt.

Als er seinen Platz mit langsamen, angemessenen Schritten erreicht hatte, wandte er sich endlich den Abgeordneten der 62 kolonisierten Systeme zu. Wie viel Abgeordnete jedes System ins Parlament entsenden durfte, hing von der Bevölkerung der jeweiligen Kolonie ab. Einige Kolonien stellten acht, andere nur einen oder zwei Abgeordnete. Das Solsystem als Heimat der Menschheit stellte zehn Abgeordnete, die direkt gegenüber dem Rednerpult saßen.

Magnus betrachtete die Gesichter der Abgeordneten. Die Emotionen, die er wahrnahm, reichten von Angst über Unsicherheit bis hin zu Neugier. Nogujama stellte sich schweigend direkt hinter ihn. Es war ungewöhnlich, dass bei einer Sitzung des Parlaments ein Militär anwesend war. Dass Nogujama hier war, und das auch noch in voller Uniform, machte einige Abgeordnete sichtlich nervös. Sie begannen zu begreifen, dass etwas Schreckliches vorgefallen war.

Magnus räusperte sich verhalten.

»Sehr geehrte Abgeordnete des Parlaments, liebe Mitbürger zu Hause an den Fernsehschirmen, verehrte Vertreter der Medien«, begann er seine Rede. »Ich trete heute erfüllt von tiefer Trauer und Bestürzung vor ihr Antlitz. Und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich nicht weiß, wie ich ihnen folgende Mitteilung schonend beibringen kann. Genauso wenig schäme ich mich zuzugeben, dass mir Tränen der Scham und des Schmerzes kamen, als ich heute diese Nachricht erhielt.«

Es wurde mucksmäuschenstill im Saal. Selbst die leisesten Gespräche unter den Abgeordneten verstummten. Alle verharrten in gespannter Erwartung.

»Heute Morgen wurden die äußeren Kolonien unserer Nation Opfer eines unerwarteten und nicht provozierten Angriffs durch Raumstreitkräfte, die zweifelsfrei als Teil der ruulanischen Stämme identifiziert wurden.«

Ein Raunen ging durch den Saal. Magnus kundiger Blick erkannte den Schock unter den Abgeordneten, den er gerade ausgelöst hatte. Beruhigend hob er seine Hände. Langsam kam der Saal wieder zur Ruhe. Jetzt, da die Bombe geplatzt war, wollten sie alles hören.

»Der Angriff wurde ohne Vorwarnung und mit solcher Brutalität geführt, dass die Verteidigung der betroffenen Welten innerhalb weniger Stunden überwältigt wurde. Wir haben bereits sehr schwere Verluste erlitten. Unser ganzes Mitgefühl gilt nun den Angehörigen der Männer und Frauen, die gefallen sind, verwundet wurden oder vermisst werden.

Meine nächsten Worte gehen an die Menschen zu Hause. Sollten Sie Verwandte oder Freunde haben, die Militärdienst an der Grenze leisten, so steht Ihnen seit heute eine Notfallnummer bereit, unter der die Streitkräfte Sie nach bestem Wissen und Gewissen über das Schicksal Ihrer Lieben aufklären werden.«

Ein Mann in der dritten Reihe sprang aufgeregt auf und schrie: »Welche Kolonien wurden angegriffen?«

»Jeder von Ihnen hat eine Mappe vor sich auf dem Pult liegen. In ihr ist ein vollständiger Bericht über alle bekannten Fakten des Angriffs sowie eine Liste der angegriffenen Welten enthalten.«

Rascheln erfüllte den Saal, als die Abgeordneten ungeduldig die vor ihnen liegenden Umschläge aufrissen und eilig die Zeilen überflogen. Bis sie zu dem Teil kamen, in dem die Angriffsziele der Ruul aufgelistet wurden.

Plötzlich wurde das Rascheln abgelöst von Stöhnen, Keuchen und unterdrückten Schluchzern. In den hinteren Reihen fluchte jemand lautstark. Eine Frau in der fünften Reihe ließ das Blatt Papier fallen, das sie in der Hand hielt, und wankte, sodass die Abgeordneten, die sie flankierten, sie stützen mussten, sonst wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen. Sie hielt fassungslos eine Hand vor den Mund. Ihre Lippen arbeiteten, aber es kam kein Laut heraus. Dann fing sie an, unkontrolliert zu weinen. Es war eine der Abgeordneten von Kensington.

Magnus wartete geduldig, bis sich der größte Aufruhr gelegt hatte. Er nutzte die Zeit, um Nogujama kurz einen Seitenblick zuzuwerfen. Der Admiral betrachtete die Szene jedoch mit stoischer, gelassener Miene und nichts deutete auf die Gedanken hin, die in seinem Kopf umherspukten.

Einer der Abgeordneten von Rainbow – ein älterer Mann mit Kinn- und Backenbart, aber dafür kaum noch Haare auf dem Kopf – stand müde und bis ins Mark getroffen auf.

»Welche Unternehmungen plant die Flotte zur Rückeroberung der besetzten Systeme und was ist über das Schicksal der Zivilbevölkerung bekannt?«

Schlagartig war es wieder still im Saal. Die Antwort auf diese Frage wollte jeder hören. Und es war die Frage, vor der Magnus die meiste Angst gehabt hatte. Doch noch hatte er ein Mittel, um die Antwort auf diese Frage ein wenig hinauszuzögern.

»Dazu komme ich gleich«, lenkte er ab. »Zuvor aber muss ich jedoch dieses Gremium um einige wichtige Entscheidungen ersuchen. Die Ruul haben uns vor dem Angriff keine offizielle Kriegserklärung zukommen lassen, dennoch gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wir uns derzeit mit den Ruul im Krieg befinden. Daher bitte ich das Parlament hiermit formell darum, den Kriegszustand auszurufen. Dies ist zwingend notwendig, um den nächsten logischen Schritt zu vollziehen, nämlich die Einberufung eines großen Teils der Reserve sowie die Umstellung der Wirtschaft auf Rüstungsgüter und die Verstaatlichung einiger ziviler Werften, um die Produktion von Kriegsschiffen zu unterstützen.«

Er stockte kurz. Seine nächste Ankündigung würde nicht gerade sehr populär sein.

»Um unsere erheblichen Verluste auszugleichen, bitte ich Sie außerdem, die Generalmobilmachung zu beschließen.«

Schockiertes Schweigen senkte sich erneut über den Saal. Dann schien das Parlament förmlich zu explodieren, als alle gleichzeitig aufsprangen und wild durcheinanderredeten.

»Bitte«, schrie Magnus in sein Mikrophon. »Bitte, so bringt uns das doch nichts. Bitte beruhigen Sie sich.«

Seine Worte zeigten Wirkung. Viel zu langsam, wie Magnus fand, dennoch kehrte wieder etwas Ruhe in den Plenarsaal ein. Die Abgeordneten von Delta Corona und Alabama standen fast gleichzeitig auf.

»Wissen Sie eigentlich, welchen Schaden Sie damit unserer Wirtschaft zufügen?«, fragte der Abgeordnete von Alabama. Sein Amtskollege von Delta Corona nickte zustimmend. »Wenn Sie das Gros der jungen Männer und Frauen einziehen, um im Krieg zu kämpfen, wird die Wirtschaft in sich zusammenbrechen. Es wird zu viele Lücken in den Fabriken und Firmen geben. Wer soll die alle füllen?«

»Um ganz ehrlich zu sein, Herr Abgeordneter, um die Schäden für die Wirtschaft mache ich mir im Augenblick weniger Sorgen. Die wird sich über kurz oder lang erholen. Aber wenn die Ruul uns weiter derart massiv zusetzen, werden sie uns in die Steinzeit zurückbomben. Es wird nichts von uns übrig bleiben. Gar nichts. Gibt es weitere Wortmeldungen zu dem Thema? Nein? Dann schlage ich vor, wir schreiten zur Abstimmung.«

Magnus versuchte abzuschätzen, wer dafür und wer dagegen sein würde. Was ihm Kopfzerbrechen bereitete, waren die vielen Unentschlossenen, die ratlos die Köpfe zusammensteckten und über ihr Votum berieten. Schließlich gab jeder Abgeordnete über drei Knöpfe vor sich seine Stimme ab. Als Magnus das Ergebnis schließlich vor sich sah, hätte er am liebsten vor Erleichterung tief durchgeatmet. 311 Stimmen dafür, 27 Enthaltungen und 71 dagegen. Das war zwar nicht so gut, wie er gehofft hatte, aber trotzdem gab es eine deutliche Mehrheit.

»Der Vorschlag ist also angenommen«, verkündete er.

Der Abgeordnete von Rainbow stand wieder auf. »Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet. Welche Pläne gibt es zur Rückeroberung der besetzten Welten und was ist mit der Zivilbevölkerung geschehen? Gibt es bereits zuverlässige Berichte über das Vorgehen der Ruul gegen Zivilisten?«

Magnus tat so, als würde er seine Unterlagen sortieren. Das verschaffte ihm einige kostbare Sekunden, in denen er seine Gedanken ordnen konnte. Dieser Frage konnte er nun nicht mehr ausweichen, durfte ihr auch nicht ausweichen, wenn er seine Glaubwürdigkeit vor dem Parlament behalten wollte.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren. Das alles fällt mir weiß Gott nicht leicht, dennoch ist es meine Pflicht, es Ihnen ohne Umschweife zu sagen. Derzeit sind wir nicht in der Lage, einen effektiven Gegenschlag auf die Beine zu stellen. Wir müssen …«

Ein Sturm der Empörung schnitt ihm das Wort mitten im Satz ab. Die Abgeordneten hielt es nicht länger auf ihren Sitzen. Alles schrie durcheinander. Hin und wieder flog sogar eine Beleidigung in Richtung des Präsidenten. Magnus wusste, er konnte dagegen nicht angehen, also saß er den Sturm einfach aus, tat nichts und wartete darauf, dass sich die Abgeordneten ausgetobt hatten. Mit mehr Geduld, als er eigentlich bereit war einzusetzen, wartete er bis alle – wirklich alle – wieder auf ihren Sitzen Platz genommen hatten. Und das dauerte eine Weile. Als die Abgeordneten endlich saßen, sprach Magnus eindringlich weiter.

»Wir müssen unsere Verteidigung stärken. Darauf kommt es jetzt an. Unsere Verteidigung stärken und unsere Kräfte wieder aufbauen. Dann – und erst dann – können wir hoffen, irgendwann die Ruul von unseren Welten vertreiben zu können. Wenn wir uns jetzt blindlings in ein Abenteuer von galaktischen Ausmaßen stürzen, würde das nur zu einem führen: zu unserer totalen Auslöschung. Denn eines muss uns allen unbedingt klar sein: Wir stehen einem gnadenlosen, unbarmherzigen Feind gegenüber, der geschworen hat, uns zu vernichten. Dies dürfen wir nie vergessen. Daher müssen wir klug und besonnen handeln. Ich verspreche Ihnen, es wird eine Gegenoffensive geben. Doch erst, wenn wir bereit dafür sind. Nicht vorher.«

Die Eindringlichkeit seiner Worte und die Ernsthaftigkeit seiner Mimik machten Eindruck und verfehlten ihre Wirkung nicht. Mehr als einer der Abgeordneten machte einen nachdenklichen Eindruck. Selbst die Abgeordneten, deren Heimat sich nun hinter der Front befand. Das machte das, was er nun tun musste, nicht gerade einfacher. Die ganze Sitzung lang, hatte er nur auf diesen einen Punkt hingearbeitet. Die Nachricht, dass die Menschheit noch mehr ihres Bodens aufgeben musste, wenn sie eine Hoffnung auf Überleben haben wollte.

»Was ich nun sagen muss, widerstrebt mir zutiefst. Das können Sie mir wirklich glauben, aber ich habe mich bereits den ganzen Tag mit meinen Stabschefs beraten und sie versicherten mir, dass es unsere einzige Hoffnung ist, diesen Krieg zu überstehen. Die ranghöchsten Offiziere der Waffengattungen legten mir heute einen Plan vor, der einige Aussicht auf Erfolg hat. Doch selbst wenn er gelingt, müssen wir einen furchtbar hohen Preis dafür zahlen.«

Er war sich schmerzhaft der Aufmerksamkeit bewusst, in deren Mittelpunkt er sich befand. Vonseiten der Abgeordneten, der Medien und sogar der Menschen, die die Sitzung zu Hause vor dem Fernseher verfolgten.

»Wir haben vor, eine Verteidigungslinie aufzubauen, die die Ruul wird aufhalten können. Die Linie besteht aus den Koloniewelten Starlight und Serena sowie dem unbewohnten Fortress-System. Aber um dies zu erreichen, müssen wir mehrere derzeit noch umkämpfte Systeme aufgeben sowie drei weitere evakuieren.«

Magnus erwartete, der Sturm der Entrüstung würde erneut losbrechen, doch nichts dergleichen geschah. Die Abgeordneten, die Journalisten und Kamerateams sahen ihn alle mit offenem Mund an, als hätte er den Verstand verloren. Im hintersten Winkel seines Verstandes fragte er sich, ob sie damit nicht vielleicht sogar recht hatten.

Plötzlich gellte eine schrille Stimme durch den Saal. »Sind Sie verrückt geworden? Die Ruul überrennen unsere Welten und jetzt wollen Sie ihnen sogar noch mehr davon in den Rachen werfen?«

Magnus konnte nicht ausmachen, woher die Stimme kam. Gut möglich, dass es nicht mal ein Abgeordneter war, sondern ein Mitglied der Presse. Er antwortete dennoch.

»Diese Entscheidung ist uns wirklich nicht leicht gefallen …«

»Sie Wahnsinniger«, schrie ein anderer, »wir werden diesen Krieg nicht gewinnen, indem wir dem Feind unsere Welten kampflos überlassen!«

»Glauben Sie mir …«, versuchte er es erneut, doch ihm wurde wieder das Wort mitten im Satz abgeschnitten.

»Niemals werde ich dazu meine Zustimmung geben! Niemals, niemals, niemals!«

Magnus konnte den Menschen keinen Vorwurf machen. Hatte er denn nicht genauso reagiert, als er heute Morgen davon gehört hatte? Aber inzwischen war ihm klar, dass seine Admiräle und Generäle mit ihrer Einschätzung richtig lagen. Sie konnten die Ruul nicht stoppen. Nicht im Moment. Sie mussten eine Situation schaffen, in der sie ihnen standhalten konnten, und die Fortress-Linie bot dafür die unter diesen Umständen bestmöglichen Voraussetzungen.

»Falls Sie denken, dass wir dazu unser Einverständnis erteilen, haben Sie tatsächlich vollkommen den Verstand verloren!«

»Seien Sie still!«, erhob sich plötzlich eine einzelne Stimme über das Gebrüll. Es war der Abgeordnete von Rainbow, der erneut aufstand. Die Menge war so perplex von diesem völlig unerwarteten Ausbruch, dass sie tatsächlich zur Ruhe kam.

»Haben Sie es denn immer noch nicht begriffen?«, sprach der alte Mann weiter. »Dort draußen sterben Tausende junger Männer und Frauen. Sie sterben, weil sie für uns kämpfen. Für uns alle. Und Sie zanken sich wie alte Waschweiber. Haben Sie denn noch nicht erkannt, dass die Ruul dabei sind, uns zu besiegen!? Wir verlieren diesen Krieg. Geht das nicht in Ihre Köpfe rein?«

»Sie haben gut reden«, stellte sich ihm ein anderer Abgeordneter entgegen. Magnus glaubte zu erkennen, dass der Mann von Neu Amsterdam kam. Einer der Kolonien, die evakuiert werden sollten. »Ihre Heimat liegt bereits hinter der Frontlinie. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Was ist mit unserer Welt? Mit unserer Bevölkerung?«

Der Abgeordnete von Rainbow warf seinem Kontrahenten einen vernichtenden Blick zu. »Was wollen Sie eigentlich? Sie haben noch Zeit, Ihre Familien von Neu Amsterdam wegzubringen. Und von den anderen Welten, die man räumen muss. Sie reden von Bevölkerung? Was ist mit der Bevölkerung der Systeme, die nun besetzt sind. Sie erwarten unsere Hilfe. Aber wir können ihnen nicht helfen, wenn wir weiterhin vor den Ruul flüchten. Wann soll diese Flucht denn enden? Wenn die Ruul die Erde erreichen? Sind Sie denn alle schon so sehr Politiker, dass Sie kein Auge mehr für das Wesentliche haben? Ja, wir müssen in die Offensive gehen, aber zunächst müssen wir retten, was zu retten ist. Das ist jetzt das Einzige, was zählt.«

Einige der Abgeordneten hatten so viel Anstand bei der Zurechtweisung des Rainbow-Abgeordneten rot zu werden. Der Mann hatte gerade erfahren, dass seine Heimat verloren war, und doch brachte er die Stärke und die Integrität auf, das Richtige zu tun. Wie könnten sie sich weigern, ihm nachzueifern.

Magnus schenkte dem Mann – er hieß Samuel Brockos, glaubte er sich zu erinnern – ein kurzes dankbares Nicken, das Brockos erwiderte.

»Ich denke, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Evakuierung folgender Welten: Neu Amsterdam, Sahara und Lassiter. Wenn ich jetzt um die Abgabe ihrer Stimmen bitten dürfte.«

»Ich gratuliere«, sagte Nogujama, als die Abgeordneten nach und nach den Plenarsaal verließen. »Sie haben es tatsächlich geschafft.«

Magnus stützte sich schwer auf sein Rednerpult. Ja, es war wirklich geschafft. Dem Plan war zugestimmt worden. Mit 301 Stimmen dafür und 108 dagegen, ohne Enthaltungen. Trotzdem fühlte er sich, als hätte er gerade die schlimmste politische Niederlage seiner Karriere erlitten.

»Das hätte ich Ihnen ehrlich gesagt gar nicht zugetraut«, gestand Nogujama ein wenig kleinlaut.

Magnus lachte kurz und humorlos auf. »Ich mir auch nicht. Und ohne Brockos hätte ich es vermutlich nicht geschafft.«

»Vermutlich«, stimmte der Admiral zu.

»Das war’s dann wohl mit meiner Laufbahn«, prophezeite Magnus düster.

»Herr Präsident?«

»Kein Staatsoberhaupt kann hoffen, noch einmal gewählt zu werden, wenn er das eigene Hoheitsgebiet dem Feind preisgibt. Ich denke nicht, dass ich bei der nächsten Wahl noch ernstzunehmende Chancen auf eine Wiederwahl habe. Vielleicht muss ich auch vorher schon mein Amt zur Verfügung stellen.«

Nogujama legte Magnus mitfühlend die Hand auf die Schulter und drückte sanft zu.

»Falls es Ihnen hilft, Sie haben das Richtige getan. Und auch, falls Sie das Ganze politisch nicht überleben sollten, sollte es Ihnen ein Trost sein, dass es noch eine Menschheit gibt, wenn Sie aus dem Amt scheiden.«

Magnus schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln. »Da muss ich Ihnen zustimmen.« Er streckte sich und drückte das verspannte Rückgrat durch. »Und bis ich abgesägt werde, gibt es noch viel zu tun. Wann brechen Sie auf?«

»Sofort. Jetzt, da der Plan genehmigt ist, kann ich endlich das Einsatzteam rekrutieren. Und das wird auch keine einfache Aufgabe.«

»Die Leute, die Sie im Sinn haben, sind nicht unbedingt sehr vertrauenswürdig. Hoffentlich haben Sie sich das wirklich gut überlegt, Admiral.«

»Das habe ich. Das können Sie mir glauben, Herr Präsident. Das habe ich in der Tat.«

Der Ruul-Konflikt 3: In dunkelster Stunde

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