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Kuschel

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Von Damaris McColgan

Es klingelt zweimal. Ich tippe meinen Satz kurz zu Ende, bevor ich zur Tür gehe. Merkwürdig, ich erwarte kein Paket.

„Hallo.“ Die Postbotin hält einen einzelnen Brief in der Hand. Über uns strahlt die Sonne mit dem Blau des Himmels um die Wette.

„Guten Tag.“ Ich strecke meine Hand aus, um den Brief entgegenzunehmen, aber sie macht keine Anstalten, ihn mir zu reichen. „Muss ich noch unterschreiben oder so?”

„Nein, nein, ich wollte nur mal sehen, wer hier eigentlich wohnt.“

Erstaunt blicke ich auf und sehe, wie sie mich unter getuschten Wimpern anlächelt. Was meint sie damit? Ich deute auf das Schild neben der Klingel. „Den Namen wissen Sie ja bereits.“

„Ja. Und ich bin Julia.“

„Freut mich.“

Einen kurzen Moment schweigen wir beide. Die Postbotin, Julia, schaut mich an, als wolle sie etwas von mir. Es ist absolut windstill hier draußen und der Straßenlärm erreicht uns ungebremst. Ohne viel Nachdenken verschränke ich die Arme und lehne mich gegen den Türrahmen.

„Es ist superheiß“, setzt Julia wieder an und beginnt sich mit meinem Brief Luft ins Gesicht zu fächeln. Dabei tänzeln einzelne Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben, um ihre geröteten Wangen. Ihre Uniformmütze sitzt etwas schräg.

„Nicht anders zu erwarten, mitten im Sommer“, sage ich, weil ich gerade nichts Besseres zu sagen weiß.

„Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben? Meine Lippen sind so trocken.“

Meine Augen wandern ohne mein Zutun zu ihren Lippen und mein eigener Mund wird plötzlich so trocken, dass ich denke, ich könnte wohl auch ein Glas mit kaltem Wasser gebrauchen.

„Sicher, kein Problem.“ Ich löse mich betont lässig vom Türrahmen und gehe in die Küche. Dass mir vorher die schmale Taille der Postbotin noch nie aufgefallen ist …

Als ich mit zwei Gläsern zurück in den Flur komme, sehe ich, dass sich meine neue Bekanntschaft bereits selbst hereingelassen hat. Mit einer fließenden Bewegung streift sie ihre Tasche von der Schulter. Ihre Finger gleiten zu den Knöpfen ihrer Uniformbluse und sie beginnt langsam, beinahe genüsslich, die Knöpfe zu öffnen.

„Ich glaube, ich nehme doch lieber ein kaltes Bad.“

Die Gläser rutschen mir fast aus den Händen. Nicht schon wieder!

„Halt! Stopp! Warte!“ Hastig stelle ich das Wasser auf der nächstbesten Oberfläche ab. „Ich helfe dir gleich!“

Mit drei großen Schritten bin ich bei ihr. Ich strecke meine Arme aus, als wolle ich sie bei den Schultern fassen, bewege sie dann blitzartig nach oben und reiße ihr die Mütze vom Kopf. Da ist er ja!

„Kuschel, du elendes Biest!“, rufe ich. Das Blut rauscht in meinen Ohren. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das nicht machen darfst!“

Kuschel sieht alles andere als kuschelig aus, sondern eher wie eine Qualle; wenn Quallen ein breites Maul und darüber ein einzelnes Auge hätten. Seine feinen Tentakel lösen sich vom Kopf der Postbotin und diese sackt augenblicklich zusammen. Zum Glück habe ich damit gerechnet und fange sie auf. Kuschel nutzt seine Chance und schwabbelt durch die offene Haustür hinaus. Für eine Kreatur, die aussieht, als sollte sie in den Untiefen des Meeres leben, kommt er schnell vorwärts. Ich trage die Postbotin nach draußen und setze sie an die Wand gelehnt ab, um auch ihre Tasche und die Mütze zu holen.

„Sie werden sich in wenigen Minuten wieder richtig fit fühlen“, verspreche ich ihr. „Es hat keine ernsthaften Folgen.“ Ihre Augen sind immer noch von Benommenheit überschattet.

„Dieser Mistkerl!“, schimpfe ich laut und schaue mich nach Kuschel um. Wo hat er sich nun versteckt? Ich schiele in den Briefkasten, schüttle den Busch im Vorgarten. „Wenn ich dich kriege!“ Da, ein blauer Faden hängt aus dem Abfluss der Regenrinne!

Ich stecke meine Hand das Rohr hinauf, im Versuch, ihn zu erwischen, aber komme nur bis zum Ellbogen. Mit der anderen Hand hämmere ich gegen das Blech. „Komm raus, du mieses Vieh!“

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Postbotin ihre Dinge zusammenklaubt und Hals über Kopf davon sprintet. Daraufhin schlage ich mit noch mehr Nachdruck gegen das Rohr. „KUSCHEL!!“ Doch er weiß, dass er in Schwierigkeiten steckt.

Ich verschnaufe einen Moment. Dann stampfe ich immer leiser werdend, drücke mich neben der Rinne an die Wand und verhalte mich so ruhig wie möglich. Es dauert nicht lange, dann lugen ein paar fädige Tentakel hervor und bald darauf Kuschels Glubschauge. Er löst sich und plumpst auf den Boden. Meine Hand packt zu, bevor er merkt, was passiert.

„Wie oft habe ich dir schon eingebläut, dass du mir keine Menschen mehr bringen sollst?“ Er windet sich und schwabbelt unter meinem Griff. „Und schon gar keine Kinder oder hübsche Frauen! Kapierst du das denn nicht? Irgendwann bekomme ich wegen dir echt Probleme. Was, wenn jemand zur Polizei geht? Was, wenn die denken, dass ich ein Kidnapper bin?“

Kuschels Auge schaut immer noch überall hin, nur nicht zu mir. Seine Fadententakel zucken und kringeln sich, aber er tut mir nichts. Manchmal frage ich mich, ob ich immun gegen seine elektrischen Impulse bin. Wahrscheinlicher ist, dass er auf seine eigene Weise loyal ist. Obwohl er keine Hemmungen hat, mit den Gehirnen anderer zu spielen, hat er mir nie auch nur den kleinsten Schock verpasst. Ich seufze. Wer weiß, ob ich je wieder Post bekomme.

„So kann das nicht weitergehen.“ Ich erhebe mich, Kuschel noch immer fest in der Hand. Im Haus suche ich meine Schlüssel, den Geldbeutel und einen Plastiksack, den ich über Kuschel in meiner Hand stülpe. Mit dem Bus kann ich in einer Viertelstunde im Stadtzentrum sein.

Ich ernte einige verstohlene Blicke mit meiner Hand im Plastiksack, aber das ist mir lieber als etwaige Schreie. In der Altstadt steige ich aus und mache mich auf die Suche nach dem Eingang. Die Erinnerung daran ist verschwommener, als sie sein sollte. Unter den Alkoven sind all die malerischen, kleinen Kellergeschäfte; es muss eins von denen gewesen sein. Ich gehe die Straße auf und ab, versuche es auch bei den Parallelstraßen und Quergässchen, aber der Laden bleibt unauffindbar. Kuschel in meiner verkrampften Hand ist inzwischen völlig schlapp und reglos. Vielleicht stellt er sich tot und hofft, dass ich ihn loslasse.

Mir graust es beim Gedanken, was er als Nächstes anstellen könnte. Letzte Woche habe ich plötzlich ein wildfremdes Kind in meiner Küche gefunden. Glücklicherweise hatte Kuschel es beim Park um die Ecke aufgelesen und als ich es zu den Eltern zurückführte, nahmen diese an, es habe versucht, Reißaus zu nehmen und allein nach Hause zu kommen. Andere Eltern hätten nicht so gelassen reagiert.

Und doch ist mir Kuschel ans Herz gewachsen. Wenn ich außer Haus gewesen bin, schlabbert er um mich herum, um mich zu begrüßen, und dabei wird sein Grinsen so breit, dass man meinen könnte, es trifft sich auf der Hinterseite wieder. Ich würde seine Neugierde vermissen und die Begeisterung, die er an kleinen Dingen findet. Eine leere Kartonkiste, ein Würstchen, ein farbiger Käfer – alles muss untersucht und mit seinen Tentakeln bespürt werden.

Da ist er plötzlich auf der anderen Straßenseite, der Eingang, nach dem ich gesucht habe: eine doppelseitige Kellertür mit schweren Goldringen. Mit meiner freien Hand hieve ich den rechten Türflügel auf. Der linke lässt sich mit allem Ziehen und Rütteln, das ich aufbringen kann, nicht öffnen. Ich muss mich also durch einen halben Eingang quetschen, als sei ich nur halb willkommen.

Die ersten Stufen sind noch im Halbfinstern, dann springt mich der Keller auf einmal mit seinem grellen Licht an. Während meine Erinnerung an den Eingang viel von ihrer Klarheit verloren hat, sind die Bilder der Tierhandlung selbst noch frisch und knackig. Dieser Keller hier hat nichts mit ihnen gemeinsam, bis auf das fantastische Assortiment an Tieren. Als ich Kuschel hier kaufte, war das Kellergemäuer mit Samtvorhängen in Bordeauxrot bekleidet. Kronleuchter mit echten Kerzen hingen von der Gewölbedecke und ein schmaler Teppich schluckte jeden Schritt wie auf dem Weg zu einer Filmpremiere. Gehege und kleinere Käfige waren auf eine Art im Raum verstreut, als seien sie bewusst zufällig platziert worden. Jetzt aber ist der Boden mit weißen Kacheln ausgelegt, die Wände sind ebenfalls weiß verputzt und das Licht kommt von nackten Neonröhren. Die Gehege sind alle auf der linken Seite, eins ans andere gereiht. Sogar die Tiere, welche in handlichen Käfigen hausten, sind in größere Gehege oder Terrarien gestellt worden. Ich kann von meinem Standpunkt aus das Ende nicht erkennen.

Ich lasse den Plastiksack beim Eingang, sodass Kuschel die anderen Tiere sehen kann. Er wirkt jetzt kein bisschen mehr müde. Wenn ich von Tieren spreche, ist das vielleicht irreführend, denn wie Kuschel sind sie nicht unbedingt das, was man üblicherweise als Haustiere bezeichnen würde. Jedes der Abteile hat eine digitale Anzeige, auf der die Temperatur sowie andere Zahlen und sonderbare Symbole angegeben sind. Manche sind mit Scheiben, andere nur durch Gitter getrennt. Der Lärm hält sich trotz der vielen Lebewesen in Grenzen, aber die Gerüche sind betäubend. Ich lasse Kuschel endlich los und schüttle meine Hand aus, während er auf meine Schulter kriecht und sich interessiert umschaut.

Als Erstes passieren wir zwei kleine Vögel, die auf einem Nadelboden beisammenstehen. Sie sehen aus wie langbeinige Truthühner, deren Farben gebleicht worden sind. Eines öffnet den Schnabel und stimmt eine Arie an. Dann sind da fliegende Fische, deren Flossen wie leichte Tücher im Wind wehen, ein Riesenfrosch mit gruselig menschlichen Gesichtszügen und ein abgedunkeltes Terrarium mit Glühwürmchen, die in allen möglichen Farben leuchten und sich immer wieder zu neuen Mustern anordnen, wie ein nie endendes Feuerwerk. Da ich bisher niemanden zu Gesicht bekommen habe, rufe ich: „Hallo? Hallo?“

Eine Stimme antwortet, erst unverständlich, dann langsam vernehmlicher. „… nicht bemerkt, dass wir geöffnet haben.“ Die Worte scheinen aus einem der Gehege zu kommen. Ich gehe mit Kuschel ein paar Meter weiter, aber finde nur raschelndes, hüfthohes Gras. Ich sage noch einmal „Hallo“ und warte geduldig, bis eine Gestalt auftaucht. Diese ist auf allen vieren, rappelt sich dann aber auf und betätigt einen versteckten Mechanismus an der Seitenwand, worauf das Gitter quietschend auf und wieder zu gleitet.

„Bitte? Was wollen Sie?“ Der Inhaber klopft sich Grashalme von den Knien. Es ist definitiv der Gleiche. Verwirrend ist nur, dass er in den wenigen Wochen seit meinem ersten Besuch jünger geworden ist: Alles Grau ist aus seinem Haar gewichen und viele Fältchen haben sich geglättet. Doch die abwesende Miene und die scharfen Gesichtszüge sind dieselben. Seinen Umhang hat er mit einem Laborkittel getauscht, seine Vorliebe für Gummistiefel behalten.

„Als Sie mir dieses Vieh hier angedreht haben, ist Ihnen bequemerweise entfallen, dass es sich nicht nur von Strom ernährt, sondern mit seinen feinen Tentakeln auch elektrische Impulse erzeugen und Gehirne so stimulieren kann, dass er Kontrolle über die betreffende Person übernimmt.“

„In einem unendlichen Universum von unendlichen Möglichkeiten ist alles möglich“, antwortet er vage und pickt einen letzten Grashalm von seinem Arm.

Der Wissenschaftler in mir widerspricht automatisch: „Das beobachtbare Universum ist endlich.“

„Das liegt daran, dass die menschliche Kapazität, zu beobachten, begrenzt ist.“

Ich schüttle den Kopf. Auf diese Tangente hätte ich mich nicht einlassen sollen. „Egal, also das Problem ist, dass er dauernd andere Menschen zu uns nach Hause bringt. Gegen ihren Willen!“

„Und das erstaunt Sie?“

„Es erstaunt mich nicht nur, es schockiert mich! Er soll damit aufhören, sonst müssen Sie ihn zurücknehmen. Diese Fähigkeit, dieses Verhalten, ist gemeingefährlich und amoralisch.“

„Schauen Sie, das ist, wie wenn Sie eine Katze haben. Die bringt Ihnen dann Mäuse nach Hause.“

„Menschen sind keine Mäuse!“

Der Inhaber zuckt mit den Schultern, als ließe sich darüber streiten. „Wenn Sie sie nicht wollen, lassen Sie sie halt wieder frei.“

„Diese Mäuse bringen mich noch in den Knast!“

„Haben Sie versucht, es ihm auszureden?“

„Tausendmal!“ Ich bin nahe daran, ihm in den gekittelten Hintern zu treten. „Sie müssen doch wissen, wie ich ihn davon abbringen kann. Das oder er bleibt hier!“

„Leben Sie allein?“

„Ja …“, beginne ich, werde aber von einem Knistern abgelenkt. Die Haare in meinem Nacken stellen sich auf, als sammle sich eine Statik in der Luft. „Was ist das?“

Der Inhaber setzt zur Antwort an, doch hinter ihm im Gehege formt sich ein Kugelblitz, der von der Größe eines Golfballs auf die eines Fußballs und schließlich eines Gymnastikballs anschwillt. Rasch ducke ich mich weg, doch die Energieexplosion wird vom Gitter aufgefangen. Zwei zuckende, gestreifte Ohren schauen aus dem Gras. Kuschel schwabbelt auf und ab; er findet das Spektakel sehr unterhaltsam.

„Ah, die Blitzzebras sind aufgewacht. Ihre Streifen lösen sich manchmal vom Fell und zucken durch die Gegend. Je nach Wetterlage bilden sie auch Knäuel. Wussten Sie, dass diese Zebras aus der gleichen Welt stammen wie Ihr Freund hier?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt er fort: „Warum sind Sie ursprünglich in meinen Laden gekommen?“

„Ich wollte ein Haustier, das mir ein treuer Freund ist.“

„Und genau das ist er. Weil er sieht, dass Sie einsam sind, bringt er Ihnen mehr Menschen. Der Kleine ist nicht nur treu, sondern auch clever.“

Ich spüre mein Gesicht wärmer werden, ebenso mein Herz.

„Wenn Sie wirklich wollen, dass er aufhört, Ihnen Menschen zu bringen, sollten Sie selbst welche suchen und in Ihr Leben einladen.“

Auf meine Schulter schielend seufze ich leise. Bist ja doch ein guter Kerl.

„Das wäre dann zwei Golddukaten.“

„Wie?“

„Meine Zeit ist Geld wert. Ich habe Ihr Problem gelöst. Sie schulden mir zwei Golddukaten.“

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Ich habe für Kuschel schon viel bezahlt.“

„Guter Rat kommt nicht gratis.“ Der Inhaber begegnet meinem entrüsteten Blick mit Gleichmut. „Und da Sie heute nichts anderes gekauft haben, schulden Sie mir zwei Golddukaten für meine Zeit.“

„Das hat Sie gerade mal fünf Minuten gekostet!“

Ich will noch etwas hinzufügen, doch Kuschel beginnt zu vibrieren. Ob der Inhaber überhaupt ein Mensch ist, kann ich nicht sagen, aber ich bin ziemlich sicher, dass auch in seinem Schädel ein organisches Gehirn steckt. Ich nicke Kuschel kaum merklich zu. Für diesen Fall kann ich eine Ausnahme machen.

Wenig später verlasse ich die Tierhandlung mit zwei schönen fliegenden Fischen in einem Käfig, einer Packung Fischfutter und einem dickeren Geldbeutel als zuvor. Die Sonne scheint munter und Kuschel wippt auf meiner Schulter triumphierend auf und ab. Vielleicht kann doch noch ein Team aus uns werden.

Wundersame Haustiere und wie man sie überlebt

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