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Kommunikationsdefizite in präsuizidalen Phasen

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Um etwas zu sagen, ist immer Zeit vorhanden,

aber nicht um zu schweigen.

Vilma Espin (1959 – 2007),

kubanische Revolutionärin

Wie oft haben Sie sich in Ihrer Tragödie schon gefragt, warum Sie nicht mehr über „alles“ gesprochen haben, warum Sie vielleicht nicht aufmerksam genug zugehört haben, warum Ihr geliebter Mensch so verschlossen und so still war. Sie haben doch sonst immer über alles miteinander sprechen können. Ihre Vertrauensbasis war doch intakt. Die Liebe war das Bindemittel. Geheimnisse gab es doch zwischen Ihnen nie wirklich.

Und hat sich bei Ihnen nicht auch der Gedanke nach und nach eingeschlichen, dass Sie wahrscheinlich nur zu ignorant, zu oberflächlich, zu sehr mit sich selbst beschäftig waren? Dass Sie – wenn Sie denn nur ein wenig aufmerksamer und einfühlsamer gewesen wären – es natürlich gemerkt hätten, was in Ihrem geliebten Menschen innerlich vorging? Und in dem furchtbaren Wissen um dessen Suizid mischt sich nun die Tragik in Ihren Schmerz, dass Sie es doch hätten verhindern können, sofern Sie nicht so egoistisch, Sie nur ein wenig mehr fürsorglicher, kommunikativer gewesen wären.

Ob dieses nun ein Reflex ist, oder tatsächlich in einzelnen Situationen sogar zutreffend war, es ist ein innerlicher Ablauf bei Ihnen, der damit zu vergleichen ist, was ein Vater oder eine Mutter fühlen, die einen kurzen Moment weggeschaut haben, und in dieser Sekunde ist der Vierjährige gegen die offene Türe gerannt und hat sich eine Platzwunde zugezogen, die zeitlebens eine deutliche Narbe hinterlassen wird.

 Wie konnte ich nur wegsehen?

 Ich hatte doch die Verantwortung!

 Warum habe ich die Türe auch offen gelassen?

 Wie konnte ich so leichtfertig sein?

 Nur weil das Handy klingelte!

 Weil ich in diesem Moment so egoistisch war!

 Es war doch nur ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit!

Das ist ein Beispiel, na klar. Doch ähnelt es nicht in seinem Charakter Ihrer heutigen Situation? Das tragische Unglück ist geschehen, Sie wissen nun (plötzlich), was in Ihrem geliebten Menschen vor sich ging. Und Sie haben – so ist Ihre Empfindung – nicht ausreichend hingeschaut! Nicht genug gefragt! Signale übersehen! Nicht aufmerksam hingehört! Waren vielleicht gerade zu sehr mit sich selbst beschäftigt! Und so weiter, und so weiter …

Falls Sie es vorhaben, diese Selbstmarterung fortzusetzen, dann werden Sie sich einen massiven Schuldkomplex einhandeln – und das ganz sicher zu Unrecht (siehe hierzu „Schuld“). Das wäre noch nicht einmal berechtigt, wenn Sie vorsätzlich gehandelt haben würden, oder zumindest grob fahrlässig. Denn für den Suizid ist nur Ihr geliebter Mensch selbst verantwortlich. Doch weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit werden bei Ihnen in Ansatz zu bringen sein. Auch da bin ich mir sicher. Wie „schlecht“ Sie auch immer gegenwärtig über sich denken und urteilen möchten, Sie werden wohl kaum beabsichtigt oder bewusst in Kauf genommen haben, dass Ihrem geliebten Menschen etwas Derartiges passiert.

Sie gleichen derzeit aber die Erkenntnis um das tragische Ende mit den (theoretischen) Möglichkeiten ab, die (allein) Sie sich nun im Nachgang als rettende Maßnahme vorstellen. Wie in so vielen harmlosen Beispielen gesagt wird: Hätte, hätte, Fahrradkette. Denn Fakt wird es sein, dass in Ihnen kein (ausreichender) Verdacht aufkam, Ihnen nichts (oder zu wenig) merkwürdig oder gefährlich erschien, Sie keine (oder zu wenige) Anlasspunkte besaßen, eine solche Tragödie anzunehmen, vorherzusehen und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Die Lage war aus Ihrer subjektiven Wahrnehmung höchstwahrscheinlich einfach eine völlig andere!

Im Nachgang sind wir immer schlauer. Das ist nicht schwer, das müssen auch Sie zugeben, und das sollten sich auch alle Menschen in Ihrem Umfeld immer wieder selbst vorsprechen. Und selbst wenn wir an der einen oder anderen Stelle, in einer vielleicht problematischen Situation, etwas verspürt, geahnt oder einfach nur anders reagiert hätten, wäre es dann garantiert gewesen, dass der Suizid unseres geliebten Menschen damit ein für alle Mal vom Tisch gewesen wäre? Das ist nicht nur höchst unwahrscheinlich, zudem auch eine rein theoretische Annahme, die sich in keiner Weise belegen lässt.

Wir leben nun einmal in Momenten, in Zeitfenstern und Fügungen. Sich im Nachhinein vorzuwerfen, es hätte von Ihnen mit mehr Vernunft oder Fürsorge verhindert werden können, träfen allenfalls zu, wenn Sie einen Unfall mit 2,5 Promille Alkohol im Blut verursacht hätten. Dann dürften Sie sich Schuld zuweisen und den Rest mit Ihrem Gewissen ausmachen.

Verzeihen Sie mir bitte diese profane Metapher. Aber sie dient der Objektivierung. Sie haben gehandelt – ob im Detail (objektiv/subjektiv) fehlerhaft ist nur eine Nuance. Welche Chancen waren Ihnen denn gegeben? Ihr Handeln fand auf einem längst bestellten Acker statt, denn das Unglück hängt meist in seiner kausalen Kette von vielen Faktoren ab, die Sie persönlich gar nicht komplett verantworten und nur zu einem geringen Teil selbst beeinflussen können.

Im Fokus dieser Betrachtungen steht die Kommunikation. Und mit dieser die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der Gespräche zwischen Ihnen (und Ihrem Umfeld) und dem nun verlorenen geliebten Menschen. War es so, dass Sie etwas von dem gesagt (oder gemeint) haben, was ich jetzt exemplarisch aufführe?

 Mich interessieren Deine Probleme nicht!

 Lass mich in Ruhe mit Deinen Sorgen!

 Ich habe kein Interesse Dir zuzuhören!

 Ich will von alledem nichts wissen!

 Es ist mir egal wie Du Dich fühlst!

 Es ist mir Wurst ob Du an Suizid denkst!

Oder ist es nicht vielmehr so gewesen, dass der geliebte Mensch Ihnen gegenüber seine Probleme, Ängste, Sorgen, Depressionen, innersten Gedanken verborgen hat? Hat er Sie vielleicht sogar belogen, getäuscht, in die Irre geführt? Erkennen Sie nicht heute ein Schauspiel, geschickte Tarnung, gezielte Ablenkung von Plänen und Vorbereitungen?

Und haben Sie nicht doch verschiedentlich hier oder dort sogar kritische, besorgte Fragen gestellt? Was ist in letzter Zeit los mit Dir? Wieso bist Du so still? Hast Du Sorgen? Hast Du Schmerzen? Warum schläfst Du so schlecht? Kann ich Dir irgendwie helfen? Soll ich Dir etwas abnehmen? Haben Sie vielleicht sogar Problemzonen erkannt, Empfehlungen und Ratschläge gegeben, gemahnt, zur Vorsicht aufgerufen, zur Besinnung oder zur „Entschleunigung“ aufgefordert?

Und welche Antworten haben Sie darauf bekommen? Hat Ihnen der geliebte Mensch gesagt: „Ich habe Depressionen!“ – „Ich kann es nicht mehr ertragen!“ – „Ich habe sehr schlechte Gedanken!“ - „Ich denke an Suizid!“ Ja, gereicht hätte mit Sicherheit ein einfaches Sätzchen: „Hilf mir!“

Kommunikation ist weder eine Bring- noch eine Holschuld. Kommunikation ist ein interaktiver Prozess der darauf beruht, dass jeder Teilnehmer seinen Teil dazu beiträgt, dass der notwendige Informationsaustausch in Gang kommt, aufrechterhalten bleibt und die jeweiligen Ziele erreicht werden. Das ist innerhalb von Geschäftsprozessen in keiner Weise anders als im privaten Zwischenmenschlichen, einschließlich des Zusammenlebens mit einem geliebten Menschen.

Blicken Sie nun zurück, so wird es Ihnen ganz sicher wie Schuppen von den Augen fallen, dass es mit der aller größten Wahrscheinlichkeit für Sie möglich gewesen wäre, eine Rettung (u.a. mit externer, professioneller Unterstützung) herbeizuführen. Doch dazu bedarf es der sinnstiftenden und auslösenden Signalgebung. Und selbst wenn es auch heutiger Sicht heraus derlei Signale gab, so bedürfen auch diese eines Kontextes, der sich aus Sensibilisierung, Kommunikation und Interpretation nährt. Was Ihnen heute so klar erscheint, war Ihnen damals höchstwahrscheinlich völlig im Verborgenen.

Wie also war das Kommunikationsverhalten Ihres geliebten Menschen, sehr verehrte/r Leser/in? Insbesondere in der letzten Zeit vor dem Suizid? Welche Verhaltensstörungen konnten Sie identifizieren, die Ihnen (oder anderen) einen Hinweis auf eine bevorstehende Katastrophe oder eine psychische Störung gaben? Und wie war dieser Mensch überhaupt ausgerichtet? War dieser ein ansonsten offener Typ – oder neigte sie/er eher zur Verschlossenheit? Gab es vielleicht gerade vordringliche andere Probleme in Ihrem (gemeinsamen) Leben zu meistern, die Ihnen Sorge bereiteten, Ihre Konzentration abforderten, die existenziell oder zumindest bedeutend waren? Haben Sie vielleicht in der letzten Zeit selbst Lebenssituationen durchlaufen müssen, die ihre massive Zuwendung erforderten? War Ihr geliebter Mensch vielleicht so besorgt um Sie, dass sie/er Ihnen die eigenen Probleme nicht auch noch aufbürden wollte, sich (wie gewohnt) eher zurücknahm und sich selbst nicht so wichtigmachen wollte?

Wir fragen so oft andere Menschen: „Wie geht´s Dir?“ Fast schon ein Automatismus, wenn wir anderen begegnen. Eine Standardfrage, die meist gar keine Antwort erwartet, außer das stereotype „Danke! Gut!“. Probieren Sie es einmal aus, auf diese Frage ehrlich zu antworten und zu sagen: „Mir geht es schlecht!“ Sie werden entweder in ein recht irritiertes Gesicht blicken, oder vielleicht sogar die Antwort erhalten: „Ach Gott, das tut mir leid. Aber wir haben ja alle unsere Sorgen.“

Was ich damit sagen will ist folgendes: Wir haben es uns „kulturell“ angewöhnt, dass es uns immer „gut“ geht. Und wenn nicht, dann behaupten wir es dennoch – das jedenfalls gegenüber allen Menschen, die nicht zu unserem intimsten Kreis gehören. Sich aber zu öffnen und zu sagen, dass es einem schlecht geht, man Sorgen, Ängste hat, vielleicht sogar verzweifelt ist, ist nur dann angemessen, wenn wir uns nicht nur absoluter Vertrautheit gewiss sind, sondern zudem auch Hilfe oder zumindest Zuspruch erhoffen. Dieser „Hilferuf“ basiert aber auf gesunder Emotionalität im Einklang mit gesundem Realismus. Ist einer dieser beiden Pfeiler marode, so wird auch der „Hilferuf“ – wenn dieser dann überhaupt vernehmbar abgesetzt wird – ein anderer sein. Vielleicht subtiler, vorsichtiger, verschlüsselter, leiser. Oder er bleibt eben völlig aus. Aus Scham, aus Fürsorge, aus falscher Zurücknahme. Vielleicht auch aus der Komplexität und Verworrenheit der verspürten Probleme, die einfach nicht mehr erklärbar erscheinen. Vielleicht auch aus der Tatsache, dass die Lösung längst bekannt ist und mannigfaltig kommuniziert wurde, im Auge des Präsuizidenten aber keine akzeptable Lösung darstellt, seine Prinzipien verletzt oder sich mit seiner (labilen) Psyche einfach nicht verträgt.

Meine geliebte Frau war per se eher eine verschlossene Person. Sie neigte gewiss stark dazu, ihr „Herz zu einer Mördergrube“ zu machen. Das betraf nicht alle Problemarten gleichermaßen. In Bezug auf berufliche Themen war sie offen und suchte bis (fast) zuletzt meinen Rat und meine Erfahrung. Hinsichtlich ihres langen und schweren Rückenleidens, den damit einhergehenden vielen Schmerzen und Einschränkungen, war sie nicht nur zurückhaltend, meist sogar verschwiegen oder im besten Falle verniedlichend. In nur sehr seltenen Situationen öffnete sie sich vollends, das aber nur, wenn es nicht mehr anders ging. Ich selbst war in den langen Jahren mit ihr stark sensibilisiert, ihre ganz eignen „Zeichen“ zu erkennen, die sie zum Beispiel aussendete, wenn sie starke Schmerzen hatte. Und wenn ich dann fragte (wissend, dass es so ist) „Hast Du wieder Schmerzen?“, dann war ihre Antwort nahezu immer: „Alles gut!“ Ich hatte gelernt, dass sie auf ihre Weise damit umgehen konnte. Sie war äußerst verantwortungsvoll im Umgang mit ihren starken Schmerzmedikamenten, steuerte die Dosen stets allein, setzte die Mittel immer wieder ganz ab, und sie beteuerte stets, dass Sie nach all den Jahren gelernt hätte, mit einem gewissen Maß an Schmerzen (die normal jeden anderen schwer belastet haben würden) durchaus leben zu können.

Alles gut! Das war das Credo ihrer Problemkommunikation. Und auch wenn ich – was ich nie aufgab – tiefer nachfragte, sie zur Öffnung ihrer „Mördergrube“ drängte, blieb sie fast immer dabei, lenkte ab, wechselte das Thema oder fauchte mich irgendwann an: „Hör auf mich zu fragen. Ich melde mich schon, wenn es schlimmer wird.“ Sie war seit vielen Jahren, mehr als ihr halbes Leben, daran gewöhnt, ihre Probleme nicht zu diskutieren. Ihr Ehrgeiz, ihr Perfektionismus, aber auch ihre Fürsorge für ihr intimstes Umfeld sorgten dafür, dass ihre Lasten nicht die der anderen zu sein hätten. Sie würde mit alledem ganz allein zurechtkommen.

Wenn man daran gewöhnt ist, dass jemand wegen seiner vielen Rückenschmerzen so manche Nacht nicht ruhig (oder gar nicht) schläft, dann ist die Signalgebung einer depressiv bedingten Schlafstörung weder auffällig, noch ist diese von dem bisher Gewohnten zu unterscheiden. Ich erwähne das als Beispiel, denn dieses soll dazu dienen, das Kommunikations- und Sendungsverhalten Ihres geliebten und nun verlorenen Menschen im Nachgang zu betrachten, mit dem Ziel, sich die folgende Frage zu beantworten: War es Ihnen objektiv (!) möglich, die Katastrophe zu erkennen? Und wenn ja, dann schließen sich die Betrachtungen über das „Wann?“ sowie die „Signalstärken“ an.

Niemand in der Welt läuft herum und stellt Menschen, denen es gerade nicht besonders gut zu gehen scheint, die Frage: „Denkst Du gerade an Suizid?“ Dazu bedarf es eindeutiger, zumindest aber klarerer Hinweise und Alarmmomente. Wenn hingegen ein Präsuizident sich auch noch tarnt, sein Innerstes eben nicht preisgeben will (aus welchen Gründen auch immer), dann haben es selbst versierte Therapeuten äußerst schwer, dem drohenden Drama auf die Spur zu kommen.

Andrew Solomon schreibt in seinem Buch „Saturns Schatten“ auch über seine eigenen schweren Depressionen sowie über seine häufigen Suizidgedanken. Selbst erfahrener Therapeut und Psychoanalytiker, bestätigt er dabei sehr eindrücklich, dass es Experten so gut wie unmöglich ist, eine Suizidgefahr zu diagnostizieren, wenn der Patient sich verschließt und tarnt. Dem laienhaften Umfeld ist das somit noch weniger möglich. Das bestätigt nahezu die gesamte Fachwelt. Und das sollten wir uns in unseren Überlegungen stets vor Augen führen.

Wie also war die Kommunikation des geliebten Menschen, als er noch unentschlossen, ambivalent oder gar schon entschieden war? Vor Ihrer Antwort, sehr geehrte/r Leser/in, versuchen Sie bitte alle Erkenntnisse auszublenden, die Ihnen nun – nach Kenntnis um die Tragödie – im Kopf herumsausen. Damit meine ich die Denkansätze: Man hätte …! Versuchen Sie so objektiv wie möglich zu bewerten. Und kommen Sie zu einer Antwort, die im Kerne aussagt, dass Sie in bestimmten Gesprächen oder Situationen etwas hätten merken, in Alarmbereitschaft geraten müssen, dann wäre es ratsam diesem Aspekt ihre Erklärung gegenüber zu stellen, die Sie sich aufgrund der Lebensgewohnheiten und der damaligen Lebensumstände selbst (ganz logisch) erklärend (und beruhigend) gegeben haben.

Meine geliebte Frau hatte in den letzten neun Monaten ihres Lebens eine zunehmend reduzierte Libido. Ein drei Viertel Jahr ist schon ein langer Zeitraum, der den anderen Partner zum Nachdenken (und vielleicht sogar Nachfragen) kommen lässt. Doch wenn in dieser Zeit bestimmte Lebensereignisse und –umstände vorherrschen, die den Spaß an einem lebendigen Sexualleben ganz nachvollziehbar trüben können, dann ist es eher die Sorge um die Ereignisse und Umstände, als um den (temporär) sexualgehemmten Partner. In meinem Fall waren es drei Ereignisse, die signifikant waren: die Weiterbildung (mit Examen) meiner Frau, die Krebsdiagnose ihres Vaters (mit allen nachfolgenden Unannehmlichkeiten) und ihr Start in einer neuen Firma mit der jüngst erworbenen Qualifikation (einschließlich Probezeit). In dieser Zeit war es für alle schwer genug, die Ereignisse und Verantwortung so unter einen Hut zu bekommen, dass alles irgendwie noch bewältigt werden konnte. Dass in einer solchen Zeit das eheliche Sexleben hinten herunter fällt, ist weder verwunderlich noch ungewöhnlich. Und ein sorgenvolles, betrübtes Verhalten, deutlich weniger Fröhlichkeit und durchblitzender Pessimismus stellt niemand in einer solchen Situation mit Depressionen und Selbsttötungsüberlegungen in den Zusammenhang.

Wie oft habe ich mir im Nachgang die Fragen gestellt: Warum hat sie mir nur nie etwas gesagt? Wieso hat sie kein Vertrauen mehr gehabt, mir von ihren selbstzerstörerischen Gedanken zu erzählen? Und es gehört zu den schlimmsten Momenten in der eigenen Tragödie, wenn man zu dem Schluss gelangt, dass es nur eines einzigen Hinweises bedurft hätte, und die Rettung wäre geglückt. Ein Satz mit zwei Worten: „Rette mich!“. Im Anhang (Suizid-Report) habe ich detaillierter über das Verhalten meiner geliebten Frau in den letzten wenigen Monaten vor ihrem Tod berichtet. Dort habe ich beschrieben, wie sehr sie bemüht war, sich zu vernebeln und zu tarnen. Die Kommunikation – als der Schlüssel allen Austausches – muss zumindest Ansätze liefern, die es dem Sendungsempfänger ermöglichen, richtig zu interpretieren und zu reagieren.

Zuhören allein nutzt (dem Laien) so gut wie gar nichts, wenn es an den wahrhaftigen Inhalten mangelt.

Und schlussendlich müssen wir uns bei all diesen Fragen in Bezug auf „Sendungen“ und „Empfang“ stets mit dem Wissen arbeiten, dass der Wille zu sterben ein enorm großer gewesen ist. Und mit diesem Willen wird – ganz gewiss innerhalb der Entschlussphase (siehe Suizid-Phasen) – ein starker Reflex einhergegangen sein, alles daran zu setzen, dass das Vorhaben vom direkten Umfeld nicht vorzeitig erkannt und damit verhindert werden konnte.

Meine geliebte Frau empfand es in ihrer gestörten Psyche noch wenige Stunden vor ihrem Suizid für wichtiger, ihr berufliches E-Mail-Postfach zu bearbeiten und offene Aufgaben zu erledigen. Parallel dazu täuschte Sie noch „geschickt“ und äußerst glaubwürdig Zuversicht und Normalität vor – dieses, obwohl sie davon ausging, nur drei bis vier Stunden hiernach bereits tot zu sein. Sie spielte mir ein letztes Mal ihr Schauspiel vor, erklärte mir mit sensibler Vorausschau auf meine möglicherweise entstehende Skepsis ihr Verhalten und tat alles, um mich nicht zu beunruhigen oder gar „wachzurütteln“. Sie wollte mit großer Kraft ihren Tod herbeiführen – und dafür tat sie alles, was diesen Plan ohne Störung oder gar Entdeckung umsetzen lassen sollte.

Nicht zuletzt auch aus diesen Gründen bezeichne ich uns Hinterbliebene als „Opfer“. Dieses im doppelten Sinne: Wir sind Opfer der Tat, weil wir mit dieser in so fürchterlicher Weise belastet worden sind, und wir sind Opfer, weil wir auf vielfältige Weise „hintergangen“ und „betrogen“ wurden. Auch wenn diese Aspekte nicht mehr auf gesunder Psyche beruhten, somit in deutlich anderer Weise zu bewerten sind, so bleibt es im Kerne aber ein Faktum, dass unserer Erkenntnismöglichkeit bewusst entgegengewirkt wurde. Und die Frage nach einer rettenden Kommunikation (Warum hat sie/er mir denn nichts gesagt?) ist damit nahezu obsolet. Das „Schweigen“ ist ein Teil des suizidären Prozesses gewesen, alles andere hätte diesem verhindernd entgegengewirkt.

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung

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