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Der Wille zu sterben

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Im Ganzen wird man finden, dass,

sobald die Schrecknisse des Lebens

die Schrecknisse des Todes überwiegen,

der Mensch seinem Leben ein Ende macht.

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)

Deutscher Philosoph

Der Mensch ist das einzige Wesen, das einen Todeswunsch entwickeln kann. Kein Tier ist dazu in der Lage, auch kein Schimpanse oder Gorilla, deren Evolutionsstufe der unseren am nächsten kommt. Tiere können fühlen, lieben, Mitleid entwickeln und nachdenken. Gewiss nicht in einer unmittelbaren Vergleichbarkeit zu uns Menschen, doch aber in einer, die es vermuten lassen könnte, sich auch das Leben nehmen zu wollen. Dennoch ist es ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, dieses zu können.

Nun ist es bekannt, dass es viele Suizidenten gibt, deren tatsächlicher Wunsch gar nicht das Sterben, sondern durchaus das (Weiter)Leben ist, der Suizid(versuch) nur Mittel zu einem anderen Zweck ist und das Überleben erhofft, vielleicht auch einkalkuliert, zumindest dann doch aber als eine Art „Gottesurteil“ in die Hände des Schicksals gelegt wird. Doch bei allen anderen Suizidenten muss davon ausgegangen werden, dass der eigene Tod so oder so tatsächlich einem echten und unermesslich großen Wunsch entspricht, woher dieser auch immer herrühren mag.

Instinktiv und kognitiv ist uns der Tod kein anzustrebendes Szenario. Freiwillig aus dem Leben zu treten kommt daher einem weitgehend abnormalen Gedanken gleich, denn jeder will doch im Grunde (und instinktiv) das Gegenteil: leben! Der unter den Experten so umstrittene „Bilanz-Suizid“ (klassisches Beispiel: der unheilbare Krebspatient, der durch die schnelle Selbsttötung einem grausamen Siechtum entgehen will) mag vom Motiv her eine Ausnahme mit größerer Nachvollziehbarkeit darstellen. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Tiefe gehen, warum sich die Fachwelt darüber streitet, ob es diesen „Bilanz-Suizid“ wirklich gibt, die Motivlage aber ist in besonderer Weise auch für gesunde Menschen „akzeptabel“: in einer bilanzähnlichen Kontierung wird das Für und Wider gegenübergestellt und das kleinere Übel gewählt. In Ermangelung eines qualvollen und dazu vielleicht noch langen Todes erscheint uns die Selbsttötung als gangbarer Ausweg, der sogar eine „Logik“ aufweist. Der Überlebensinstinkt ist mit einer solchen ausschaltbar.

Aber Suizid, weil man das Leben nicht mehr erträgt?

Gilbert Keith Chesterton - englischer Schriftsteller (1874-1936) – schrieb das Folgende:

Der Mensch, der einen anderen tötet, tötet nur einen;

aber der Mensch, der sich selber tötet, tötet alle Menschen;

was ihn betrifft, so löscht er das ganze Weltall aus."

Das, was Chesterton damit ausdrücken wollte, hat eine große Bedeutung. Natürlich tötet der Suizident keine anderen Menschen (abgesehen von den Fällen, in denen der Suizident andere mit in den Tod reißt). Suizid ist aber etwas Allumfassendes. Denn die Auslöschung der gesamten Menschheit betrifft allein ihn selbst. Mit seinem Tod ist für ihn alles – auch die Menschheit – vernichtet. Dazu das ganze Weltall – demnach eine Totalvernichtung.

Damit geht einher, dass die Vernichtung alles betrifft, was ihn als Individuum ausmacht, einschließlich seiner Schmerzen, Sorgen, Leiden, Ängste, Verzweiflung, Hass oder Rache. Der Wille zu sterben ist nicht etwa die Hoffnung auf eine bessere Welt nach dem Tode, auch wenn es sicher Suizidenten gibt, die dieses anstreben. Der weit überwiegende Teil der Menschen, der sich für die Selbsttötung entscheiden, will, dass „es“ aufhört. Diese haben sich in eine Ausweglosigkeit hineingedacht, die sie nur noch durch die eigene Auslöschung beheben können, die so unerträglich für sie scheint, dass nur der Tod Erlösung verspricht. Das Licht ausmachen, für immer ruhen, keine Gedanken mehr haben, keine Leiden und Schmerzen ertragen, keine Zwiespälte mehr erdulden, Konflikte nicht mehr austragen, keine Angst mehr haben zu müssen.

Als Hinterbliebene eines Suizidenten haben wir ständig das Argument parat, dass der Tod unseres geliebten Menschen „unnötig“, „unsinnig“ war. Nach unserem Dafürhalten kann es nur sehr wenige Probleme geben, die so groß sind, dass diese unseren Tod rechtfertigen können. Ein langjähriger Freund von mir litt über zehn Jahre an Lungenkrebs. Der Tod war nur eine Frage der Zeit für ihn, und er kämpfte dennoch kraftvoll und schaffte es einige Jahre sich gegen das Unvermeidliche zu stemmen. Zuletzt lag er seit Wochen nur noch in seinem Krankenbett und wurde durch einen Schlauch mit Sauerstoff versorgt. Spät nachts entschied er sich seinem Leiden ein Ende zu setzen. Das Einzige, wozu er noch fähig war, tat er dann auch: er drückte sich mit der Hand selbst die Zufuhr des lebensnotwenigen Sauerstoffs ab. Sein Todeswille war so stark, dass seine Hand den Schlauch noch zupresste, als er schon längt tot war.

Ich denke, Sie werden nun zu sich selbst so etwas wie „verständlich“, „nachvollziehbar“ gesagt haben. Vielleicht auch: „Hätte ich ebenso gemacht!“ So wird die Mehrheit aller Menschen reagieren, zudem ganz gewiss auch den Mut und die Kraft bewundern, die für eine solche Tat aufgebracht werden muss. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und spreche von „Disziplin“, denn alles, was für eine solche von Nöten ist, steckt in der Tat meines Freundes. Tugenden, für die wir Menschen bewundern, ehren und sie wertschätzen. So gerät mit einem Mal der Suizid zu einem Akt der Größe, wird nahezu heroisch.

Wir senken den Blick, verneigen uns vor einer Leistung, zu der man sich selbst nicht fähig sieht. Unser Schutzmechanismus, unser Instinkt, funktioniert automatisch. Auch entwickeln wir in den meisten Gesellschaften auf unserem Planeten ein bedingtes Verständnis für den Suizid in besonders „einleuchtenden“ Lebenslagen. Der bettlägerige Greis, der seinen ihn pflegenden Kindern nicht mehr zur Last fallen will. Vielleicht auch der Suizid eines Menschen, der schwere Sünde, eine furchtbare Untat, auf sich geladen hat und nun „sich selbst gerichtet hat“, oder aus Verzweiflung über das Unglück, dass er über andere gebracht hat, sein eigenes (Weiter)Leben nicht mehr für gerechtfertigt ansah. Und in bestimmten Kulturkreisen ist es die Scham um eine verlorene Ehre, die in der relevanten Gesellschaft sogar als „richtig“ (und anständig) verstanden, und von vielen mit einer Art Verpflichtungsempfinden respektiert wird.

Wir werden aber in eine Fassungslosigkeit gestürzt, wenn es dem Motiv für den Suizid an Heldenhaftem oder unserem „Einverständnis“ mangelt, wir eben nicht mehr nachvollziehen können, warum für eine (aus unserer Sicht) „lösbare Problematik“ aus dem Leben getreten werden wollte. Wir raufen uns viel mehr die Haare, weil doch „alles“ regelbar, geraderückbar gewesen ist.

Wie konnte sie/er nur so blind sein …?

Die heutige Wissenschaft hat innerhalb der Suizidforschung feststellen können, dass es nicht „den einen“ Grund, auch nicht „die eine“ psychische Störung (inkl. Ursache) gibt, die den Suizid ausmachen. Es kommt eine Reihe von ungünstigen Gründen, Zusammenhängen und psychischen Einflüssen korrelierend zusammen, so wie ein Taifun von verschiedensten meteorologischen Zusammenhängen abhängt, um seine verheerenden Eigenschaften entwickeln zu können.

Häufig begegnen wir einem für uns völlig unverständlichen Suizidfall mit einer Logik, die es uns erklärlicher machen soll: eine Kurzschlussreaktion. Das erklärt zwar nicht das Unerklärliche, ist aber wenigstens entlastend zu verstehen: bei einem Kurzschluss sind wir nämlich alle machtlos. Spontaner Suizid aus einer plötzlich erkannten Ausweglosigkeit oder Verzweiflung, Angst oder traumatischen Erinnerung? Ja, es gibt sie, diese „Kurzschlüsse“, wenngleich sie bei Weitem seltener vorkommen sollen, als es im Allgemeinen angenommen wird. Die Fachwelt hat hierbei die Grenzen äußerst eng gefasst, und es werden nur die Fälle gewertet, die dem Charakter eines tatsächlichen „Kurzschlusses“ entsprechen. So zum Beispiel der Gast in einem Restaurant, der ohne Vorwarnung oder vorausgegangene Signale weiß wie Kreide wird, aufspringt und sich aus dem Fenster in den Tod stürzt, weil ein neuer Gast das Lokal betreten hat, dessen Antlitz den Suizidenten an ein grausames, traumatisches Kindheitserlebnis erinnerte (von diesem Fall habe ich tatsächlich gelesen). Hierbei soll nun nicht das Motiv hinterfragt werden – es sind allein die Spontanität und der „Kurzschluss“, welche diese Suizidform beschreiben.

Suizid ist die schärfste Form der Aggressivität. Und diese richtet sich gegen sich selbst. Empfunden wird vielleicht völlige Wertlosigkeit, große Fehlerhaftigkeit, Belastung für andere, etwas nicht mehr verdient zu haben, Unzufriedenheit mit sich selbst (Leistungsanspruch, Perfektionismus, Karrierestreben, sich zurückgesetzt oder abgelehnt fühlen). Jemand, der aggressiv geworden ist, hat alle Ehrerbietung verloren. Die Aggression gerät vielleicht sogar zu einer Form der Selbstbestrafung, zumindest doch aber zu einer „gerechten“ Maßnahme, da es anderen besser ergehen wird, wenn man selbst nicht mehr existiert. Zweifellos verfolgen Menschen mit ihrem Suizid vereinzelt auch das Ziel einen anderen Menschen (oder eine Gruppe) zu bestrafen, zu belehren, sich zu rächen. In diesen Fällen richtet sich die hohe Aggressivität zwar nach Außen, das eigene Leben wird aber als Mittel zum Zweck eingesetzt – die Aggression ist gleichermaßen auch auf sich selbst ausgerichtet.

Ich habe vor kurzem von einem Sportler lesen können, der einst mit verkrüppelten Beinen zur Welt kam und sich mit Eintritt seiner Volljährigkeit für die Amputation entschied. Er empfand die Zukunft mit Prothesen erstrebenswerter als weiterhin mit seiner Verkrüppelung zu leben. Heute ist er einer der weltweit führenden Sportler in der Leichtathletik. Das hat nichts mit Aggressivität zu tun – vielmehr mit einer Abwägung von Wohl und Wehe in Aussicht auf eine bessere Zukunft. Vor allem aber kostet diese Entscheidung nicht das Leben – ist dennoch mit dem Suizid an einem Punkt vergleichbar: dem eigenen Willen etwas Drastisches zu tun, was Erlösung bringen soll.

Ein gesunder Mensch wird es sich nur schwer vorstellen können, sich freiwillig die Beine amputieren zu lassen. Nur aus einer Logik (Bilanz) heraus, kämen wir zu dem Schluss (und der Nachvollziehbarkeit), einen solchen Schritt zu befürworten, wenn wir die Verbesserung der Lebensqualität gegenüberstellen. Streichen wir den Wortteil „Lebens“, dann bleibt nur noch „Qualität“ übrig. Der Wille zu sterben zielt auf eine „Qualitätsverbesserung“ ab, denn das „Leben“ ist für den Menschen höchstwahrscheinlich bereits schon seit längerer Zeit nicht mehr erträglich, und der Wille zu sterben wird damit das bestimmende Moment – der eigene Tod ist qualitativ das Beste.

Es gelingt uns Hinterbliebenen nur sehr, sehr schwer diesen Willen unseres geliebten Menschen zu verstehen – und noch viel schwerer diesen zu akzeptieren. Täten wir das vielleicht zu voreilig und oberflächlich, erklärten wir uns mit seinem Vorgehen und seinem (Frei)Tod sogleich einverstanden. Und das wollen wir gewiss nicht ausstrahlen. Ich verfolge an diese Stelle, sehr geehrte/r Leser/in, ganz sicher nicht die Absicht, Ihnen die Absolution des Suizids Ihres geliebten Menschen abzuringen. Vielmehr wünsche ich mir, dass Sie in Ihre eigene Bewertung Ihrer Tragödie einbeziehen, dass dieser Mensch einem übermächtigen Willen unterworfen war, der das Weiterleben kategorisch ausschließen ließ. Und so wie das dem (kranken/gestörten) Kalkül des Suizidenten unterlag, so ist es allein unsere eigene (gesunde, zutreffende) Betrachtung, dass dieser damit so tragisch falsch lag.

Wir sind im Allgemeinen durchaus in der Lage, Schmerzen eines anderen so zu antizipieren, dass wir dessen Leid erkennen und in unserer Vorstellungswelt bewerten können. Auch wenn wir zum Beispiel die Zahnschmerzen unseres Kindes selbst nicht verspüren, so wissen wir aus eigener Erfahrung, wie sehr einen derlei peinigen können. Zahnschmerzen sind ein Teil unserer Erinnerung, eine Lebenserfahrung, die in der Regel nicht vergessen werden kann. Sie bleibt präsent, eingebrannt in unserem Bewusstsein. Den „Zahnschmerz“ unseres geliebten Menschen, der diesen zum Suizid hat kommen lassen, können wir aber nicht nachempfinden, da wir diesen selbst so nie erfahren haben. Dessen Leid, Verzweiflung, Ängste und seine empfundene Ausweglosigkeit sind für uns komplett abstrakt und daher nicht begreiflich. Unsere Zähne sind seit jeher intakt, nicht kariös, wiesen noch nie eine Wurzelentzündung auf. Wir sind somit per se gar nicht in der Lage, das Leid des Anderen auch nur annähernd zu verstehen. Und erst Recht können wir mit „gesunder Psyche“ nicht nachempfinden, was eine „kranke/gestörte“ dazu kommen lässt, sich zu suizidieren.

Unsere Empfindung, dass der frei gewählte Tod auf einer tragischen Fehlinterpretation beruht, kann somit nahezu unmöglich das Drama erfassen, welches unserem geliebten Menschen alle Zuversicht und jedweden Lebenswillen geraubt hat. Alle unsere Wertungen sind somit nahezu blanke Theorie, basierend auf der Tatsache, selbst „gesund“ und „psychisch stabil“ zu sein. Begegnen wir einem an Demenz Erkrankten, dann versuchen wir die Auswirkungen dieser Krankheit zu berücksichtigen. Was Demenz wirklich bedeutet, wissen wir nicht, können uns auch gar nicht vorstellen, was im Kopf des Kranken vor sich geht. Wir wissen nur: dieser Mensch ist nicht mehr mit Normalmaßstäben zu messen – und wir berücksichtigen diese Erkenntnis, soweit es im Zusammenspiel mit dem Betroffenen eben geht. Die Basis aller Wertungen dabei: Wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun. Und dieser kann für sein Leid nichts, er ist selbst ein „Opfer“.

In ebensolcher Weise müssen wir uns bei einem Suizid positionieren. Unser geliebter Mensch, den wir nun so tragisch verloren haben, befand sich in einem Zustand, den wir weder verstehen, noch nachempfinden können. Aus diesem entsprang der unbedingte Wille zum Sterben. In der Psyche des Suizidenten hat ein Prozess stattgefunden, der nur in seiner eigenen und ganz isolierten Empfindungswelt den eigenen Tod als Erlösung verstehen ließ. Und es entstand der Wunsch zur Selbstvernichtung, zur Auslöschung, zur Beendigung des eigenen Martyriums.

Wir argumentieren im Nachgang mit vermeintlich bestechender Logik: Die Kraft, die unser geliebter Mensch für seinen Suizid aufgewendet hat, hätte mehr als ausgereicht, das Leben fortzusetzen, die Probleme zu lösen, einen positiven Weg zu gehen. Damit werden wir nicht falsch liegen – zumindest theoretisch. Doch an einer Wegegabelung haben wir uns alle zu entscheiden, ob wir nach links oder rechts gehen. Unser geliebter Mensch hat sich nicht nur für eine dieser Richtungen entschieden, er hat alle Kraft und Energie aufgewendet, die für ihn einzig richtige Entscheidung zu treffen. Eine gewaltige Willensleistung, an deren Ende die vollkommene Selbstvernichtung stand.

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung

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