Читать книгу Konfrontation mit einer Selbstvernichtung - Stefan G. Rohr - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеMagst Du zweifeln, dass die Sterne glühen,
dass die Sonne sich bewegt,
magst die Wahrheit Du für Lüge halten,
aber zweifle niemals an der Liebe.
William Shakespeare (1564 – 1616)
Dieses Buch zu schreiben, stellte die bislang größte Herausforderung in meinem immerhin schon über 60 Jahre währenden Leben dar. Die Wunden eines Suizides verheilen bei den Hinterbliebenen – wenn überhaupt – nur sehr langsam. Die Narben hingegen bleiben für alle Zeit. Die Schmerzen und das wahrgenommene Leid sind schier unerträglich, mit unbekanntem Ausgang, mit immer wieder aufflammenden neuen Attacken. Ein Buch über die eigene Tragödie zu verfassen – trotz des Zieles anderen Betroffenen Hilfe hierdurch zu geben – stößt deswegen an die Machbarkeitsgrenze, überschreitet diese mitunter, wie ich während des Schreibens und den Korrekturläufen immer wieder schmerzvoll feststellen musste.
Im Vorfeld, aber auch während der Arbeit an diesem Buch, kamen mir überdies immer wieder Zweifel, ob ich dazu fähig sein würde, zudem, ob es mir überhaupt obliegt, ein solches Werk zu verfassen. Schließlich bin ich weder Psychologe, noch Therapeut, auch kein Arzt oder Trauerbegleiter. Würde ich mich also nicht nur viel zu weit über meine Kompetenzen hinaus wagen? Würde ich mich auf Themen und Problemstellungen einlassen, für die Menschen jahrelang studiert, sich als Fachleute in der Praxis geformt und komplettiert haben? Steht es mir überhaupt zu, mich auf dieses Terrain zu begeben, unabhängig der Tatsache, ob und was ich selbst erlebt, gespürt, recherchiert und geschlussfolgert habe, so sehr ich auch glaube, dass meine Erfahrungen mitnichten als Einzel- oder Sonderfall gesehen werden können, man meine Geschichte und mich durchaus als repräsentativ verstehen muss?
Am Ende dieser Überlegungen aber bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es weder verwerflich noch unsinnig sein kann, als Suizid-Betroffener ein Dokument zu verfassen, welches allein darauf abzielt, anderen Menschen in einer Ausnahmesituation zu helfen, Beistand zu geben, Augen ein wenig zu öffnen, die geschundene Seele zu beruhigen.
Mir geht es zudem auch gar nicht darum, „Recht“ haben zu wollen, auch nicht um eine kybernetische Konkurrenz zu Experten des Psychotherapie- oder Psychiatrie-Genres zu entwickeln, nicht um Besserwisserei, Angabe oder gar Narzissmus. Auch nicht darum, mein eigenes Leid zu kaschieren, in dem ich mit halbgaren Thesen und pseudowissenschaftlichen Attitüden aufwarte. Hier könnte ich nur als Scharlatan beurteilt werden, was dann sicher auch berechtigt wäre.
Suchen Sie eine akademische Expertise, dann sind Sie besser bedient, dieses Buch weder zu kaufen, noch zu lesen. Zahlreich und fast überall sind Experten zu finden. Das sollte demnach kein Problem darstellen. Suchen Sie die Nähe zu einem Menschen, der durch die gleiche Hölle gegangen ist, die aktuell die Ihre ist, zu jemandem, der alle Phasen durchlaufen hat, die auch die Ihren waren, sind oder sein werden, der Ihnen somit Erfahrungen nahebringen kann, die ganz sicher hilfreich sein werden, auch wenn diese dann nicht identisch 1:1 bei Ihnen in Ansatz zu bringen sind, dann wären Sie schon ganz richtig in diesem Buch angekommen.
Aber vor allem werde ich auf die schier unzählig anmutenden Fragen eingehen, die Ihnen aktuell (und noch für sehr lange Zeit) den Mittelpunkt Ihres Daseins nach dem Suizid Ihres geliebten Menschen ausmachen werden. Das werde ich weitestgehend sehr „unwissenschaftlich“ gestalten, aber dafür mit umso größerer Verständigkeit, der richtigen Antizipation und objektiver Ehrlichkeit. Denn das ist es, was Sie derzeit am meisten benötigen – und was unglücklicherweise am schwersten zu generieren ist.
Aber ich möchte an dieser Stelle auf Sie als Leser/in eingehen und Ihnen aus tiefsten Herzen sagen, wie leid es mir tut, dass Sie Anlass haben, dieses Buch zu lesen. Kein fröhlicher und unbeschwerter Mensch greift zu einem Buch wie diesem. Dazu bedarf es einer Tragödie, und eine solche wird Ihrem Motiv mit großer Sicherheit zu Grunde liegen. Lassen Sie mich Ihnen deshalb auch sagen, dass Ihr Schmerz durch nichts, auch nicht durch dieses Buch, geheilt werden kann. Die Tiefe und Unbegreiflichkeit ist nur von Ihnen selbst zu ergründen, niemand wird es Ihnen nachempfinden, nicht abnehmen, lediglich dann antizipieren können, wenn von diesem ein ähnlicher Schicksalsschlag erlebt und verarbeitet werden musste.
Es tut mir unendlich leid für Sie, und nichts wird Sie positiv beflügeln können, noch nicht einmal wenn ich Ihnen sage, dass zwar der Schmerz für immer bleibt, sich das Leid jedoch in Bahnen lenken lässt, die es mit der Zeit erträglich machen werden. Hierzu empfehle ich Ihnen das Buch der amerikanischen Autorin und Psychotherapeutin Megan Devine, welches den Titel trägt „Es ist okay, wenn Du traurig bist“ (ISBN Print 978-3-86882-940-2; eBook 978-3-96121-227-9). Hinter diesem fast ein wenig trivial anmutenden Titel verbirgt sich ein Meisterwerk der Trauerbewältigung, der Analyse und Aufarbeitung von Schmerz und Leid, angereichert mit unzähligen Empfehlungen für diese wohl schwerste Zeit in Ihrem Leben, verehrte/r Leser/in.
Im zentralen Kontext meines Ihnen nun vorliegenden Buches befindet sich mein persönliches Drama, welches das Potenzial für ein ausgewachsenes Trauma beinhaltet, und ich selbst weiß auch immer noch nicht, ob ich wirklich „über den Berg“ bin. Das wahrscheinlich werde ich wissen, wenn ich selbst einmal meinen letzten Atemzug machen werde. Dann wird es mir möglich sein, diese Frage zu beantworten.
Meine Geschichte ist nicht die Ihre. Sie soll es auch nicht sein, und ich mache an diesem Punkt in aller Deutlichkeit klar, dass kein Verlust eines Menschen, kein Schicksalsschlag durch Suizid, in den verursachten Schmerzen und Leiden vergleichbar ist. Dafür müssten diese Geschehnisse gleichsam „austauschbar“ sein – und das ist niemals der Fall, ganz unabhängig davon, ob und wie viele Parallelen oder vielleicht sogar partiell identische Fakten und Details den „Fällen“ zu eigen sind. Schmerz und Leid, Trauer und die Gehässigkeit des Schicksals sind nicht skalierbar. Es gibt keine „Richterskala“ für die Eruptionsstärke Ihrer diesbezüglichen Gefühle, kein Maßband zur Messung Ihres aufgerissenen Herzens, keine physikalische Bezeichnung für die Lautstärke Ihres inneren Schreiens. Alles was Sie derzeit durchleiden ist Ihr persönlicher Super-GAU, Ihre Tragödie, Ihr Verlust Ihrer Welt wie sie zuvor war.
Wie ich eingangs schon schrieb, ist auch genau dieser Punkt einer der Auslöser für meine vielfältigen Zweifel gewesen. Denn was kann ich – als Opfer eines individuellen Suizids – denn schon mitteilen? Was kann es anderen, Ihnen, bringen und helfen, wenn ich „meine“ Geschichte und Erkenntnisse niederschreibe? Gerade, wenige Sätze zuvor, habe ich vehement die Vergleichbarkeit derlei Katastrophen ausgeschlossen. Und nun offeriere ich Ihnen eine Individual-Abhandlung? Mein Entschluss, es dennoch zu tun, basiert auf meinen schmerzlichen Erfahrungen, dass es zwar eine ganze Flut von Beiträgen im Internet, zudem eine schier unüberschaubare Vielfalt an Niedergeschriebenem gibt, die aber so dringend gesuchte Hilfe in kompakter Form nur schwer zu finden ist.
Nach dem Suizid meiner geliebten Ehefrau zog es mich förmlich in die Recherche. Wie ein Magnet wirkte das Internet auf mich. Ich gab gefühlt eine Million Suchbegriffe in die Suchmaschinen ein, durchpflügte tausende Seiten, Kommentare, las wissenschaftliche Abhandlungen, studierte Berichte, Forschungsergebnisse, las Erfahrungsberichte von „Geretteten“ und sog eine schier unüberschaubare Anzahl von Buch- und Textquellen auf. Eine intensive Phase durchlebte ich auf diese Weise, saß so manches Mal über zwanzig Stunden vor meinem Computer, bis mir die Augen vor Müdigkeit zufielen und ich in mein Bett ging, um wieder eine dieser traumreichen, quälenden Kurzschlaferfahrungen zu machen. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich etwas gefunden hätte, was mir einen ausreichenden Überblick und eine umfassendere Einsicht in das „Suizid-Geschehen“ ermöglicht hätte.
Natürlich findet man fast alles wonach Suizid-Geschädigte, im Kerne die eigentlichen Suizid-Opfer – denn das sind wir Hinterbliebenen, die meist jedoch recht profan als „Hinterbliebene“ bezeichnet werden, ganz eindeutig – in einer solchen Zeit suchen. Doch es sind derart viele Mosaiksteinchen, dass es schon einer Sisyphus-Anstrengung gleichkommt, hieraus die Erkenntnisse zu ziehen, die für die Bewältigung des aktuellen Traumas nützlich und hilfreich sind. Hierin besteht meinerseits keine Kritik, ich beschwere mich auch nicht, ebenso wenig möchte ich eine Diskreditierung der veröffentlichten Texte und Abhandlungen hiermit verbinden. Allesamt sind diese im besten Sinne verfasst und gemeint, inhaltlich in großer Zahl hervorragend und fundiert. Und dafür gebührt ihnen Respekt und Dankbarkeit. Was ich lediglich anführen möchte, schon als Begründung für meine eigene, Ihnen nun vorliegende Arbeit, ist die persönliche Erfahrung, dass in der schlimmsten Zeit eines Lebens, nach dem Suizid eines geliebten Menschen, das Kaleidoskop der Empfindungen und Wissensbegehrlichkeiten so bunt und facettenreich ist, dass das „Netz“ hier nur dann Hilfe bereit hält, wenn man sich einer Suche widmet, die sich schlussendlich als extrem zeitraubend herausstellen wird, die geeigneten Informationen sortiert und hiernach für den eigenen „Fall“ qualifiziert werden müssen.
Wie so häufig liegen Welten zwischen Theorie und Praxis. Steht man vor dem Scherbenhaufen eines Suizids im eigenen Umfeld gibt es allenfalls Ansätze von Parallelen und Überschneidungen des jeweiligen (vor allem fallbezogenen) Anspruches (=Wunsch) und der Umsetzbarkeit (=Informationsgewinnung und Erklärung) passender, weiterführender oder gar lösungsgeeignete Erkenntnisse. Dieser Umstand bedeutet vor allem dann ein Martyrium für alle Hinterbliebenen, wenn die folgenden Fakten vorherrschen:
Der Suizid wurde völlig überraschend begangen.
Es fehlt den Betroffenen (individuell) an der vorauslaufenden Erkennbarkeit von psychischen Veränderungen beim Suizidenten.
Es wurde kein Abschiedsbrief hinterlassen.
Diese Aspekte haben das Potenzial, die Zurückgelassenen bis an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit zu katapultieren, und nicht selten geraten diese Menschen dann selbst in die Gefahr eines eigenen Suizids („Werther-Effekt“). Je höher der Grad der Überrumpelung, verbunden mit dem Grad der Informationslosigkeit, ist, desto massiver entwickeln sich Verzweiflung und Schmerz, desto erheblicher wird es, Kenntnisse zusammenzutragen, die geeignet sind, eine Verbindung, gegebenenfalls sogar eine Übereinstimmung mit dem gerade zu verarbeitenden Individualfall herzuleiten. Dabei ist es mir selbst so ergangen, dass ich sogar einzelne Sätze aus wissenschaftlichen Abhandlungen oder journalistischen Fachbeiträgen als „heilsame“ oder „erhellende“ Quelle herausgelöst und erwogen habe. So sehr hängt man in diesen Phasen an jeder Kleinigkeit, die – wenn vielleicht auch nur durch Interpretation – geeignet scheint, einen Beitrag zur Erklärung des Unerklärlichen, des Unfassbaren abgeben zu können.
Es hängt ganz sicher vom individuellen Charakterbild eines jeden Betroffenen ab, wie tief in der Recherche gegangen wird, wie lange diese Aktivitäten betrieben werden, und wie akribisch die Informationsgewinnung (inklusive deren Analyse, Sortierung und Bewertung) umgesetzt wird. An zweiter Stelle steht dann die persönliche und soziale Befähigung einen „lauten“ Abgleich, eine Diskussion oder auch nur ein Gespräch mit anderen über die immer wieder neu erarbeiteten Erkenntnisse realisieren zu können. Hier ist demnach das familiäre Umfeld, ebenso der enge Freundeskreis, vielleicht aber auch ein Therapeut oder Trauerbegleiter gefragt, mit emotionaler Intelligenz und ohne Egoismus oder falschen Lebensweisheiten zu reagieren. Daran mangelt es aber leider sehr häufig. Und die Schäden, die sich daraus zusätzlich ergeben können, sind besonders tragisch, da diese bei Weitem leichter zu vermeiden sind, als es der Katastrophenauslöser, der Suizid, an sich war (oder im Nachgang zu sein scheint).
Ich werde in diesem Buch Themen ansprechen, von denen ich auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen (und Recherchen) glaube, dass diese das wesentliche Problemspektrum von Hinterbliebenen nach dem Suizid eines geliebten Menschen darstellen, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit zu verfolgen. Hierbei werde ich es tunlichst unterlassen, Sie als Leser/in mit Statistiken oder pauschalisierenden Wissenschaftserkenntnissen zu verwirren, besser gesagt zu langweilen oder gar noch mehr: zu frustrieren.
Die Kernfragen der Hinterbliebenen bleiben offen, und die meisten dieser können ohnehin von der Wissenschaft nicht wirklich und eindeutig beantwortet werden, da ein vollendeter Suizid nun einmal den Tod im Wesen trägt, und Tote können kein validierbares Zeugnis mehr über Psyche oder Motive abgeben. Aus mir spricht hier nicht etwas der bittere Sarkasmus. Im Gegenteil: Es sind die Gelehrten selbst, die die immer noch als sehr vage und löchrig beurteilte Suizid-Forschung mit diesem Aspekt als stark lückenhaft erklären. Es herrschen zwar noch diverse weitere Gründe für diesen Umstand vor, doch auf diese werde ich erst später näher eingehen.
So mögen dann auch die biologischen oder Gen-relevanten (Stichwort Vererbbarkeit) Fakten und Forschungserkenntnisse nicht helfen, allenfalls dem interessierten (und verständigen) Interessenten einen medizinisch/bio-chemischen Überblick über Zusammenhänge von Botenstoffen, Synapsen, Gehirn und Wirkungsweisen von pharmakologischen Antidepressiva ermöglichen. Das brennende und bohrende „Warum“, die Fragen der eigenen „Schuld“, die Rekapitulation von „Hilfe- und Verhinderungsmöglichkeiten“ oder die Wirkung und Bedeutung von „eigenen (auslösenden!) Fehlern“ im Vorfeld des (vollendeten/versuchten) Suizids werden indes durch all das nicht beantwortet.
Ohnehin steht man als „Opfer“ recht allein dar. Ich will zwar nicht unterminieren (erst recht nicht diskreditieren), dass es diverse Hilfeorganisationen, Institutionen und auch eine Vielzahl an Therapeuten gibt, deren Angebote in der Regel leicht zu erreichen sind, doch stellt die Galaxie, in der man selbst in Nanosekunden durch den Suizid katapultiert worden ist, eine derart isolierte, ferne und fremde Sphäre dar, dass es selbst das engste eigene Umfeld schwer hat, in dieser Phase in das Gemüt des Hinterbliebenen so einzudringen, dass sinnvolle und wirksame Hilfe möglich wird. Und wenn es um Termine bei Therapeuten geht, dann landet man unmittelbar auf der langen Warteliste und sieht sich dem Umstand ausgesetzt, vielleicht in zwölf bis sechzehn, manchmal aber auch in zwanzig bis dreißig Wochen die erste Therapiesitzung absolvieren zu können.
Mir ist es auch bewusst, dass die Berichterstattung, das Erzählen und Schildern von fremden Suizidfällen den gerade selbst Betroffenen in seiner ureigenen und persönlichen Lage entweder gar nicht interessieren, oder diesen additiv so hoch belasten, dass es zu einer Qual wird, hierüber zu hören oder zu lesen. Als ich einem mir seit fast dreißig Jahren gut bekannten Menschen nach einigen Wochen vom Suizid meiner Frau erzählen konnte, war er natürlich äußerst betroffen. Als er den ersten Schock verwunden hatte, holte er aus und berichtete mir vom Suizid eines entfernte Verwandten in seinem angeheirateten Familienumfeld, der (zu allem Übel) auch noch am gleichen Tage, auf die gleiche Weise geschah. Er meinte es sicher gut, wollte mir Verständnis aufzeigen, Empathie belegen, mich vielleicht auch beruhigen („Du bist nicht der Einzige!“). Doch ich fuhr ihn harsch an und verlangte, dass er mir „eine solche“ Geschichte doch ersparen würde. Denn es war mir völlig unerträglich, mich mit diesen (fremden) Geschehnissen auch noch auseinander zu setzen. Es erhöhte meine Qual so immens, dass mir spontan übel wurde und ich mich fast übergeben hätte.
Dementgegen aber ist es unerlässlich, in einem Buch wie diesem die Hintergründe durch den exemplarischen Fall zu erklären. Für Sie als Leser/in habe ich deshalb die Schilderung meines „Falles“ im Wesentlichen in den Anhang verschoben. Lesen Sie diesen, sofern Sie es denn möchten, auch am besten ganz zum Schluss. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf meine am Ende dieses Vorwortes stehenden „Hinweise und Empfehlungen zur Lektüre“ verweisen.
Wie schwer Ihnen so manche Passage in diesem Buch auch fallen wird, so lassen Sie sich auch von mir sagen, dass es den Zeitpunkt geben wird, an dem Sie wieder die Stärke, den Abstand und die Objektivität besitzen, trotz der nie endenden Schmerzen um Ihren bitteren Verlust, Schritte zu gehen, die für Sie heute noch undenkbar erscheinen. Allerdings bin ich ebenso um Lichtjahre von der irrigen Annahme entfernt, Ihnen nun die Plattitüde „Die Zeit heilt alle Wunden!" um die Ohren zu werfen. Jeden, der Ihnen in der aktuellen Phase dieses antut, sollten Sie sofort des Raumes verweisen.
Zum Schluss meines Vorwortes für dieses Buch möchte ich Sie gerne in etwas bestärken, welches in unserer Gesellschaft zu Recht auf dem Index gelandet ist – ironischer Weise trotz der Tatsache, dass dieses Etwas immer mehr Platz ergreift: der Egoismus. Wenn ich nun an Sie appelliere, nicht davor zurück zu scheuen, nun, in der aktuellen Phase, nur an sich selbst zu denken, daran, was Ihnen wohl tut, was Ihnen hilft, was Sie weiterbringt, und was das Gegenteil bewirkt und deswegen von Ihnen zurückgewiesen werden muss, dann ist es ein Appell an Ihren Egoismus. Was wir sonst als unangenehme Eigenschaft, unsozial und inkompatibel in Partnerschaftsbeziehungen verstehen, stellt aktuell für Sie ein Großteil Ihres Rettungsbootes dar. Als sozial verträgliche, kompatible und integrierte Persönlichkeiten streben wir förmlich dazu, unsere Interessen entweder „wohltuend“ in den Hintergrund zu stellen, wenigstens doch aber diese so verträglich zu priorisieren, dass wir uns selbst nicht selten dabei in den Nachteil setzen. Denn unser Gegenüber ist häufig mitnichten ähnlich ausgerichtet – vielmehr ein vitaler Egoist, der ohne nachzudenken, nicht selten sogar skrupellos, auf das Nehmen ausgerichtet ist.
In Ihrem aktuellen (und sicher noch lange andauernden) vorherrschenden Dilemma ist aber kein Platz mehr für die Interessen anderer. Ja, ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Ohne nicht etwa die ersten zwei Dutzend Stellen auf Ihrer aktuellen Prioritätenliste mit dem „Ich“ zu besetzen, werden Sie möglicherweise Gefahr laufen, unter die (psychischen) Räder zu kommen. Es gibt momentan nichts von größerer Bedeutung für Sie, als Sie selbst! Eliminieren Sie also jedweden Altruismus, verschwenden Sie keine Gedanken daran, anderen in dieser Zeit nicht zur Last zu fallen, sich vielleicht mit Ihren Überlegungen und Erklärungsversuchen nicht zu äußern, sich zu beherrschen, nicht ständig dasselbe Thema, dieselben Aspekte und Fragen, Hinweise und Gedanken, Ihre Sorgen und Qualen, Ihre Tränen und offensichtlich akut vorhandenen physischen Beschwerden in dem Maß zu thematisieren, wie SIE ES WOLLEN.
Schämen Sie sich weder Ihrer Verzweiflung und Trauer, noch Ihrer Tränen und Weinkrämpfe, nicht Ihrer Wut, nicht Ihrer Schlafstörungen, nicht Ihres Zitterns oder Ihrer Konzentrationsschwächen und Erinnerungslücken. Begegnen Sie bewusst und ohne Selbstzweifel all Ihren aktuellen Verhaltensweisen und Opfer-/Trauma-Symptomen. Ob Sie Probleme mit dem Verlassen des Hauses, mit der Begegnung der Nachbarn, dem Einkaufen, der Nutzung von Haushaltsgegenständen oder erinnerungsbedeutsamen Sachen, oder auch nur mit dem Aussprechend des Namens des Suizidenten haben. Es ist normal! Wenngleich dieses Adjektiv fast schon sarkastisch klingt, wenn es in diesem Zusammenhang Verwendung findet.
Es geht aber nur noch um Sie! Ihr geliebter Mensch ist tot. Das ist ein ebensolches Faktum, wie die Tatsache, dass dieser nie wieder zurückkehrt. Und da Suizid stets eine ganz persönliche Entscheidung ist, müssen Sie nun die Position einnehmen, das nicht nur zu akzeptieren, sondern im Umkehrschluss sich selbst der Verpflichtung zu unterwerfen, dass Sie weiterleben, Sie schuldlos (und das sind Sie!) verurteilt wurden, mit all dem zurechtkommen zu müssen. Und da Ihnen diese psychische Meisterleistung niemand abnehmen kann, haben Sie aktuell das absolute Vorrecht auf alle Prioritäten in Ihrem Leben. Es geht jetzt in erster Linie um SIE! Seien Sie also einfach so egoistisch, wie Sie es BRAUCHEN, und nicht nur, wie Sie es vor Ihrem Innersten rechtfertigen und vertragen können. Betreiben Sie die größtmögliche FÜRSORGE für sich selbst. Beobachten Sie sich intensiv, registrieren Sie Ihre Reaktionen und versuchen Sie es, das Geschehen um Sie herum dahingehend zu „ordnen“, dass Sie schnellstmöglich erfassen, was Ihnen guttut und was dem entgegensteht. Seien Sie dabei in besonderer Weise ehrlich ZU SICH SELBST. Vermeiden Sie die anerzogenen Reflexe sich zurückzunehmen und zu Dingen „Ja“ zu sagen, die Sie nicht wollen, nicht hören mögen, (noch) nicht akzeptieren oder umsetzen möchten. Seien Sie im Umgang mit sich selbst so behutsam wie es geht und bleiben Sie in „Alarmstimmung“ was Ihre Gesamtverfassung (psychisch, körperlich) anbelangt. Und zögern Sie nicht, sich eine fachlich versierte therapeutische Begleitung zu suchen, sofern Sie den Eindruck gewinnen, selbst nicht mehr Frau/Herr Ihrer selbst zu sein.
Sie sind wahrscheinlich gerade empfindlicher als ein rohes Ei mit angebrochener Schale. Sie werden durch diese Phase durchkommen, dazu aber bedarf es nicht nur viel Kraft, sondern auch Selbstvertrauen und die rechtzeitige Einsicht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Ihnen Ihrer Auffassung nach wirklich Hilfe versprechen.
Diesen Rat gebe ich Ihnen – wie eingangs ausgeführt – nicht als Hobby-Therapeut, sondern als Leidensgenosse, der Ihre katastrophale Lage am eigenen Leibe und in epischer Breite selbst durchleben musste. Ob ein Sie begleitender psychologisch geschulter Experte es auf ebensolche Weise empfiehlt oder ausdrückt, kann ich Ihnen nicht sagen. Es sind meine eigenen Erfahrungen und Reaktionen, Entscheidungen und Maßnahmen, von denen ich heute weiß, dass diese mir (persönlich, individuell) sehr geholfen haben, in meiner Apokalypse zu „überleben“. Mir ist es mehr als bewusst, dass wir Menschen sehr unterschiedlich sind, entsprechend individuell reagieren, denken und fühlen. Nicht alles, was für mich selbst als richtig verstanden werden kann, muss demnach auch für Sie gelten. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches stets auch ein Auge darauf haben, was jeweils Ihre eigene Position ist, was Ihnen Ihr tiefstes Inneres sagt und empfiehlt. Aber ungeachtet des Umstandes, wie hoch unsere Übereinstimmung auch ausfällt, es ist für Sie als Leser/in mit großer Wahrscheinlichkeit hilfreich, die Sichtweise und das Handeln eines anderen Suizid-Hinterbliebenen in der Art und Tiefe zu erfahren, wie ich diese in dem Ihnen vorliegenden Buch anbiete.