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2.1.2 Wie verändern wir Sprache? Zur Theorie des Sprachwandels

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Holistische und modularistische Ansätze

Dass Sprache sich wandelt, ist eine Tatsache, die kaum ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Wie Sprache sich wandelt und warum, ist jedoch umstritten. An dieser Stelle kann nur ein sehr knapper Überblick über verschiedene Ansätze gegeben werden, auch weil sich dieses Buch nur indirekt mit Sprachwandeltheorie beschäftigt – im Mittelpunkt stehen vielmehr Methoden, mit deren Hilfe sich Sprachwandel empirisch untersuchen lässt. Die empirischen Ergebnisse können dann wiederum theoretische Erklärungsansätze untermauern oder in Frage stellen.

Die Antwort auf die Frage, wie und warum Sprachen sich verändern, hängt stark von der Konzeption ab, die man von Sprache hat. Stark vereinfachend kann man zwei sehr unterschiedliche Auffassungen von Sprache unterscheiden, auch wenn es in beiden „Lagern“ sehr viel Variation gibt und die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Richtungen sehr viel unschärfer sind, als ich sie hier darstelle. Eine modularistischeModularismus Sprachauffassung, wie sie insbesondere die generative Grammatik vertritt1, sieht Sprache als eigenständige Komponente der Kognition. Sie nimmt an, dass es bestimmte Gehirnareale gibt, die spezifisch für Sprachverarbeitung zuständig sind. Das „Sprachmodul“ ist dabei zwar in einigen Varianten der Theorie über Schnittstellen mit anderen kognitiven Modulen verbunden, aber prinzipiell von diesen unabhängig. Die Sprachfähigkeit gilt in diesem Ansatz als angeborene Fähigkeit: Eine Sprache muss zwar erworben werden, doch die kognitiven Voraussetzungen dafür sind biologisch verankert. Ein (umstrittenes) Hauptargument dafür lautet, dass Kinder eigentlich gar nicht genug Input bekämen, um eine Sprache vollständig erwerben zu können (poverty of stimulus). Insbesondere erhielten sie kaum negatives Feedback z.B. durch Fehlerkorrektur. Daher müsse es angeborene Grundlagen der Sprachfähigkeit geben. Zu diesen kognitiven Grundlagen zählt eine Universalgrammatik, also ein Regelinventar, das allen Sprachen zugrundeliegt. Folgerichtig ist das eigentliche Erkenntnisinteresse der Sprachwissenschaft aus generativer Sicht auch nicht die Beschreibung sprachlicher Oberflächenstrukturen, sondern vielmehr eben dieser Universalgrammatik. Das heißt aber nicht, dass die generative Linguistik per se nicht an sprachlicher Diversität und Variation interessiert wäre (auch wenn man ihr das manchmal vorwirft). Im Fokus steht jedoch die Frage, wie sich die Heterogenität menschlicher Sprachen aus einem als homogen angenommenen Regelinventar ergibt.

Der Fokus auf die angeborene Sprachfähigkeit im allgemeinen und auf die Universalgrammatik im besonderen bringt für die generative Linguistik Herausforderungen mit sich, wenn es um die Erklärung von Sprachwandel geht, da die Universalgrammatik ja eine relativ statische Größe sein muss. Aus diesem Grund wird in solchen Ansätzen gerade dem Spracherwerb eine zentrale Rolle zugeschrieben. Im Principles-and-Parameters-Ansatz der generativen Grammatik geht man davon aus, dass die Universalgrammatik aus invariablen Prinzipien besteht, die allerdings unterschiedlich realisiert werden können. Diese unterschiedliche Realisierung geschieht über Parametersetzung. Im Spracherwerb setzt das Kind die Parameter entsprechend seiner Muttersprache, wobei jedoch die Möglichkeit (meist geringfügiger) Abweichungen besteht (vgl. z.B. Boeckx 2006, Roberts & Roussou 2003).

Im diametralen Gegensatz dazu steht die holistischeHolismus Sprachauffassung, die beispielsweise in der sog. Kognitiven Linguistik, in funktionalistischen Ansätzen und in den meisten Spielarten der Konstruktionsgrammatik vertreten wird.2 Ziem (2008: 103) weist darauf hin, dass sich der Begriff Holismus nur in der deutschsprachigen Literatur findet, in der internationalen Literatur spricht man meist von einem integralen (integral) oder einheitlichen (unitary, uniform) Modell. Spivey (2007) nutzt Kontinuität (continuity) als Gegenbegriff zu Modularität.3 Gemeint ist jeweils, dass es keine strenge Aufteilung der „Zuständigkeiten“ in der menschlichen Kognition gibt. Somit bildet auch Sprache nach dieser Auffassung kein eigenständiges kognitives Modul, sondern ist vielmehr eng mit anderen Bereichen der Kognition verwoben. In einer etwas überzeichneten Metapher könnte man sagen, dass die „Arbeitsteilung“ im menschlichen Geist hier einer Fußballmannschaft entspricht, die kein Spiel gewinnen könnte, wenn nicht die Stürmer auch ab und zu Abwehr spielen würden und umgekehrt. Im modularistischen Modell funktioniert Kogniton hingegen eher wie eine Behörde, in der jede Abteilung ihre eigenen Zuständigkeiten hat und es tunlichst vermeidet, sich in die Geschäfte der anderen Abteilungen einzumischen.

Die holistische Sprachauffassung lehnt die Annahme einer angeborenen Sprachfähigkeit ab und hält das poverty of stimulus-Argument für nicht überzeugend. Sie geht davon aus, dass Sprache „statistisch“ erworben wird – unbewusst führen wir quasi Buch über die Wörter und Konstruktionen, die uns begegnen, und wissen daher sehr genau, was in welchem Kontext die richtige Wahl ist. Zum Beispiel merken wir mit der Zeit, dass Sprecherinnen und Sprecher immer ging sagen, wo man sonst vielleicht *gehte erwarten würde, wenn man die regelmäßige Vergangenheitsform des Deutschen kennt. Das poverty of stimulus-Argument, so die holistische Sicht, unterschätzt diese Fähigkeiten drastisch (vgl. z.B. Tomasello 2003, Goldberg 2011).

Weil holistische Ansätze Sprache als hochgradig dynamisch betrachten, ist der Spracherwerb aus dieser Sicht nicht der vorrangige Ort des Sprachwandels. Das ist vielmehr der Sprachgebrauch: Jede einzelne Äußerung, die getätigt wird, kann prinzipiell zu einer Rekonfiguration unseres sprachlichen Wissens führen.

Die gerade in letzter Zeit wieder äußerst polemisch geführten Debatten zwischen Anhängern der beiden hier vorgestellten Richtungen zeigen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist (vgl. z.B. Evans 2014, Adger 2015). Das vorliegende Buch verortet sich im holistischen Ansatz, wenngleich die meisten Beobachtungen und Fallstudien, die in den folgenden Kapiteln dargelegt werden, „theorieneutral“ sind und sich durchaus auch für unterschiedliche Interpretationen aus diversen theoretischen Perspektiven anbieten.

Individuum und Population

Obwohl die beiden Auffassungen von Sprache und Kognition unterschiedlicher kaum sein könnten, haben sie doch eines gemeinsam, nämlich den Fokus auf das individuelle sprachliche Wissen. Die generative Linguistik stellt die sprachliche Kompetenz oder auch I(nterne)-Sprache in den Vordergrund und sieht die Performanz oder auch E(xternalisierte)-Sprache als sekundär. Unter den holistischen Ansätzen verfolgt gerade die Konstruktionsgrammatik explizit das Ziel, sprachliches Wissen zu modellieren. In der generativen Linguistik geht man von einem „idealen Sprecher-Hörer“ aus, der quasi stellvertretend für die „durchschnittliche“ Sprachbenutzerin steht. In holistischen Ansätzen tut man das in gewisser Weise auch, wenngleich man sich bewusst ist, dass es zwischen dem sprachlichen Wissen unterschiedlicher Personen recht drastische Unterschiede geben kann: „Different speakers, different grammars.“ (Dąbrowska 2012). In jüngerer Zeit ist jedoch die Frage nach dem Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Sprachwissen wieder stärker in den Vordergrund gerückt. So unterscheiden z.B. Traugott & Trousdale (2013) zwischen dem sprachlichen Wissen eines Individuums und dem sprachlichen Wissen einer Population von Sprecherinnen und Sprechern. Beide Aspekte sind eng miteinander verwoben: Überindividuelles sprachliches Wissen kann nur als Abstraktion über individuelles sprachliches Wissen existieren, quasi als Schnittmenge des Wissens vieler Einzelpersonen. Deshalb kann es auch so etwas wie „die (deutsche) Sprache“ oder „die Grammatik“ nur bedingt geben. Aus dieser Perspektive ist Sprache ein komplexes adaptives Systemkomplexes adaptives System, Sprache als (vgl. z.B. Steels 2000, Beckner et al. 2009, Kirby 2012). Damit ist ein System gemeint, das

1 aus verschiedenen „Akteuren“ besteht, die miteinander interagieren. Das ist bei Sprache trivialerweise der Fall – ich kann zwar auch mit mir selbst reden, aber eine Sprache lernen könnte ich alleine nicht;

2 adaptiv ist, d.h. Sprecherinnen und Sprecher passen ihr sprachliches Verhalten immer wieder auf Grundlage ihrer Erfahrungen an. Wenn ich zum Beispiel merke, dass alle in meinem Umfeld Kirche wie „Kürche“ und Gehirn wie „Gehürn“ aussprechen, passe ich meine eigene Aussprache früher oder später möglicherweise auch an. Und wenn ich merke, dass mich in Norddeutschland niemand versteht, wenn ich nachdem kausal, also begründend, verwende (Nachdem wir nächste Woche essen gehen wollen, müssen wir bald einen Tisch reservieren), weiche ich vielleicht in Zukunft auf eine dort üblichere Form wie weil oder da aus;

3 sich aus sprachlichen Verhaltensmustern ergibt, die ihrerseits Resultat eines komplexen Zusammenwirkens unterschiedlichster Faktoren sind: So spielen die biologischen Voraussetzungen sprachlicher Artikulation ebenso eine Rolle für die Entwicklung des Systems wie kognitive und kulturelle Faktoren.

Sprachwandel ist in aller Regel ein unbeabsichtigtes „Nebenprodukt“ sprachlichen Handelns. Keller ([1990] 2014) hat zur Veranschaulichung dieses Phänomens die Metapher der „unsichtbaren HandInvisible-hand-TheorieUnsichtbare HandUnsichtbare Hand“ aus den Wirtschaftswissenschaften entlehnt, die er mit dem berühmt gewordenen Beispiel des Trampelpfads erklärt: Dieser entsteht nicht absichtlich, sondern als unabsichtliches Nebenprodukt des Handelns vieler Individuen, die ein ähnliches Ziel verfolgen – nämlich eine Abkürzung zu nehmen. Wie durch eine unsichtbare Hand entsteht so mit der Zeit ein Pfad, der womöglich gar den Eindruck erweckt, bewusst und planvoll angelegt zu sein – „design without a designer“ quasi (Cornish 2010).

Kellers Invisible-hand-Theorie hat viel mit der Charakterisierung von Sprache als komplexes adaptives System gemeinsam, die zusätzlich den Fokus auf die Heterogenität der Faktoren legt, die dabei involviert sein können. Sprachwandel vollzieht sich immer an der Schnittstelle von Gesellschaft, Kultur und Kognition (vgl. auch Bybee 2010). Wenn wir in der Sprachgeschichtsschreibung über die rein beschreibende Perspektive hinausgehen und Sprachwandelprozesse zu erklären versuchen, gilt es dieses Geflecht im Blick zu behalten. Und gerade weil die einzelnen Faktoren und ihre Interaktion so komplex sind, ist die Sprachgeschichte, sei es des Deutschen oder auch anderer Sprachen, noch lange nicht „ausgeforscht“. Für die zukünftige Forschung tun sich hier spannende Fragen auf, die bisher erst im Ansatz behandelt wurden, zum Beispiel: Wer verändert eigentlich Sprache? Einerseits kann die Antwort darauf nur lauten: Wir alle, denn Sprache ist hochdemokratisch – andererseits hängt die Akzeptanz einer Innovation, die ich als Sprecherin in die Welt setze, von vielen verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von der Größe des Personenkreises, den ich damit erreiche, und von meiner eigenen Stellung im Kreis der Adressaten. Eine weitere interessante Frage könnte lauten: Wie wahrnehmbar sind Sprachwandelprozesse, und welche Faktoren steuern ihre Wahrnehmbarkeit? Einige Wandelprozesse, etwa der vermeintliche „Tod“ des Genitivs oder der angeblich übermäßige Gebrauch von AnglizismenAnglizismen, werden von Laien lautstark kommentiert (und beklagt), andere, wie etwa das Aufkommen des oben erwähnten kausalen nachdem, scheinen eher unbemerkt vonstatten zu gehen. Der Katalog offener Fragen ließe sich mühelos fortsetzen.

Um solche Fragestellungen wissenschaftlich fundiert angehen zu können, benötigen wir, sozusagen als Werkzeugkasten, ein Repertoire an Methoden, das selbstverständlich auch keine abgeschlossene Menge bildet, sondern immer wieder mit neuen Ansätzen erweitert werden kann. In den nächsten Abschnitten werden wir einige der wichtigsten Methoden, mit denen in der Sprachgeschichtsforschung gearbeitet wird, näher kennenlernen.

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