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2.2 Untersuchungsmethoden

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Dieses Buch will zum einen einen Überblick über die deutsche Sprachgeschichte geben, zum anderen Zugänge zu ihrer empirischen Untersuchung eröffnen. Es will Sie ermutigen, Sprachgeschichtsforschung wissenschaftlich zu betreiben. Ehe wir uns drei der wichtigsten Methodenfelder der historischen Sprachwissenschaft zuwenden, lohnt es sich daher, zunächst auf die wissenschaftliche Methodewissenschaftliche Methode näher einzugehen. Wenn heute von der „wissenschaftlichen Methode“ die Rede ist, dann ist damit zumeist der in Fig. 2 dargestellte Zyklus des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns gemeint. Dieser wiederum ist eng mit dem Prinzip des FalsifikationismusFalsifikationismus verbunden, das auf den Philosophen Karl Popper zurückgeht (vgl. z.B. Popper 1963). Maxwell & Delaney (2004: 13f.) illustrieren die Grundidee des Falsifikationismus, indem sie sie den Ideen des logischen Positivismus gegenüberstellen, der die Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte. Dieser folgt dem in (3) dargestellten Syllogismus der Bestätigung:

(3) Syllogismus der Bestätigung:
Annahme: Wenn meine Theorie wahr ist, folgen meine Daten dem vorausgesagten Muster.
Beobachtung: Die Daten folgen dem vorausgesagten Muster.
Schluss: Deshalb ist meine Theorie wahr.

Die Idee hinter diesem recht abstrakten Syllogismus lässt sich an einem einfachen Alltagsbeispiel illustrieren. Angenommen, ich wohne in einer WG und frage mich, wer im Badezimmer das Licht angelassen hat. Ich tippe auf meinen Mitbewohner, den angehenden Lehrer, zumal der ohnehin oft etwas verplant ist. Nun weiß ich, dass dieser Mitbewohner, wenn er nach Hause kommt, immer Kreide an den Fingern hat und deshalb dazu neigt, Kreideflecken zu hinterlassen. Mir fällt auf, dass am Lichtschalter ein kleiner Kreidefleck ist, der vorher noch nicht da war, und ich denke mir: Wusste ich’s doch!

Mein Schlussprozess folgt also dem Syllogismus der Bestätigung: Ich habe eine Theorie und überprüfe, ob die Daten mit meiner Theorie kompatibel sind. Dieses deduktive (ableitende) Verfahren ist sowohl für den logischen Positivismus als auch für den Falsifikationismus charakteristisch. Letzterer jedoch geht den dritten Schritt nicht mit – den nämlich, dass ich meine Theorie deshalb als wahr annehme.

Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Der Kreidefleck mag verräterisch sein, aber er ist natürlich keine hinreichende Evidenz, dass der Lehrer tatsächlich der Schuldige ist. Erstens muss der Kreidefleck nicht von ihm stammen – er könnte auch von meiner Mitbewohnerin stammen, die beim Klettern Unmengen an Magnesiumcarbonat verwendet. Zweitens kann auch nach ihm jemand im Bad gewesen sein, ohne eine Spur am Lichtschalter zu hinterlassen. Theoretisch ist sogar denkbar, dass es einen Einbruch gab, von dem niemand etwas bemerkt hat, weil der Einbrecher unverrichteter Dinge wieder gegangen ist, als er merkte, dass hier Geisteswissenschaftler leben, bei denen nichts zu holen ist – nur das Licht im Bad hat er angelassen. Diese Theorie ist zwar etwas weit hergeholt, aber es kann doch nicht ganz ausgeschlossen werden, dass sie zutrifft. Das gleiche gilt für praktisch unendlich viele andere Theorien, die meine Beobachtungen erklären können. Deshalb geht Popper auch davon aus, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, eine Theorie zu bestätigen. Hingegen ist es durchaus möglich, eine Theorie zurückzuweisen – mit dem Syllogismus der Falsifikation in (4).

(4) Syllogismus der FalsifikationFalsifikationismus:
Annahme: Wenn meine Theorie wahr ist, folgen meine Daten dem vorausgesagten Muster.
Beobachtung: Die Daten folgen dem vorausgesagten Muster nicht.
Schluss: Deshalb ist meine Theorie falsch.

Fig. 2: Der Zyklus des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, modifiziert nach Stefanowitsch (im Ersch.).

Aus diesem Grund ist es in empirischen Studien heute üblich, Hypothesen nicht direkt zu überprüfen, sondern stattdessen NullhypothesenNullhypothese (H0) zu testen. Die Nullhypothese ist das logische Gegenteil zu meiner eigenen Hypothese, der sog. Alternativhypothese H1. Schauen wir uns ein sprachgeschichtliches Beispiel dazu an. Das Adverb bisschen geht auf das Substantiv Bissen zurück, wie in ein Bissen Brot. Es hat sich von einem Wort mit sehr konkreter Bedeutung zu einem Wort mit eher abstrakter, quantifizierender Bedeutung gewandelt. Heute kann ich nicht nur einen Bissen Lasagne essen oder mir im Sommer ein bisschen Eis gönnen, sondern auch ein bisschen müde sein oder ein bisschen spazieren gehen. Wenn es stimmt, dass bisschen graduell eine immer abstraktere Bedeutung angenommen hat, dann ist zu erwarten, dass es ursprünglich zunächst mit Substantiven auftritt, die etwas sehr Konkretes bezeichnen, womöglich sogar etwas Essbares, und dass es sich erst allmählich auf Adjektive und Verben ausdehnt. In diesem Fall wäre die H1 also: bisschen tritt im Laufe der Zeit immer häufiger mit Wörtern auf, die nicht zur Wortart Substantiv gehören. Entsprechend lautet also die H0: bisschen tritt im Laufe der Zeit nicht häufiger mit Wörtern auf, die nicht zur Wortart Substantiv gehören.

Wenn nun eine empirische Studie mit Texten aus verschiedenen Zeitstufen belegt, dass bisschen in späteren Zeitstufen tatsächlich häufiger mit Adjektiven und Verben auftritt – und zwar so viel häufiger, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass eine solche Verteilung durch Zufall zustande kommt –, dann können wir zwar immer noch nicht völlig sicher sein, dass die Alternativhypothese zutrifft. Aber wir können mit großer Gewissheit die Nullhypothese zurückweisen – und dadurch unsere Alternativhypothese bestärkt sehen.

Das führt uns zu der Frage, was eigentlich eine wissenschaftliche HypotheseHypothese ist und welchen Kriterien sie genügen sollte. Bortz & Döring (2006: 4) definieren eine wissenschaftliche Hypothese wie folgt:

1 Eine wissenschaftliche Hypothese bezieht sich auf reale Sachverhalte, die empirisch untersuchbar sind.

2 Eine wissenschaftliche Hypothese ist eine allgemeingültige, über den Einzelfall oder ein singuläres Ereignis hinausgehende Behauptung („All-Satz“).

3 Einer wissenschaftlichen Hypothese muss zumindest implizit die Formalstruktur eines sinnvollen Konditionalsatzes („Wenn-dann-Satz“ bzw. „Je-desto-Satz“) zugrunde liegen.

4 Der Konditionalsatz muss potenziell falsifizierbar sein, d.h., es müssen Ereignisse denkbar sein, die dem Konditionalsatz widersprechen.

Denkpause

Welche der folgenden Annahmen können als wissenschaftliche Hypothesen gelten, welche nicht?

 Bayern trinken häufig Bier.

 Bayern trinken häufiger Bier als Schwaben.

 Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, bei einem Haushaltsunfall zu sterben.

 Wenn ein Kind ohne Sprache aufwächst, spricht es am Ende Vogonisch.

Eine Annahme wie Bayern trinken häufig Bier wäre nach den oben genannten Kriterien keine wissenschaftliche Hypothese, denn es wird nicht klar, was mit „häufig“ gemeint ist – deshalb ist die Aussage nicht nach klaren Kriterien falsifizierbar: „Falsifizierbarkeit setzt begriffliche Invarianz voraus“ (Bortz & Döring 2006: 5). Anders wäre es, wenn wir „häufig“ klar definieren, z.B. als „mindestens einmal am Tag eine Maß Bier“. Dann könnten wir daraus den Wenn-dann-Satz formulieren: „Wenn jemand Bayer ist, trinkt er mindestens einmal am Tag eine Maß Bier“ und könnten folgerichtig Daten von bayerischen und nicht-bayerischen Probanden erheben und vergleichen. Bayern trinken häufiger Bier als Schwaben ist eine wissenschaftliche Hypothese, denn hier haben wir ein klares Vergleichskriterium. Gleiches gilt für die dritte Hypothese, Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, bei einem Haushaltsunfall zu sterben. Diese Hypothese könnte man z.B. überprüfen, indem man Daten von tödlichen Haushaltsunfällen erhebt und die Altersverteilung der Todesopfer mit der Altersverteilung in der Gesamtbevölkerung vergleicht. Die vierte Hypothese ist ein schwierigerer Fall: Sie wäre potentiell falsifizierbar, allerdings müsste man dafür ein Kind ohne Sprache aufwachsen lassen. Aus offensichtlichen Gründen erachtet man ein solches Experiment heute als unethisch und überlässt es ägyptischen Pharaonen und mittelalterlichen Herrschern (vgl. Cohen 2013 für Beispiele). Ob es sich dennoch um eine wissenschaftliche Hypothese handelt, auch wenn sie nur in der Theorie falsifizierbar ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Da man solche Fragestellungen heute prinzipiell auch ohne Versuche an echten Menschen z.B. über sog. agentenbasierte computationale Modellierung (agent-based modelling) indirekt angehen kann, spricht im Grunde nichts dagegen, die Hypothese zumindest formal als wissenschaftliche Hypothese durchgehen zu lassen – inhaltlich ist sie natürlich offensichtlich unsinnig.

Das führt uns zu der Frage, was eigentlich eine gute wissenschaftliche Hypothese ausmacht. Eine Hypothese speist sich meist aus einer Theorie, also einem Netzwerk an erklärenden Annahmen (vgl. Bartz & Döring 2006: 15). Bisweilen werden die Begriffe Theorie und Hypothese nahezu austauschbar gebraucht, allerdings ist die Unterscheidung zwischen einem übergreifenden Netzwerk an erklärenden Annahmen und einer konkreten, falsifizierbaren Einzelannahme nicht ganz unwichtig; darauf werden wir in einem Exkurs in Kap. 4.1.2 zurückkommen. Eine gute Theorie wiederum ist nach Hussy & Jain (2002: 278f.)

 logisch konsistent, also in sich widerspruchsfrei;

 gut überprüfbar bzw. falsifizierbar;

 einfach: sie sollte mit möglichst wenigen Annahmen möglichst viel erklären;

 allgemein: eine Theorie mit größerem Geltungsbereich ist einer Theorie mit geringerem Geltungsbereich vorzuziehen.

Eng mit dem Kriterium der Einfachheit verbunden ist das Prinzip, das als Occam’s razorOccam’s razor (deutsch auch manchmal: Ockhams RasiermesserOckhams RasiermesserOccam’s razor) bekannt ist und das häufig in der Formel zusammengefasst wird: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem, also frei paraphrasiert: Die Zahl der Einheiten, die zur Erklärung eines Sachverhalts herangezogen werden, soll nicht ohne Not erhöht werden. Mit anderen Worten: Die einfachere Erklärung ist die bessere, wenn es nicht gute Gründe gibt, eine voraussetzungsreichere Erklärung zu wählen. Um auf das Beispiel mit dem Kreidefleck zu Beginn des Kapitels zurückzukommen: Die Hypothese, dass Einbrecher im Haus waren und nichts gestohlen, aber einen Fleck hinterlassen haben, macht eine Annahme, die zur Erklärung der Beobachtung nicht notwendig und daher nur gerechtfertigt ist, wenn sich herausstellt, dass die einfacheren Hypothesen zur Erklärung des Phänomens nicht ausreichen.

Ganz grob zusammengefasst besteht die wissenschaftliche Methode also darin, Theorien zur Erklärung beobachtbarer Phänomene zu formulieren. Als Prüfstein für die Validität einer Theorie dient die Überprüfung von Hypothesen durch Falsifikation der entsprechenden Nullhypothese. Kann die Nullhypothese nicht falsifiziert werden, muss die entsprechende Alternativhypothese (vorerst) verworfen und die Theorie entsprechend modifiziert werden.

Deutsche Sprachgeschichte

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