Читать книгу Handballspiele werden im Kopf entschieden - Stefan König - Страница 10
Оглавление2 DEFINITION UND RELEVANZ VON KOGNITIONEN
Was sind nun Kognitionen oder kognitive Prozesse aus wissenschaftlicher Perspektive genau? Die Verwendung des Begriffs Kognition hat eine lange Tradition, die von Tolman über Hebb und Neisser bis zu Gazzaniga, alle berühmte Wissenschaftler, reicht.
An dieser Stelle wird darauf verzichtet, einen genauen Überblick über die vorhandene Definitionsvielfalt zu geben (z. B. für einen Überblick in der Psychologie, Neisser, 2014; für einen Überblick im Sport, Memmert, 2004a). In Abgrenzung zu rein physiologischen, neuronalen und präkognitiven Vorgängen charakterisieren Roth und Menzel (2001, S. 559) geistige Leistungen durch sechs kognitive Prozesse:
•integrative, häufig multisensorische und auf Erfahrung beruhende Wahrnehmungsprozesse;
•Prozesse, die das Erkennen individueller Ereignisse und das Kategorisieren bzw. Klassifizieren von Objekten, Personen und Geschehnissen beinhalten;
•Prozesse, die bewusst oder unbewusst auf der Grundlage interner Repräsentationen (Modelle, Vorstellungen, Karten, Hypothesen) ablaufen;
•Prozesse, die eine erfahrungsgesteuerte Veränderung von Wahrnehmung beinhalten und deshalb zu veränderlichen Verarbeitungsstrategien führen;
•Prozesse, die Aufmerksamkeit, Erwartungshaltungen und aktives Explorieren der Reizsituation voraussetzen oder beinhalten;
•„mentale Aktivitäten“.
Im Allgemeinen und etwas vereinfacht zusammengefasst, werden Kognitionen als höhere geistige Funktionen und Prozesse definiert, die notwendig sind, um in bestimmten Situationen gezielt adäquate Lösungen in unserer Umwelt zu generieren.
Die Bedeutung von Kognitionen ist im Sport alles andere als abschließend geklärt, vielmehr befindet sie sich derzeit in einer intensiven Diskussion. Diese erstreckt sich auch (und vor allem) in die Psychologie (siehe für einen Überblick Simons et al., 2016; Hambrick, Burgoyne & Oswald, 2019). Die Befunde aus der allgemeinen Psychologie mehren sich aber, dass beispielsweise fluide Intelligenz und Kreativität von verschiedenen elementaren und kognitiven Prozessen (z. B. Inhibition) beeinflusst werden (Benedek, Jauk, Sommer, Arendasy & Neubauer, 2014).
Somit befinden wir uns in einer spannenden Phase, sowohl für die Sportwissenschaft als auch für die Sportpraxis. Während etwa die eine Arbeitsgruppe seit Jahren Daten vorlegt, die zeigen, dass ein Training der Arbeitsgedächtniskapazität in einem positiven Zusammenhang zu verschiedenen kognitiven Leistungen steht (vgl. Klingberg, 2010), konnten diese Zusammenhänge von einer anderen Arbeitsgruppe in einer gewissen Regelmäßigkeit nicht bestätigt werden (vgl. Owen et al., 2010). Im Prinzip geht es immer darum, ob das Training einer elementaren Kognition zu Transfereffekten auf andere domänenspezifische Leistungen führt.
Exekutive Funktionen
Ein aktuelles Mainstreammodell für Kognitionen aus der Psychologie (Alvarez & Emory, 2006), welches auch in der Sportpsychologie hin und wieder als Grundlage von Forschungsprogrammen eingesetzt wird, beschreibt die Steuerung und Regulierung spezifischer kognitiver Prozesse von Menschen. Diese Exekutive Funktionen (EF) regeln zielgerichtetes, zukunftsorientiertes Verhalten (Friedman et al., 2006), also Prozesse wie die Entscheidungsfindung (d. h. Auswahl zwischen mehreren Alternativen).
EF werden weiter unterschieden in „Core EF“ (CEF) und „Higher-Level EF“ (HEF), wobei Erstere durch das Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität und inhibitorische Prozesse charakterisiert sind, während HEF Problemlöse- und Argumentationsstrategien sowie Planungsprozesse involviert (Diamond, 2013).
Diese Kompetenzen entwickeln sich mit dem Alter, da sie auf verschiedene präfrontale Gehirnstrukturen angewiesen sind. Die neuronale Struktur, die den HEFs zugrunde liegt, ist der präfrontale Kortex. Dieser reift nur langsam und als Letzter in der Entwicklung; die volle Kapazität wird hier erst zwischen 20 und 29 Jahren erreicht (Luciana et al, 2005).
Die CEFs hingegen entwickeln sich schon früher im Leben vollumfänglich, meist schon vor der frühen Adoleszenz (Crone et al., 2006). In diesem Buch bilden beide die Grundlage der vorgestellten Modelle und Befunde. Mit den CEFs werden das Arbeitsgedächtnis, das Tracking von Objekten, die Inhibitionsprozesse unter Auslastung der Wahrnehmungskapazitäten und die Flexibilität des Aufmerksamkeitsfensters in Verbindung gebracht, da sich diese früher als die HEFs entwickeln und dadurch ein Schlüsselindikator im frühen Entwicklungsprozess von Spielern sein könnten. Mit dem HEFs werden Antizipation, Spielintelligenz und Spielkreativität thematisiert, die sich (nicht nur, aber) auch in späteren Schulungsphasen gewinnbringend trainieren lassen.
In zwei sportwissenschaftlichen Metaanalysen (Voss et al., 2010; Scharfen & Memmert, 2019a) konnten kleine bis mittlere Effekte von grundlegenden kognitiven Leistungen bei Experten nachgewiesen werden, was auf überlegene (basale) Kognitionen von Eliteathleten hinzudeuten scheint. Einzelne Arbeitsgruppen haben darüber hinaus herausgefunden, dass Sportspielexperten (insbesondere Handballprofis) herausragende basale Kognitionen zu besitzen scheinen (Vestberg et al., 2012; Verburgh et al., 2016).
Es muss aber kritisch darauf hingewiesen werden, dass die Anzahl der Studien noch zu gering ist, die methodische Qualität überschaubar und es auch publizierte und nicht publizierte Studien gibt, die keine Zusammenhänge nachgewiesen haben (vgl. Furley, Schul & Memmert, 2017).
Zuletzt demonstrierte eine Querschnittsstudie von Scharfen und Memmert (2019b) bei hochtalentierten Nachwuchsleistungsfußballern, dass beispielsweise ein großes Aufmerksamkeitsfenster für komplexere motorische Fähigkeiten, wie zum Beispiel Dribbeln, von Vorteil sein kann. Außerdem deutet eine geringere Reduzierung der individuellen Ablenkbarkeit (Perceptual Load) auf eine höhere Geschwindigkeit beim Sprint hin.
Hinzu kommt, dass ein besseres Arbeitsgedächtnis Auswirkungen auf eine präzisere Ballkontrolle und Dribblingfähigkeiten hat. Diese Befunde müssen in naher Zukunft repliziert werden, insbesondere auch in größeren Stichproben.
Ein Überblick über kommerzielle, kognitive Trainingsprogramme und deren Auswirkungen auf den Einsatz im Sport zeigt (Harris, Wilson & Vine, 2018), dass noch viele Fragen offen sind und in Folgestudien geklärt werden müssen. Dennoch sind wir der festen Überzeugung, dass wir in der Praxis beginnen müssen, Kognitionen zu schulen, auch bevor die Wissenschaft alle Fragen von A bis Z beantwortet hat.
An vielen Stellen bedarf es ein wenig Mut, an anderen Stellen wird Demut und Zurückhaltung gefragt sein. Das Dilemma von allgemeiner, domänenunspezifischer Kognition kann vielleicht am besten an der Metapher eines Transportmittels wie des PKWs oder des Flugzeugs verdeutlicht werden.
Einerseits, unabhängig davon, ob das Fahrzeug ein Sportwagen, Traktor oder LKW ist, gilt: Je größer der Motor ist (unspezifisch, da Motoren auch in vielen Geräten Anwendung finden), desto schneller wird man fahren können. Je besser die Technik (auch erst einmal unspezifisch) ist, desto sicherer wird man unterwegs sein usw.
Andererseits haben unterschiedliche Transportmittel auch unterschiedliche Anforderungsprofile. Ein Flugzeug benötigt beispielsweise einen ganz anderen Motor oder auch andere Reifen. Während man in der Raumfahrt- bzw. Automobilindustrie schon genauer weiß, welches Gemisch an Gummimaterialien für Reifen von Flugzeugen oder Autos gut ist (oder für beide), kann dies im komplexen Sport für kognitive Prozesse noch nicht gesagt werden.
Kognitionen in Analogie zu Laktat
Eine gute Ausdauer (abgebildet über das Stoffwechselabbauprodukt Laktat) wirkt einer frühen Ermüdung entgegen, unabhängig davon, welche Sportart (z. B. Handball, Leichtathletik, Kraftsport) man betreibt. Dies zeigt sich unter anderem in einer reduzierten Zeitdauer, die zur Erholung zwischen den Trainingseinheiten oder zwischen den Trainingssätzen notwendig ist.
In einer klassischen Untersuchung von Spencer und Gastin (2001) konnte selbst beim 200-Meter-Sprint, der deutlich unter 30 Sekunden liegt, nachgewiesen werden, dass immer noch eine Beteiligung von knapp 30 Prozent eines aeroben Metabolismus vorliegt. Somit kann Laktat als ein unspezifischer (= unabhängig von der Bewegung/Sportart) Parameter (analog zu unspezifischen Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozessen) für die aerobe Laufleistungsfähigkeit eines Sportlers bezeichnet werden.
Als vor 40 Jahren zum ersten Mal Laktat im Fußball untersucht wurde (Ekblom, 1986), gab es auch große Skeptiker, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis. Heute ist die Laktatdiagnostik ein fester Bestandteil der Trainingssteuerung und deren gezielter und systematischer Einsatz ist im Jugendnachwuchs-Handball sowie im Profihandball nicht mehr wegzudenken.
Übertragen wir das Beispiel des Motors auf das Sportspiel, so kann dies auf der einen Seite bedeuten, dass ein exzellenter Handballspieler von einem breiten Aufmerksamkeitsfokus oder einem großen Arbeitsgedächtnisspeicher profitiert und dadurch — entweder durch einen Talentauswahlprozess oder durch viel Erfahrung in Handballsituationen bzw. beides — einen breiten Aufmerksamkeitsfokus oder ein großes Arbeitsgedächtnis erworben hat und damit in der Lage ist, auch bessere Entscheidungen zu fällen, da er mehr Mit- und Gegenspieler in den Entscheidungsprozess integrieren kann.
Auf der anderen Seite ist es (im Moment noch) auch plausibel, dass exzellente Handballspieler bei Aufmerksamkeits-, Arbeitsgedächtnistests und Leistungen auf dem Platz nur deshalb so gut abschneiden (übrigens auch bei Talentauswahlprozessen), weil sie über andere Talente oder Fähigkeiten verfügen, die alle ihre sportlichen Leistungen in hohem Maße beeinflussen. Beispielsweise könnte dies hoher Ehrgeiz, ein hohes Leistungsmotiv oder eine hohe Anstrengungsbereitschaft sein.
Es ist schwer, abzuschätzen, welche der beiden Positionen in der Zukunft empirisch unterstützt werden. Vielleicht wird, wie so oft im (wissenschaftlichen) Leben, beides seine Berechtigung haben und/oder die „Wahrheit“ in der Mitte liegen. Nicht nur aus diesem Grund empfiehlt es sich an dieser Stelle, mutig und demütig zugleich zu sein und in den nächsten Kapiteln weitere bisherige Befunde aus der Bewegungswissenschaft und Sportpsychologie zu elementaren Kognitionen zu diskutieren. Und: Dies ist gar nicht so wenig.