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Оглавление1 HANDBALLSPIELE WERDEN IM KOPF ENTSCHIEDEN …
Andy Schmid, Uwe Gensheimer und Domagoj Duvnjak gelingt es scheinbar mühelos, in äußerst komplexen Situationen ungewöhnliche, aber auch technisch-taktische Bestlösungen auf das Spielfeld zu „zaubern“. Erfolgreiche Trainer, aber häufig auch Spieler sprechen bei solchen Ausnahmespielern von Gedankenschnelligkeit, „der Kopf ist wichtig“, „sehr schnell im Kopf“, oder „intelligenten Spielern“1. Auch Trainer Nikolaj Jacobsen (Trainer der dänischen Nationalmannschaft) weiß um diese Qualitäten: „Andy Schmid ist unser Denker und Lenker. Er ist sehr wichtig für das Team. Ohne ihn denken wir nicht.“ (https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.schweizer-schmid-ist-weltklasse-der-lionel-messi-des-handballs.1058b099-a753-4396-b557-eb3ab86108c9.html)
Ein gutes Beispiel sind Aussagen in Handballmagazinen, in denen dann von Handlungsschnelligkeit gesprochen wird (siehe Box), und auch in Handballlehrbüchern wird immer wieder betont, dass Handballspiele im Kopf entschieden werden (Wagner, Finkenzeller, Würth & Von Duvillard, 2014; Weigel, 2018). Zudem wird in sportwissenschaftlichen Zeitschriften eine ganze Reihe von Studien beschrieben, welche die besondere Bedeutung der Kopplung von Wahrnehmungsfähigkeiten und Reaktions- bzw. Handlungsschnelligkeit (= „Reactive Agility“) unterstreichen.
Ein körperlicher Vorteil bringt dich im Spiel nicht viel weiter. Wichtiger ist es, im Kopf schnell Entscheidungen zu treffen. (Uwe Gensheimer, Handball-Nationalspieler)
Aber ansonsten gibt es bei den Frauen und Männern verschiedene Spieler, bei denen ich mir einzelne Aspekte als Vorbild nehme und diesen nacheifern will. Das sind so Sachen wie: Entscheidungsverhalten, die richtigen Lücken im Angriff finden. (Emily Bölk, Handball-Nationalspielerin)
Mit jedem Sieg steigt das Selbstvertrauen, das einen in die Lage versetzt, das Spiel selbst zu bestimmen und die taktischen Vorgaben unseres Trainers durchzuziehen. (Finn Lemke, Handball-Nationalspieler)
Definition der Handlungsschnelligkeit (nach Friedrich, 2005, S. 143)
„Besonders in den Sportspielen kommt es darauf an, sporttechnische und taktische Handlungen situationsangemessen und erfolgreich auszuführen. Ausdruck des Niveaus der Handlungsschnelligkeit ist die für die kognitiven Prozesse (geistige Schnelligkeit) und die motorische Lösung der Handlungsaufgabe benötigte Gesamtzeit.“
Allen Termini und Ansätzen gemeinsam ist, dass der Kopf und damit Kognitionen eine fundamentale Rolle im Handball und in anderen Sportspielen zu spielen scheinen (vgl. auch Thienes, 2019).
Im Sport werden die „Problemlöseprozesse“, die notwendig sind, um in bestimmten Situationen gezielt adäquate Lösungen zu generieren, als Kognitionen bezeichnet. Dazu wird in diesem Buch ein Prozessmodell des Ablaufs menschlicher Entscheidungshandlungen vorgestellt. Kognitionen, wie Antizipation, Wahrnehmung, Gedächtnis oder Aufmerksamkeit, werden beschrieben, die zur Kreativität beitragen. Dazu gehört ganz zentral auch die Spielintelligenz – womit generell die Auswahl der besten Entscheidung gemeint ist. Etwas weiter gefasst kann man zu den Kognitionen auch Wille, Stimmungen und Emotionen zählen. Im Training soll es nun darum gehen, all diese Kompetenzen einzeln oder in Kombination zu trainieren und somit im Gedächtnis abrufbar zu machen.
Handball hat in der Sportwissenschaft generell einen hohen Stellenwert. Es gibt zu diesem Thema viele Forschungsergebnisse aus verschiedenen Disziplinen (u. a Biomechanik: Rojas, Gutiérrez-Davila, Ortega, Campos & Párraga, 2012; Händigkeit: Loffing, Sölter, Hagemann & Strauss, 2015; Diagnostik: Raab, Zastrow & Häger, 2008; Kondition: Madou, 2020; Pietro, 2018; Motivation und Drop-out: Sarrazin, Vallerand, Guillet, Pelletier & Cury, 2002; Motorik: Krawczyk, Bodasinski, Bodasinska & Slupczynski, 2018; Psychologie: Kajtna, Vuleta, Pori, Justin & Pori, 2012; Ohlert & Kleinert, 2015; Strykalenko, Shalar, Huzar, Voloshinov, Yuskiv, Silvestrova & Holenko, 2020; Schiedsrichter: Debanne, 2014; Morillo, Reigal, Hernández-Mendo, Montaña & Morales-Sánchez, 2017; Talent: Schorer, Faber, Koopmann, Büsch & Baker, 2020; Schlaf: Jarraya, Jarraya, Chtourou, Souissi & Chamari, 2013; Schorer, Heibült, Wilson & Loffing, 2020; Time-out: Gutiérrez-Aguilar, Montoya-Fernández, Fernández-Romero & Saavedra-García, 2016; Weltstandsanalysen: Lames, Dreckmann & Görsdorf, 2010; Hansen, Sanz-Lopez, Whiteley, Popovic, Ahmed & Cardinale, 2017).
Für das Buch relevant sind vor allem aber die Bereiche Wahrnehmung, Antizipation, Aufmerksamkeit, Kreativität, Spielintelligenz sowie das Arbeitsgedächtnis, wobei nur für die ersten drei Kognitionen eine ausreichende Anzahl von Publikationen vorliegt. Dennoch sind auch aus diesen Arbeiten noch nicht alle wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis transferiert worden.
Das erkennt man daran, dass erstaunt darüber berichtet wird, wenn Rolf Brack Spielformen zur Wahrnehmung und zum situationsangemessenen Entscheiden anleitet, bei denen vier verschiedene Farben (Leibchen der verschiedenen Teams in Bezug auf vier Tore) eine Rolle spielen oder er im Training Denksportaufgaben mit motorischen Antworten verbindet. Das gilt dann schon als revolutionär, dabei ist diesbezüglich noch viel mehr möglich.
In diesem Buch werden zum ersten Mal wissenschaftlich fundierte Aussagen zum Kognitionstraining im Handball gemacht. Dabei werden sowohl inhaltliche als auch methodische, diagnostische und praktische Aspekte aufgearbeitet.
Im ersten Teil des Buchs werden Grundlagen für ein kognitives Training gelegt:
•Was sind die entscheidenden Faktoren, die man schulen kann?
•Welche Modelle stehen bereit?
•Welche Evidenzen gibt es dazu?
Darüber hinaus werden diese Erkenntnisse auch mit der Coachingpraxis verknüpft. Durch ein einziges Wort können Trainer die Aufmerksamkeitsfoki der Spieler variieren. In Situationen, in denen Variabilität und Kreativität gefragt ist, brauchen wir einen möglichst breiten Aufmerksamkeitsfokus. Wenn dagegen Bewegungen und Aktionen zu antizipieren sind bzw. wir auf bestimmte Ereignisse achten müssen, dann hilft uns ein enger Aufmerksamkeitsfokus. Dazu wurden in den letzten 15 Jahren viele Studien durchgeführt und wir wissen auch, welche Rolle das Arbeitsgedächtnis in diesem Zusammenhang spielt.
Die mögliche kognitive Diagnostik wird anhand des zugrunde liegenden Modells im Anschluss in Tests zu elementaren Kognitionen im Labor und Feld unterteilt. Um beispielsweise festzustellen, wie groß der Aufmerksamkeitsfokus eines Spielers ist, kann man im Labor sehr genau dessen Aufmerksamkeitsfenster bestimmen.
In umfangreichen sportwissenschaftlichen Studien mit Spitzensportlern wurden Aufmerksamkeitstests entwickelt, mit denen das Aufmerksamkeitsfenster eines Athleten aufs Genaueste bestimmt werden kann. Darüber hinaus gibt es Diagnostiktools, die man in der Praxis einsetzen kann. Man kann beispielsweise erfassen, wie sich Spieler gegen Störvariablen abschirmen, also auf eine Sache konzentrieren können, wie ausgeprägt verteilte oder selektive Aufmerksamkeit ist und wie gut sich Athleten fokussieren können. Dafür gibt es zahlreiche Testverfahren.
Gleichzeitig gibt es etablierte, spielnahe Sportspieltests im Feld (Halle oder Sportplatz), mit denen man die Kompetenz von Sportlern bei der Suche nach Lücken und das Freilaufen im Raum bewerten kann. Diese bilden ein basistaktisches Fundament und sind nicht nur im Handball, sondern auch in anderen Sportspielen von Bedeutung.
In Kap. 5 werden Schulungsbeispiele in Form von Spiel-, Wettkampf- und Übungsformen für ein kognitives Training vorgestellt. Trainer und Vereine müssen noch mehr dafür sensibilisiert werden, dass Aufmerksamkeit und Kreativität trainiert werden können. Gerade Antizipation, aber auch Wahrnehmung und Aufmerksamkeit können hervorragend geschult werden. Dazu werden zahlreiche Beispiele vorgestellt, die nach dem inhaltlichen Modell des kognitiven Trainings strukturiert sind, welches im nächsten Kapitel beschrieben wird.
1Wenn in diesem Buch von Spieler, Trainer, Athlet oder Lehrer gesprochen wird, dann sind damit natürlich immer beide Geschlechter gemeint.