Читать книгу Sturm über Lich - 2022 - Stefan Koenig - Страница 5

Der, die, das. Wer, wie, was?

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„Also, Sie mit Ihren Ideen! Woher nehmen Sie bloß Ihre ganzen Einfälle?“ Diese Frage höre ich am häufigsten, aber gleich danach kommt diese: „Spielen bei Ihnen immer irgendwelche Monster mit?“ Wenn ich letztere verneine, bin ich mir nie ganz sicher, ob die fragende Person aufatmet oder tief durchschnauft, um mir ihre Enttäuschung nicht ins Gesicht zu brüllen.

Wie Sie bereits wissen – vielleicht aber auch nicht, denn ich kann nicht davon ausgehen, dass Sie all meinen bisherigen Mist gelesen haben – bin ich für einen Licher Verlag tätig, in dem auch mein guter Kollege Benjamin Carl arbeitet. Wir sind inzwischen gute Freunde, und es war Ben, der nach meinem letzten Roman meinte, ich sollte mir Gedanken über die nächste Veröffentlichung machen.

Es mag Ihnen seltsam vorkommen, dass man nur einen Monat nach der Veröffentlichung einer tornadoartigen Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruhen könnte, den nächsten Tatsachenbericht in der Pipeline hat. Doch das liegt nicht am Berichterstatter – es liegt an den tatsächlichen Begebenheiten. Denken Sie bitte daran: Der Ursprung ist die Geschichte, nicht der Erzähler! Ich gehöre auch nicht zu jener Sorte Autoren, die ihre ach so wertvollen Manuskripte ein Jahr lang in der Schublade lassen und gelegentlich herausholen, um sie dann im Café sitzend mit wichtigtuerischer Miene zum x-ten Mal zu lesen, bis sie endlich langsam wie eine Schildkröte ihrer Veröffentlichung entgegenkriechen.

Als ich Ben nach einiger Zeit die ersten hundert Seiten von »Sturm über Lich« zu lesen gab, war er zweifach verblüfft. Einmal, weil einige Seiten auf die Rückseiten von Druckerei-Rechnungen kopiert waren, zum andern, weil das Manuskript nach Bier stank, da meine Liebste zwei Monate zuvor, anlässlich meines Geburtstags, versehentlich eine Maß Weißbier darüber ausgeschüttet hatte. Ich hatte das Manuskript aus ökologischen Gründen getrocknet. Ein Neuausdruck kam nicht in Frage – kein Baum sollte wegen einer umgestoßener Maß Weißbier gefällt werden. Außerdem liebe ich den Geruch von Weißbier auf Manuskriptpapier. So hat jeder seine Vorlieben.

Während der nächsten zwei Wochen las Ben die fertiggestellten Seiten. Er war so etwas wie mein Lektor, und da er ebenso penibel ist wie ich, nahm er sich entsprechend Zeit. Kratz an einem Verlagsmitarbeiter, auch wenn er nur aushilfsweise dort tätig ist, und du entdeckst einen allwissenden Heiligen, der dir jeden Furz hinterherrecherchiert.

Ich hielt mich ein paar Tage in Lich auf, um dort für den Verlag Manuskripte anderer Autoren zu sichten. In unseren Pausen zog ich es vor, mit Ben über die Text-Einreichungen zu diskutieren. Aber diesmal wollte er mit mir nur über mein Manuskript sprechen. Sollte ich wirklich einen Zeitrückgriff machen und nach dem 2023er-Streich jene spezielle Katastrophe von 2022 aufgreifen, obwohl ich sie im ersten Bericht über die »Freie Republik Lich – 2023« nicht erwähnt hatte?

Die Entscheidung fiel an der Ampel oberhalb der Braugasse, Ecke Volksbank, als wir auf die gegenüber liegende Parkseite wechseln wollten. Ben und ich standen dort und warteten auf Grün und sahen junge Mütter, die beim Döner auf der anderen Straßenseite ein schnelles Mittagessen besorgten. Und Ben sagte: „Ich denke, du solltest noch vor Weihnachten damit rauskommen. Denn wenn der Sturm im Januar über uns hereinbricht, ist es zu spät.“

Nun, das gefiel mir und schien logisch. Aber er sagte es widerstrebend, und ich fragte ihn ganz direkt, was denn los sei.

„Wenn du erst ein Buch schreibst über ein Logistikmonster, das nur durch eine aus dem Ruder gelaufene Natur überwältigt werden kann, und anschließend eins über ein neuerliches Desaster, dann wirst du abgestempelt“, sagte er.

„Abgestempelt?“, fragte ich verwundert. Ich sah keine nennenswerte Ähnlichkeit zwischen Monsterspinnen und einem tödlichen Wintersturm. „Abgestempelt als was?“

„Als jemand, der nur Katastrophenstorys schreiben kann“, sagte er noch widerstrebender.

„Oh“, meinte ich erleichtert. „Ist das alles?“

„Warte ein paar Jahre, bis du deinen Ruf weg hast“, sagte er. „Dann wirst du schon sehen.“

„Ben“, sagte ich amüsiert, „meine Leser kennen alle meine Seiten – auch und gerade meine authentischen Zeitreisen. Sie lassen sich nichts vormachen.“

Die Ampel sprang auf Grün. Ben klopfte mir auf die Schulter. „Ich denke, dein neuer Bericht wird gut, aber ich glaube dennoch, dass du manchmal Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kannst.“

Ich machte einen auf beleidigt, denn das kam bei Ben immer gut an. Während wir in unserer Mittagspause durch den Park schlenderten, blieb Ben plötzlich stehen, kratzte sich am Kopf und sagte: „Du hast deinen Lesern damals nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das kommt nicht gut an.“

Ich dachte einen Moment nach, bevor ich ihm antwortete: „Es ist tatsächlich so, dass die vollumfängliche Wahrheit nicht immer verkraftet wird. Weder vom Autor, noch von der Leserschaft.“

„Du meinst also hauptsächlich jene Leute, die du mit deinen Zeitreise-Erlebnissen unterhalten und zugleich von irgendwas überzeugen willst. Denn ob du etwas verkraftest oder nicht, interessiert kein Schwein!“, sagte Ben etwas unwirsch und wenig vornehm.

Er hatte Recht. In der Hauptsache konnte ich meinen Kunden, also der Leserschaft, die unterhalten werden wollte, nicht die ganze Wahrheit zumuten.

Tatsächlich war es so, dass ich – als ich über die Freie Republik Lich des Jahres 2023 berichtete – im Kurzdurchlauf die Jahre 2018 bis 2022 der Geschichte vorangestellt hatte. Natürlich fühle ich mich gegenüber den Leserinnen und Lasern – »Laser«, ein alter, abgestandener Witz von mir, von dem ich mich trotz aller guten Vorsätze noch immer nicht lösen kann – zur reinen Tatsachenberichterstattung verpflichtet.

Aber wie Sie bereits wissen, gibt es Dinge im Universum, die sind einzigartig. Wenn sich jedoch eine Einzigartigkeit an die andere reiht, hegt man gelegentlich den Verdacht, es könnte sich um eine Serie von Ungeheuerlichkeiten handeln – so wie ein Serientäter zuerst als Einmalkiller erscheint und erst mit weiteren Taten zum Serienkiller wird. Verhält es sich so eventuell auch mit den Naturphänomenen, von denen ich Ihnen berichte? Haben wir die Natur zum Serienkiller gemacht?

Ich finde schon. Denn ich wusste sehr genau, was damals im Januar 2022 geschehen war – beziehungsweise was geschehen würde. Doch ich wollte es Ihnen nicht berichten, wollte es Ihnen nicht zumuten.

Und so sagte ich zu Ben, während wir weiter in Richtung der Licher Brauerei schlenderten: „Vielleicht klingt es in den Ohren meiner Leser wie eine billige Ausrede. Autoren sind tatsächlich niemals um Ausreden verlegen – ebenso wie unsere Politiker, Investoren, Kassen- und Privatärzte, Logistikmanager, Kapitalanlage-, Unternehmens- und Steuerberater und …“

„… willst du wirklich die Liste fortsetzen?“, unterbrach mich mein guter Kollege.

„Ist es dir nicht zumutbar?“, fragte ich ihn.

„Es ist echt unzumutbar! Ich fasse es nicht, einfach too much!“, rief er aus.

„Siehst du!“, sagte ich triumphierend. „Genauso wenig wollte ich damals die Leser emotional überfordern. Wir dürfen nicht nur heulen. Wir müssen auch verändern. Und dazu brauchen wir Kraft. Die Kraft der Tränen und des Lachens.“

„Schreibst du wieder über die vergangene Zukunft?“

„So, oder so ähnlich“, sagte ich und ließ Ben im Ungewissen. Wir mussten beide lachen.

Was wir zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht wussten: Im Januar 2022 verging uns das Lachen. Es verging uns gründlich.

Sturm über Lich - 2022

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