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Ein Schneemann im Sommer

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Als erstes fiel mir im Juni 2021 – knapp acht Monate vor dem schrecklichen Januar-Ereignis des Jahres 2022 – jener Schneemann aus Holz auf. Felix hatte ihn zusammen mit seinem Freund Jonas gezimmert. Bernardo, der Vater von Jonas, handwerklich immer am Werkeln, hatte ihnen das Holz beschafft, hatte ihnen Bau-Tipps gegeben, und Lilli, die alleinerziehende Mutter von Felix, hatte schließlich die weiße Farbe besorgt.

Warum sie mitten im Sommer einen Schneemann bauten, hatte ich die beiden sechs- und achtjährigen Jungs gefragt. Der ältere hatte geantwortet: „Schau dich mal um, Stefan! Weil es sowieso kein richtiger Sommer ist!“

Ich hatte mich umgeschaut. Der Himmel war grau und hing voller Regen, der bald niederprasseln würde.

„Und weil wir nicht wollen, dass Schneemänner immer sterben müssen“, hatte Felix ergänzt.

Und weil es im kommenden Winter heftig schneien und stürmen wird und solch ein Holzschneemann vielleicht das Extremwetter überstehen könnte, hätte ich fast hinzugefügt. Aber solche idiotischen Prophezeiungen offenbart man nicht kleinen Jungs, eher seiner Liebsten. Aber Stella, die uns, oben vom Balkon aus, zwar sehen, aber nicht verstehen konnte, hatte keinen Sinn für solch abstrusen Humor. Deshalb blieben meine Gedanken bei mir. Und bei Frau Knauer – doch dazu komme ich gleich.

Schneemänner sollen nicht immer sterben!, wiederholte ich in Gedanken die Worte von Felix. Doch der darauf folgende Gedanke knüpfte urplötzlich an einen alten Nachkriegsfilm aus dem Jahr 1959 an: »Hunde, wollt ihr ewig leben«. Der Titel war eine Anspielung auf ein Zitat von Friedrich dem Großen, der seinen fliehenden Soldaten im Zorn zugerufen hatte: „Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“ (Kriegsherren – heutzutage auch kriegerische Frauen, die keineswegs unschickliche Kriege führen, sondern nur »Verantwortung übernehmen« – kalkulieren seit jeher fest mit dem Todes- und Opferwillen ihrer soldatischen Knechtinnen und Knechte, oder wenn sie es unbedingt in Genderdeutsch haben möchten: Mägdinnen und Mägder.)

Okay, lassen wir das. Sprachverhunzung ist das eine, und Vergangenheit ist Vergangenheit. Aber dieser Holzschneemann hier – das war für mich Zukunft. Alleine deshalb, weil die beiden Jungs ihn gebaut hatten.

Der Schneemann stand bei uns hinten auf dem großen Privatparkplatz (Nur für Mieter, ansonsten werden Sie abgeschleppt! Abgeschleppt!). Nun ja, auch im nahegelegenen Café wurde gelegentlich abgeschleppt – allerdings in gegenseitigem Einverständnis. Felix und Jonas hatten den weißgetünchten Holzschneemann unweit des Wiener Cafés aufgestellt, wobei er den vorübergehenden Cafébesuchern als Wegweiser diente. Die Kids hatten ihm in die linke Holzhand ein Stück Torte (von der Schichtung her musste es Schwarzwälder-Kirsch sein) und in die rechte eine Eiswaffel gesteckt. Ein kindliches Tribut an die Eisdiele vor unserem Wohnhaus und an das Süßmaul-Café hinter dem Parkplatz.

„Ihr solltet euer Werbegeschenk beim Café und bei der Eisdiele bekannt machen, vielleicht gibt es dafür ein kleines Dankeschön“, sagte ich.

„Das haben wir schon bekommen.“ Felix lachte schelmisch.

„Wir waren beide zuerst im Café, wo wir uns beide ein Stück Kuchen aussuchen durften“, sagte Jonas.

„Und am nächsten Tag waren wir in der Eisdiele. Da konnten wir uns zwei Kugeln Eis aussuchen. Ich habe Erdbeer- und Schokoladeneis genommen. Und Jonas suchte sich Himbeere und Maracuja aus“, sprudelte es aus Felix hervor. Wenn der Sechsjährige sprach, überschlug sich manchmal seine Stimme, denn er war bei seinen spielerischen Aktionen immer ein Vollblutakteur. Der zwei Jahre ältere Jonas war etwas zurückhaltender, und so ergänzte sich das Gespann sehr gut.

Lilli kam hinzu und auch Stella kam von oben herunter, um mit mir in das Krimskrams-Lädchen von Alice Knauer zu gehen. Sie wollte sich ein Astrologie-Buch aus der vorvorigen Jahrhundertwende 1800/1900 besorgen. Frau Knauer hatte ihr das in Schweinsleder eingebundene, abgegriffene Exemplar irgendwann einmal empfohlen, als sie über die „Evidenz von Sternzeichen“ schwadroniert hatten. Evidenz von Sternzeichen – Alice Knauers Ausdrucksweise passte sich der akademischem Ausstrahlung ihrer Kauf-Opfer an. Stella war Optikerin.

„Wenn ihr nichts dagegen habt, begleiten wir euch. »Alice und ihr Wunderland« ist für die Jungs fast wie das Horrorhouse im Disney Park“, sagte Lilli und sah uns erwartungsvoll an. Natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir gingen gemeinsam zu Frau Knauers geheimnisvollem Lädchen. Die Jungs freuten sich höllisch. Sie hatten in den letzten Monaten bei jedem Vorübergehen ihre Nasen an der Schaufensterfront plattgedrückt. Jetzt durften sie seit langem wieder einmal hinein.

„Lockdown ist fertig“, wie Felix es ausdrückte.

Frau Knauer hatte ihr Geschäft monatelang wegen Corona geschlossen gehabt. Das Gewerbeamt hatte dafür gesorgt, weil sie ihr abgestandenes Heilwasser auch als antivirale Medizin angeboten hatte. Corona – Sie wissen schon, ein Geschäft, immer ein Verkaufsschlager, irgendwie, von Bezos und Gates über CDU/CSU-Volksvertreter bis eben hin zu Frau Knauer. Und irgendjemand hatte das Gesundheitsamt informiert, das jedoch überfordert war und der Einfachheit halber die Gewerbeaufsicht alarmierte.

„Und die finden immer einen Grund“, hatte Stella gemeint. Ich glaubte damals, dass Stella gelegentlich mit dem Heilwasser und dessen angeblicher Wirkung liebäugelte. Nur ich stand wohl zwischen dem Wasser und ihr. Frau Knauer hätte es ihr wahrscheinlich für viel Geld längst angedreht. Ich bin noch heute der Überzeugung, dass Stella sich hätte überreden lassen, wenn Alice Knauer behauptet hätte, das Heilwasser ersetze die Impfung. Doch bevor ich darüber weiter sinniere, und Sie und mich vielleicht in die Verlegenheit bringe, über Sinn und Zweck der Corona-Impfung zu spekulieren, breche ich die Gedanken, die damals die Welt bewegten, ab.

Frau Knauers offiziell als »Antiquitätengeschäft« ausgewiesener Laden hieß nur „Das Lädchen“. Die Frau war stadtbekannt und komisch. Sie betrieb den vergammelt anmutenden Laden in einer der kleinen versteckten Gassen in der Altstadt. Hier verkaufte sie allerlei kuriose Antiquitäten, ausgestopfte Tiere, selbstgebrauten Wein aus Brennnesseln, versetzt mit angeblichem Propolis, Gläser mit eingelegten Insekten, Knollen und Blättern sowie das erwähnte abgestandene Wasser als Heilmittel.

Man munkelte, sie sei einmal dabei ertappt worden, wie sie mit einem Marmeladenglas einfach das Weihwasser aus dem Weihbecken der katholischen Kirche geschöpft habe. Ungeachtet dessen war ihr großes Vorbild Alice Schwarzer, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.

Viele Licher behaupteten, diese antiquierte Dame mit ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug habe sich den Vornamen selbst verpasst, einfach nur aus Bewunderung für ihre feministische Favoritin. Tatsächlich, so wurde weiter gemunkelt, heiße Frau Knauer eigentlich Cäcilie mit Vornamen und benehme sich aber so, als sei sie die Zwillingsschwester von Schwarzer. Ich hatte keine Ahnung, ich konnte und wollte mich dazu nicht äußern, mich interessierte es erstmal nicht. Aber Tatsache war, dass sie wie Alice Schwarzer aussah.

Erst neulich war sie mir in der Hintergasse begegnet und ich hatte sie etwas murmeln hören, hatte sie wohl verwundert angeschaut und sie war stehen geblieben. „Ja, da wundern Sie sich. Es wird uns alle treffen. Der Schnee wird uns erdrücken! Der Wintersturm fegt uns alle hinweg! Hinweg!“

Puh, das also war meine Information, als ich den Holzschneemann gesehen und mir die idiotische Vorhersage dieser Prophezeiungsextremistin ungewollt ins Bewusstsein gerutscht war.

Nun also betraten wir das Lädchen, hinter dessen Tante-Emma-Theke die Inhaberin stand, ihre Arme sehnlichst nach uns ausgestreckt, behangen mit mehreren bunten Ketten, bekleidet mit dem für sie typischen giftgrünen Hosenanzug. Vermutlich besaß sie ihn gleich in mehrfacher Ausfertigung. Die beiden Jungs schwärmten sofort aus in die hintere Kammer zu den ausgestopften Tieren.

*

Ich denke, Sie alle, verehrte Leserinnen und Leser, kennen den südlich von unserem schönen Lich gelegenen Inheidener Badesee. Der Ort selbst ist durchaus ein unspektakuläres Dorf ohne besondere Vorkommnisse – das kann man gut oder schlecht finden. Doch eine außergewöhnliche Sache, die sich im Umfeld dieses unscheinbaren Örtchens ereignete, sorgt in einschlägigen Kreisen noch heute für Gesprächsstoff. Hierzu ist anzumerken, dass die Angelegenheit nie durch die Presse oder durch andere Medien gegangen war – allein dies ist ein Vorgang, der mich damals stutzig machte. Aber Stopp – ein einziges Presseorgan hatte doch etwas darüber geschrieben. Meiner Erinnerung nach war es die BILD.

Es ist die Geschichte von vier jungen Leuten, die im neuen Logistikzentrum arbeiteten.

Am Rande des Licher Industriegebiets, auf der Langsdorfer Höhe, waren im Sommer 2021 noch nicht allzu viele Mitarbeiter des Logistikzentrums beschäftigt. Der Hauptbetrieb sollte sich noch bis ins kommende Jahr hinein auf dem bisherigen Standort in Kassel abspielen. Erst in einem monatelangen, fließenden Übergang würde das Licher Großzentrum mit Leben und somit mit unvermeidbaren Turbulenzen erfüllt werden.

Sven und Dirk waren Freunde. Dirk war mit seinen fünfundzwanzig Jahren als Disponent bei MyClo eingestellt, nachdem ihm das Medizinstudium eine zu hohe Messlatte gesetzt und er es nach drei Semestern abgebrochen hatte. Im Konzern oblag ihm nun die Zuteilung von Ressourcen und Waren, die Einteilung der Lagermitarbeiter, studentischen Aushilfen und Staplerfahrer.

Seine Freundin Tanja war zwei Jahre jünger und arbeitete in der Buchhaltung – ebenso wie ihre gleichaltrige Freundin Nicole, die seit ihren gemeinsamen Kasseler Tagen Svens feste Freundin war. Alle vier hatten sich gemeinsam von MyClo-Kassel nach MyClo-Lich wegbeworben. Sie wollten hier die Ersten sein. Beim Neuaufbau an vorderster Front dabei sein – für einen zehnprozentigen Gehaltsaufschlag. Es hatte geklappt.

Der siebenundzwanzigjährige Sven war als einer der jüngsten Logistikmanager bei MyClo angestellt. Andere Disponenten, Fahrer, Sachbearbeiter, Lagermitarbeiter, Staplerfahrer, Buchhalter, Qualitätsbeauftragte, Werkstattleiter und weitere Mitarbeiter würden nach und nach aus Kassel dazu kommen. Keine Massenwanderung, nein, aber ein paar unvermeidliche Fachkräfte und ein kleines Heer von einhundert Handlangern auf Niedriglohnbasis. Noch herrschte kein Vollbetrieb, und so wunderte sich Sven, als er beim Einkauf im RUWE-Markt die Leute schimpfen hörte, dass LKW-Staus das Stadtbild rund um Lich beherrschten und die Luft verpesteten.

Ja, gut, es stimmte teilweise – da hatte es in den letzten Wochen vermehrt Staus gegeben; lange Schlangen von umgeleiteten Lastwagenkolonnen waren zu sehen gewesen. Aber das war nicht ihnen, sondern den Unfällen und Baustellen auf der A 5 geschuldet. Vielleicht lag es auch an irgendwelchen anderen Logistikstätten in Mittelhessen, doch Sven wusste genau, dass sein Licher Arbeitsplatz mit keinem einzigen Stau weltweit in Verbindung zu bringen war. Jedenfalls nicht im Moment. Sven war empört.

„Das hat nicht im geringsten mit unserem Logistikzentrum zu tun“, hatte Sven einer Kundin beim Anstehen an der Kasse erklärt. „Ich muss es wissen, ich arbeite da!“ Aber sie hatte ihm nicht geglaubt.

Sven und Nicole hatten oben auf Lichs Anhöhe, nahe der Asklepios-Klinik, ein Appartement angemietet, direkt neben dem von Dirk und Tanja. An jenem Abend saßen sie zusammen und Sven berichtete, was er gerade im RUWE-Markt erlebt hatte.

„Ich kann den Schwachsinn nicht mehr hören“, erregte sich Dirk. „Umweltzerstörung, Naturkatastrophen – alles soll menschengemacht sein? Und für alles sind natürlich wir verantwortlich, die Logistikbranche. Dabei gab es doch schon immer Klimakatastrophen, Stürme, Hochwasser, Dürren. Die Umwelt steht sich einfach oft selbst im Weg. Die Natur spielt von Natur aus verrückt! Ja, wollen denn die Technikfeinde und Öko-Nörgler allein von Luft und Liebe leben – oder brauchen die nicht auch etwas zwischen die Zähne?“

„Reg dich ab, Kumpel“, sagte Sven. „Wir müssen diese Freaks nicht ernst nehmen. Lasst uns den Sommer genießen, so lange er noch warm ist.“ Sven musste über seinen Scherz lachen. Denn von »warm« konnte wahrlich keine Rede sein.

„Ich würde jetzt so gerne mal schwimmen gehen“, sagte Nicole. „Picknick an einem schönen Badesee – aber das Wetter …“

„Das Wetter muss mitspielen“, wandte Tanja ein, und Nicole nickte zustimmend.

In diesem Moment musste sie an Dr. Wüsts Worte denken: „Sie müssen mitspielen!“ Er hatte es mit absoluter Bestimmtheit in der Stimme gesagt. Tanja und ihr war nicht entgangen, dass da dieser unbekannte Mann – er hieß Arturo Groß – anhand eines merkwürdig dünnen Beratervertrags ein merkwürdig hohes monatliches Beraterhonorar kassierte.

Sie schob den Gedanken beiseite. Zu oft hatte sie sich mit ihrer Freundin über diese Personalie unterhalten und was wohl passieren würde, wenn die Sache bei einer Betriebsprüfung vom Finanzamt unter die Lupe genommen würde. Wären sie persönlich vielleicht für solche krummen Dinger haftbar zu machen? Sie hatten sich vorgenommen, die Angelegenheit in der Grabeskammer ihres Kurzzeitgedächtnisses verschwinden zu lassen. Sie waren schließlich nur Buchhalterinnen.

„Ich habe letzte Woche den Inheidener See erkundet; bin eine Runde mit dem Motorrad unterwegs gewesen“, informierte Dirk die Freundesrunde. „Herrlich zum Schwimmen und mehr … da gibt es ein geiles Floß …“ Er lachte vielversprechend. Und alle freuten sich mit ihm.

„Dann also bis zum ersten schönen Sommertag!“, meinte Nicole. „Und jetzt könnten wir zur Abwechslung mal Monopoly spielen.“

Die erste und bis dahin einzige echte Sommerwoche begann am Sonntag, dem 13. Juni und endete pünktlich nach sieben Tagen. Am Dienstag, dem 15. Juni, entschlossen sich die vier Freunde recht spät zu einem Badeausflug. Es waren nur dreizehn Kilometer von Lich bis zum Inheidener See, und weil die Dämmerung im Sommer naturgemäß spät hereinbricht, gab es noch einen guten Rest Tageslicht am Himmel, als sie am See ankamen. Sie waren in Svens Golf gefahren. Sven fuhr schon nüchtern recht schnell. Wenn er getrunken hatte, raste er, als wenn ihm der Teufel im Nacken säße. Und er hatte getrunken.

Er bugsierte den Wagen an den Schlagbaum, der die unberechtigten Fahrer davon abhielt, das Seeufer mit ihren PKW zuzuparken. Sven hatte sich in den vergangenen Tagen über den Segelclub eine Berechtigungskarte besorgt, die er in den Schlitz einschob und die ihnen nun den Weg freimachte. Um diese Zeit war niemand mehr am See, und Sven brauste mit aufgeblendetem Licht den kleinen Asphaltweg entlang, als sei er auf dem Nürburgring.

Kurz hinter dem Segelclub und »Sonjas Wurstbude« fuhr er den Wagen knapp bis an den Uferbereich und sprang hinaus, noch ehe das Gefährt völlig zum Stillstand gekommen war. Ungeduldig streifte er sich das Hemd über den Kopf und trat an den Zaun, um nach dem Floß Ausschau zu halten, das sich irgendwo auf dem See befinden musste. Inzwischen war auch Dirk etwas zögernd ausgestiegen.

Die Fahrt hierher war Dirks Idee gewesen, gewiss; allerdings hatte er nicht erwartet, dass Sven ihn beim Wort nehmen würde. Nun ja, jetzt waren sie hier. Die beiden Mädchen auf dem Rücksitz machten sich zum Aussteigen bereit.

Sven ließ seinen Blick über das Wasser schweifen, von links nach rechts, von rechts nach links. Er hat die Augen eines Scharfschützen, dachte Dirk, und der Gedanke war ihm irgendwie unangenehm.

Schließlich hatte Sven gefunden, was er suchte. „Da ist es!“, schrie er und ließ die Hand auf die Motorhaube des Golf nieder sausen. „Genau wie du gesagt hast, Dirk!“ Er lief auf den Zaun zu und schrie: „Wer als Letzter im Wasser ist, ist ein Feigling!“

„Sven…“ Dirk wollte noch etwas sagen, aber Sven hatte sich bereits über den Zaun des Segelclubs geschwungen und lief am Ufer entlang, ohne sich nach Dirk oder Tanja oder Nicole umzusehen. Er hatte nur noch Augen für das Floß, das in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern im See verankert war.

Dirk warf einen Blick hinter sich, wo die Mädchen saßen. Er hatte das Bedürfnis, sich bei den beiden zu entschuldigen, weil er sie in so etwas reingezogen hatte. Aber die Mädchen sahen Sven nach, sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Dass Nicole seinem Freund Sven hinterherblickte, war ganz in Ordnung, Nicole war schließlich Svens Mädchen, aber auch Tanja sah Sven nach, und Dirk verspürte so etwas wie einen Stich.

Eifersucht.

Er schälte sich aus seinem T-Shirt, legte es neben Svens Hemd und sprang über den Zaun.

„Dirk!“, rief Tanja, aber Dirk hob nur den Arm und machte eine Bewegung im Zwielicht des Sommerabends. Komm‘ schon, sollte das heißen, und Dirk hasste sich ein bisschen für die ungelenke Art, in der er es tat. Tanja war jetzt unschlüssig, ob sie das Ganze nicht abblasen sollte. Die Vorstellung, an einem späten Sommerabend in einem einsamen See herumzuschwimmen, passte so gar nicht in ihren Plan. Eigentlich wollte sie mit Dirk und Sven einen unterhaltsamen Abend in einem der Apartments nahe des Asklepios-Hügels verbringen, das die beiden Pärchen gemietet hatten. Dirk mochte sie, das war ihr klar, aber Sven war stärker als Dirk. Sie war scharf auf Sven. Es war ein verdammt irritierendes Gefühl.

Sven hatte im Laufen seine Jeans geöffnet, und irgendwie schaffte er es weiter zu rennen, während er die Hose über die schlanken Hüften streifte; es war ein Gag, den Dirk nie hinkriegen würde, und wenn er tausend Jahre übte. Sven rannte weiter, er trug jetzt nur noch seine knapp geschnittene Unterhose, das Spiel der Muskeln auf seinem Rücken und auf seinem Gesäß war zu sehen. Dirk kam sich klein und hässlich vor, als er seine Levis gleiten ließ. Was Sven vorführte, war Ballett; was er machte, waren komische Verrenkungen.

Sven sprang ins Wasser. „Kalt!“, prustete er. „Jungfrau Maria, ist das kalt!“

*

Frau Knauer sprach weniger zu mir, als zu den beiden Frauen: „Erst war es der schwarze Frühling und jetzt ist es der kalte Sommer! Und dann kommt das Eis und der Sturm! Sie sollten sich darauf vorbereiten, meine Damen.“

„Und was wird aus meiner Wenigkeit, wenn ich bescheiden fragen darf?“ Ich wollte einfach nur wissen, wie sie auf die Männerwelt zu sprechen war.

„Ihnen biete ich meinen Kräuterlikör an. Zwei Flaschen reichen über die Sturmperiode hinweg“, sagte sie mit fletschenden Zähnen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dann wandte sie sich Stella zu und blätterte das Astrologie-Buch auf. Lilli schaute mit hinein, und obwohl mich solche antiken Bücher außerordentlich interessieren, wollte ich mich nicht aufdrängen. Außerdem rechnete ich damit, dass Stella das Buch sowieso kaufen würde. Also ging ich nach hinten zu den beiden Jungs.

Ich kam an einer Wand vorbei, die mit den unterschiedlichsten Bildern vollgepflastert war. Und dann sah ich das Bild, das auf dem Boden stand, angelehnt an ein Bügelbrett. Ich ging auf die Knie, und mir blieb die Luft weg. Es war ein Aquarell und in technischer Hinsicht sehr professionell gefertigt. Aber das war mir eigentlich egal. Technik interessierte mich nicht – eine Tatsache, die die Rezensenten meiner Bücher gebührend vermerkt hatten. Was mir an Kunstwerken allein zusagte, war der Inhalt. Und je beunruhigender er war, umso besser. Gegensätze, Widersprüche und scheinbar Unerklärbares zogen mich an. Auf dieser Skala lag das Bild weit oben.

Ich kniete zwischen zwei Wäschekörben, die mit einem für Knauers Lädchen typischen Wirrwarr an kleinen Gerätschaften gefüllt waren. Ich fuhr mit den Fingern über die Verglasung und warf einen kurzen Blick in die Runde, ob noch andere faszinierende Bilder mit gleicher Ausstrahlungskraft herumstanden oder an der Wand hingen. Ich konnte kein weiteres entdecken – nur die für Flohmärkte übliche Ansammlung von Kunstgegenständen: altgriechisch anmutende Gipsfiguren aus irgendeiner vergangenen Massenproduktion, Clownsfiguren mit tränenden Augen, Marionetten-Hexen auf Besenstielen reitend und in Gips gegossene Engelköpfe mit abblätternder Goldfarbe.

Ich betrachtete wieder das gerahmte Aquarell und malte mir in Gedanken schon aus, wie ich Stella überreden konnte, das Bild gleich mitzunehmen und bei uns im Flur aufzuhängen.

Es zeigte eine schneebedeckte Straße vor unserer historischen Stadtkirche. Die Bäume auf dem Kirchplatz seitlich der kleinen aber feinen Bäckerei Böhm waren mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Die weißbeladenen Äste hingen weit herunter. Der Himmel über der Kirche und dem benachbarten Stadtturm bestand aus einer Bluterguss-farbenen Masse verschiedener Grün- und Blautöne. Und dann fiel, so schien es mir, Schnee vom Himmel. Ich richtete mich auf und trat einen Schritt zurück. Erst waren es kleine harmlose Flocken, dann aber wurde es ein Schneetreiben und ich sah nichts mehr, hörte nur noch ein Rauschen in meinen Ohren, als würde es stürmen, und dann rief einer der Jungs – ich glaube, es war Felix – nach mir.

„Stefan komm mal her. Wie gruselig …“

Die Jungs standen staunend vor einem ausgestopften Wolf, der sein Maul aufriss und seine Reißzähne zeigte. Dazwischen hing eine ausgestopfte Ratte. Ein Verdacht kroch in mir hoch. „Habt ihr die Ratte dem Wolf ins Maul gesteckt?“, fragte ich und schaute von Felix zu Jonas. Beide kicherten und mein Verdacht bestätigte sich. Einem Fuchs hatten sie den Kopf einer alten Porzellanpuppe – ich glaube, es war sogar eine recht wertvolle Käthe-Kruse-Puppe – zwischen die Zähne geklemmt.

Einem alten Besteckkasten hatten die zwei Lausebengel mehrere Kochlöffel entnommen und sie an ein Zwölfender-Geweih gehängt. In die aufklappbare Puppenstube aus den 1950er-Jahren hatten sie eine verrostete Mausefalle gestellt, die sie unter einem Beistelltisch gefunden hatten. Jungs in diesem Alter neigen zu solchen Streichen in diesen Geschäften, wenn man sie einen Moment aus den Augen lässt.

In einem weiteren Verkaufsraum hatte Frau Knauer einen übergroßen Tisch mit einer Märklin-Eisenbahnanlage aufgebaut. Felix, Jonas und ich standen davor und staunten über die vielen lebensecht gestalteten Miniaturdinge. Auf der Platte waren die Sachen jahreszeitlich arrangiert und reichten vom Frühling über Sommer und Herbst bis zum Winter. Da war ein Berg mit einer Seilbahn, in dessen Sesselliften Skifahrer saßen, zwei Skifahrer hingen absturzgefährdet und hilflos am Sessel in schwindliger Höhe über einem Wald, dessen Tannenbäume wie Stacheln eines Fakir-Brettes den Skifahrern entgegen ragten.

Und dann sah ich im Bereich des sommerlichen Arrangements jener Miniaturanlage einen kleinen Ort, eingeklemmt in einer Schlucht, überflutet von Hochwasser, rundum zerstörte Häuschen, gepflastert mit umgestürzten Bäumen, im Wasser stehenden Lastwagen, Bussen und umhergewirbelten Autos. Menschen lagen herum – auf den Straßen, zwischen den zerstörten Häusern. Sie trieben dahin in einem überschäumenden Fluss. Dann fiel mein Blick woanders hin. Etwas davor, vielleicht ein winziger Zeitabschnitt zuvor, etwa im Frühsommer, erkannte ich plötzlich den romantisch daliegenden, dunkelblauen Badesee mit dem Floß, auf dem ein junger Schwimmer in Badehose stand, während vor ihm auf dem Wasser drei Personen in Bauchposition schwammen, scheinbar tot.

*

Dirk zögerte, aber nur in Gedanken, und in Gedanken dauerte es bei ihm sowieso immer ziemlich lange. Das Wasser hat vielleicht sechzehn Grad. Höchstens achtzehn, dachte er. Immerhin war ein wenig vom abgebrochenen Medizinstudium hängen geblieben. Er kannte sich aus, man konnte bei so etwas wirklich einen Herzschlag bekommen. Aber wie gesagt, er zögerte nur in Gedanken, in der physischen Welt bewies er Mut. Er sprang ins Wasser, und in der Tat blieb sein Herz stehen, zumindest schien es ihm so. Er rang nach Luft und spürte, wie seine Haut im eiskalten See gefühllos wurde. Eine verrückte Idee, jetzt zu schwimmen, dachte er. Und dann: Aber es war deine Idee, »Pancho«!

Dirk hatte die amerikanische Zeichentrickserie aus den Siebzigern – sie hieß »Sancho und Pancho« – auf einer CD seiner Mutter entdeckt und geliebt. Es waren zwei Frösche, die täglich darum bangen, nicht von Vögeln gefressen zu werden. Pancho war der Dummfrosch und Sancho hingegen der großmäulige Klugschwätzer. In der Serie war Pancho dem Klugschwätzer treu ergeben, was dieser oft schamlos ausnutzte. Und so war es im wirklichen Leben der beiden Logistikmitarbeiter.

Pancho machte ein paar kräftige Schwimmstöße auf Sven zu.

Die beiden Mädchen saßen im Wagen und sahen sich an. Tanja grinste. „Wenn die’s können, können wir’s auch“, sagte sie und schälte sich aus ihrem LaCoste-Shirt. Ein durchsichtiger BH kam zum Vorschein. „Wir Frauen haben dafür doch eine Extra-Fettschicht, oder?“

Sie setzte über den Zaun und rannte auf das Wasser zu, im Laufen streifte sie ihre Cordhose ab. Wenig später folgte ihr Nicole, so wie Dirk seinem Vorgesetzten Sven gefolgt war.

Bevor die beiden Paare zum See gefahren waren, hatten sie sich am frühen Abend in Svens und Nicoles Wohnung getroffen. Es war Dienstag, die letzten Arbeiten bei ihrem Logistikhändler MyClo auf dem Gelände des Immobilieninvestors Dr. Wüst waren erledigt. Sven verdiente am besten, und so kam es, dass er der Einladende war. Der Kühlschrank war ausreichend gefüllt gewesen und genug Bier kaltgestellt. Über seine und Nicoles Anlage ließen sie House Music laufen.

Sie hatten etwas getrunken, bis sie in Stimmung kamen, schließlich hatte Sven eine Idee: „Mal sehen, wie es wirkt, jeder nur einen einzigen Minitropfen pro Würfel!“ Er ging zum Süßigkeiten-Schrank und holte ein Fläschchen und vier Würfelzucker hervor. Mit einer Pipette („Nur eine halbe Portion!“, rief er) träufelte er etwas aus der kleinen braunen Flasche auf die Würfel. „Weniger als ein Tropfen, ich schwör!“, rief er enthusiastisch.

„Wirkt es sofort?“, fragte Tanja.

„Das kann über eine Stunde dauern, je nachdem“, antwortete ihr Nicole.

Und dann war das Gespräch auf den komischen Sommer gekommen, der bis zum heutigen Tag noch immer kein richtiger Sommer war. Im Radio war für das kommende Wochenende schwerer Niederschlag im Westen des Landes angesagt worden. Gewissermaßen kühles herbstliches Wetter, zu früh für’s Jahr.

Aber Mittelhessen war nicht der Westen Deutschlands. Es war eindeutig die Mitte unseres Landes – und die Mitte des EU-Europas – und deshalb begehrtes Ansiedlungsobjekt der Logistikbranche: nur 500 Kilometer bis zu den osteuropäischen Staaten, und ebenso viele Kilometer bis in die angrenzenden südlichen, westlichen und nördlichen Länder.

Dirk hatte bezweifelt, dass man mit vier Tagen Vorlauf eine Wetterprognose zu stellen vermochte.

Tanja hatte den Vorschlag gemacht, dass Wetterheinis, die im Sommer Herbstwetter voraussagen, erschossen gehörten, und niemand hatte ihr widersprochen.

Nicole meinte wehmütig, als sie noch Kind war, hätten die Sommer ewig lange gedauert; aber seit sie erwachsen war (»eine zittrige, senile Dreiundzwanzigjährige«, hatte Sven gespottet, und Nicole hatte ihm dafür unter dem Tisch einen Tritt versetzt), seien die Sommer von Jahr zu Jahr kürzer geworden.

„Mir ist es damals so vorgekommen, als wäre ich Tag und Nacht am See in der Nähe meines Elternhauses gewesen, als hätte unsere Clique Tag und Nacht gegrillt und auf der erfrischend feuchten Wiese am Strand des Sees zur gestreamten Musik getanzt“, sagte Nicole. Sie ging zum Kühlschrank, inspizierte sein Inneres, das tatsächlich bis zum Platzen aufgefüllt war, und fand hinter einer Reihe blauer Tupperware-Dosen eine Packung mit Mars-Riegeln. Eine der Tupperware-Dosen ging auf, als sie nach der Mars-Packung griff, und heraus fielen prähistorische Chilischoten, die mit einer unansehnlichen Kruste verziert waren.

Dirk machte sich als Disponent ganz gut, und Sven spielte wirklich gut Fußball, aber weder der eine noch der andere hatten eine Ahnung, wie man einen Haushalt führte. Chilischoten und Lebensmittel-Organisation waren nicht ihr Ding. In klassischer Manier oblag dies den Mädels. Traditionen sind so zäh, so schrecklich zäh, dachte sich Nicole.

Während sie die Mars-Packung aufriss, erzählte sie: „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich das erste Mal bis zu einem Badefloß geschwommen bin. Ich saß dann zwei Stunden auf dem Floß und hatte Angst zurück zu schwimmen.“

Sie hatte sich neben Sven gesetzt, und Sven hatte den Arm um sie gelegt. Sie lächelte, als sie sich an das Abenteuer erinnerte, und Dirk kam auf einmal der Gedanke, dass Nicole aussah wie jemand furchtbar Berühmtes, jedenfalls wie jemand, der einigermaßen berühmt war. Allerdings fiel ihm nicht ein, wer das war. Erst später, unter weniger angenehmen Begleitumständen, sollte er darauf stoßen.

„Mein Bruder musste dann zum Floß schwimmen und mich mit einem Autoschlauch an Land holen. Mann, war der wütend! Und ich hatte auf dem Floß einen Sonnenbrand bekommen, das glaubt ihr nicht.“

„Das Floß – also ein anderes Floß – ist noch da“, sagte Dirk, um etwas zu sagen. Ihm war aufgefallen, dass Tanja schon wieder zu Sven hinübersah. Dirk fand, in der letzten Zeit sah sie Sven etwas zu oft an.

Doch jetzt sah Tanja ihn an. „Wer weiß, ob die Badesaison wegen Corona nicht ausfällt. Vielleicht ist der See gesperrt.“

„Aber das Badefloß ist draußen; ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“, sagte Dirk. „Ich war vor kurzem am See gewesen, und da hab ich’s gesehen. Es sah aus wie …“ Er zuckte die Schultern und fuhr fort: „…wie ein Stück echter Sommer, das sie in der verfickten Coronazeit vergessen haben.“

Er hatte gehofft, dass jemand über die Bemerkung lachen würde, aber den Gefallen taten sie ihm nicht, nicht einmal Sven.

*

An jenem Abend, als die vier jungen Leute unweit unserer Wohnung in ihrem Appartement einen fatalen Entschluss fassten, saßen Stella und ich auf unserem Balkon bei einem Gläschen Rotwein und sprachen über einen neu entfachten Leserbrief-Krieg. Und wieder ging es um das Logistikmonster, wie die Kritiker des Wüst-Imperiums den Klotz auf der Langsdorfer Höhe nannten.

Wie sich einige meiner Leser gewiss erinnern, hatte ich im Mai meinen Thriller »Tod in Lich« veröffentlicht. Aber bitte fragen Sie in keiner Buchhandlung danach; suchen Sie bitte auch nicht im Internet nach diesem Titel; die Auflage ist ausverkauft, und ich werde aus guten Gründen keiner weiteren Auflage zustimmen – ich habe genug mit aktuellen Storys am Hut. Jedenfalls erzählte ich in diesem Thriller die Geschichte des zu billigsten Konditionen hinter dem Rücken – und auf dem finanziellen Rücken! – der Bürger erworbenen Logistikzentrums. Ich erzählte von den furchtbaren Wetterkapriolen, von LKW-Staus und allerlei ökologischen und Gesundheitsschäden.

Dr. Werner Wüst spielte in meinem Thriller den Betreiber jenes Logistikmonsters und hieß Dr. Dietrich Dreist. In meiner Geschichte trug er immer eine schusssichere Weste unter dem schicken tristen Anzug, ich denke Sie erinnern sich. Ich war mir sicher, dass dies genug verfremdet war. Er sah es wohl anders.

Der Chef des Wüstimperiums ließ seine Kettenhunde auf mich los und so schrieb als erstes ein gewisser Landolf Himmler unter dem Kürzel L.H. einen Leserbrief in der Mittelhessischen Allgemeinen:

Oh mein Gott, jetzt haben die Logistik-Verteufler eine neue Bibel. Und dafür mussten, während alle vom Klimawandel reden, Bäume sterben. Ich habe noch nie so einen hanebüchenen Mist gelesen. Man hat das Gefühl die größten Licher Querulanten und Besserwisser standen hinter dem Autor und haben diktiert. Hiermit wird niemandem ein Gefallen getan, dieses Werk ist Hetze der übelsten Machart. Die Licher Normalbürger können es nicht mehr hören und lesen erst recht nicht.

Wo waren denn die Gegner im Mai 2018, als bekannt wurde, dass dieses Logistikzentrum gebaut werden soll? Im Urlaub? Oder chillender Weise auf dem Sofa? Ich könnte hier jetzt noch stundenlang fortfahren und erklären wieso, weshalb und warum dieses Buch nichts taugt, aber damit vergeude ich nur meine kostbare Lebenszeit – genauso wie die Querulanten, die nichts anderes mehr machen als Stimmung … ganz, ganz schlimme Stimmung. Kurzum: Es ist das Buch eines Taugenichts.

L.H., Lich

Um mit Himmlers Worten zu reden, sagte ich zu Stella: „Das ist nun wirklich hanebüchener Mist, aber es ist genau der Verschwörungs-Stoff, aus dem man Romane strickt: Solche Leserbriefe benötigt ein Roman. Widersprüche, Missverständnisse und viele Dummheiten beleben eine Geschichte – ohne das geht es gar nicht. Ich müsste Herrn Himmler aus Dankbarkeit mein handsigniertes, in Gold gebundenes Buch zum Geschenk machen – mit den Worten: Diese Bibel, Herr Himmler, hat der himmlische Vater für Sie verfassen lassen, nur für Sie!

Stella sah es weniger Story-technisch und mehr von der logischen Seite: „Da gibt es also laut L.H. eine ganze Menge chillender Querulanten, die sich mit all ihrer chillenden Kraft zwar gegen ein harmloses Logistikmonster stemmen, aber dann setzen sie sich über alle ihre eigenen Bedenken hinweg und fahren einfach in Urlaub. Währenddessen werden ohne ihr Wissen und ohne ihr Zutun hinter ihrem Rücken Verträge verhandelt – wahrscheinlich kannten die Rathausverantwortlichen die Urlaubspläne von hunderten Licher Protestbürgern. Überhaupt Urlaub! Belastet das die Umwelt nicht völlig unnötig? Und dann, während diese Protestlümmel auf ihrem Sofa chillen und ihren Traumurlaub genießen, diktieren sie stundenlang einem beschränkten Autor den Stoff, aus dem das Leben ist.“

Ich wiederholte murmelnd einen der Vorwürfe, die an mir hängen geblieben waren: „Und dieser Typ lässt Bäume fällen, damit sein Buch die Stadt erschüttert.“ Ich machte eine Gedankenpause und musste mit einem Mal an das Unwetter und die starke Gewitterfront über Lich denken, die uns erst kürzlich heimgesucht hatte. Ich hatte mich vor einem der ersten Unwetter rechtzeitig bei Stellas Nachbarin Lilli, ihrem Sohn Felix und seinem Freund Jonas in Sicherheit bringen können. Stella sah mich prüfend an.

Schließlich sagte ich: „Außerdem habe nicht ich die Bäume gefällt, sondern der Sturm. Und wenn solche Ignoranten wie …“

Stella unterbrach mich. „Bitte nicht vertiefen. Zur Sache, Schätzchen: Ich dachte das Buch ist aus Recyclingpapier.“ Sie sagte es so bestimmt, dass ich unbedingt auf das Recyceln zu sprechen kommen wollte, was sie jedoch gekonnt mit einem einzigen Satz zu verhindern wusste: „Schweif jetzt bitte nicht ab, du chillender Querulanten-Autor.“

„Ich glaube, Herr Himmler hat sich höllisch verschrieben. Wenn er wirklich mich im Blick hatte, dann meinte er wahrscheinlich einen »schillernden Autor«.

„Ja, das kommt eher hin“, sagte Stella und gab mir über den Tisch hinweg einen Kuss. Das liebte ich an ihr. Sie küsst nicht nur gut, sondern auch oft, und jeder Kuss gibt mir eine Vorstellung von der realen Kraft der Liebe – und erinnert mich an die frühen Jahre der Hippie-Zeit, in denen mit dem Schwert der Liebe die Kriegsschwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollten. Hoffnungen, Visionen, Illusionen? Jedenfalls Stoff fürs Überleben, oder?

Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als Stella noch einmal Landolf Himmlers letzten Satz vorlas: „Es ist das Buch eines Taugenichts.“

„Endlich habe ich eine ordentliche Rezension!“, sagte ich.

Wir lachten so laut, dass Isabelle, unsere Nachbarin, aus ihrer Balkontür trat und zu uns herüberschaute. „Darf ich mitlachen?“

„Du darfst“, antwortete ich und bot ihr ein Glas Chianti an. Ich wusste, dass Isabelle nicht nein sagen würde. Sie arbeitet als Krankenschwester in der Licher Klinik – „Schwerstarbeit“ hatte sie mir gesagt – und nach getaner Arbeit ermutigte sie sich jeden Abend mit einem Gläschen Sekt. Sie kommt aus Rumänien, und Sekt war für sie erst hier erschwinglich. Nun also Rotwein statt Sekt.

Ihr Balkon ist direkt an unseren angebaut, aber mit einer halbhohen Schutzwand abgetrennt. Stella und ich rückten unsere Stühle und das Abstelltischchen an die Trennwand, und so konnten wir gemeinsam anstoßen und uns über die Leserbriefschlacht unterhalten. Ich erzählte ihr von Herrn Himmlers himmlischer Theorie und wir lachten gemeinsam. Isabelle holte eine etwas zerfledderte Zeitung aus ihrem Papierkorb und zeigte mir die Leserbriefseite. „Da steht auch etwas über dein Buch. Total positiv. Aber das wirst du ja schon gelesen haben.“

Hatte ich aber nicht.

Sie reichte mir den Ausschnitt rüber und ich las Stella laut vor: Dieser Thriller ist ein fantastisches Fantasieprodukt und stützt sich dennoch auf Tatsachen. Die mögen strittig sein oder auch nicht – in einem Thriller spielt das (wie in der Literatur generell) keine Rolle. Dieser Zeitreise-Roman in die Zukunft ist einfach spitze. Ich habe – wahrscheinlich im Unterschied zu einem anderen Kommentator – das Buch vollständig gelesen und zwar mit Begeisterung. Es war unterhaltsam, mit einer überraschenden Handlung. Es war ein bisschen wie: Man macht die Tüte mit den Chips auf, die man noch nicht kennt, ist begeistert vom Geschmack. Und auch wenn man versucht sich zu zügeln, die Tüte immer wieder kurz schließt und weglegt, macht man sie doch danach gleich wieder auf, bis sie leer ist. Sehr zu empfehlen.

Angela Ludwig, Lich


„Na, wenn da nicht Bestechung im Spiel war. Wie viel hast du der Dame bezahlt?“, fragte Stella.

Ab diesem Punkt drehte sich unser Gespräch um jene Passage, in der unser Ex-Bürgermeister Arturo Groß als bestochener Politiker in meine Geschichte eingegangen war. Stellas Optik-Kollegin Vanessa – mit ihren 35 Jahren fünf Jahre jünger als meine Liebste – hatte ihr eine sehr verständliche Frage gestellt, als die Zwei beim Griechen saßen. Im „Moustaki“ essen die beiden öfter zu Mittag.

„Woher will Stefan denn wissen, dass unser damaliger Bürgermeister in einen Bestechungsskandal verwickelt war?“

„Da solltest du Stefan besser selber fragen“, hatte Stella geantwortet.

„Hat er dir nicht die Hintergründe erzählt? Solch ein Vorwurf ist doch ein ganz schöner Hammer.“

Natürlich hatte Stella alles, was sie von mir wusste, ihrer Kollegin erzählt. Sie hatte tatsächlich die Substanz meiner Argumente recht nachvollziehbar wiedergegeben. Und sie war keine Politologin.

„Das interessiert mich natürlich auch“, sagte unsere Nachbarin. „Wie funktioniert Bestechung in Deutschland und wie erkennt man es?“

„Wie funktioniert es denn in deiner Heimat?“, stellte ich die Gegenfrage.

„Wir in Rumänien sehen es an den großen Autos oder neuen Villen, die unsere kommunalen Könige plötzlich voller Prunksucht vorführen. Sie stellen ihren Reichtum gerne aus. Das finanzieren all jene Unternehmen, die zuvor mit großen Aufträgen zu überteuerten Preisen aus EU-Töpfen beglückt wurden. Subventionen, die von den örtlichen Verfügungsberechtigten nach Gutsherrenart verteilt werden. Und die politischen Verfüger wollen auch etwas davon abhaben, so läuft das eben.“

„Das ist hier bei uns ganz anders“, sagte Stella und schenkte Isabelle und mir Chianti nach. „Oder etwa nicht, Stefan?“

In solchen Angelegenheiten ließ sie mir gerne den Vortritt. Das war mir gar nicht recht, denn damit wurden eigentlich sehr einfache und durchschaubare Sachverhalte ins Reich eines sogenannten Expertenwissens verbannt. Nach dem Motto, »mein Liebster hat Politik studiert – er muss es wissen«. Das ist freilich völlig daneben, denn zur Beurteilung von allgemeinpolitischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen bedarf es keines Spezialisten.

In diesem Sinne tat ich kurz meine Meinung kund, um dann nach Stellas Hinweis, ich möge nicht schon wieder abschweifen, doch noch eine weitere langgestreckte Kurve zu nehmen. Ich nippte am Rotweinglas, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde ohne Pause „durchrattern“, wie Stella es gerne nannte, wenn ich in Fahrt kam. Dann sagte ich: „Eine interessierte und aufgeweckte Bürgerschaft, wie die in Lich, hat ganz ohne elitäre Experten die Strategie des Ex-Bürgermeisters und des Investors erkannt. Sehr gut erkannt!“

„Nämlich?“ Isabelle sah mich erwartungsvoll an.

„Na, dass man möglichst ohne bürgerschaftliche Beteiligung schnell und verwaltungseffizient die Sache durchzuziehen gedachte. Und das ist leider auch geglückt.“

„Und jetzt machen einige wenige Hornochsen wie Herr Himmler den bereits 2018 beteiligten und überaus aufmerksamen Mitbürgern den abstrusen Vorwurf, sie hätten sich ja »rechtzeitiger« für das Projekt interessieren und Einwände erheben können“, ereiferte sich Stella. „Erstens haben sie sich rechtzeitig gewehrt und zu Wort gemeldet – aber die entscheidenden Informationen wurden ihnen absichtlich vorenthalten!“

„Jetzt schweifst du aber ab. Wollte Isabelle eigentlich nicht etwas …“, konnte endlich auch ich einmal einwenden und damit Isabelle und Stella zum Schmunzeln bringen.

„Du hast ja Recht“, sagte Stella. „Isabelle wollte ja nur wissen, woraus du die Sache mit der Bestechung herleitest.“

„Bei uns läuft es anders als in Rumänien.“ So begann ich und schaute bedeutungsschwer in mein Rotweinglas. „Wir sind kulturell viel weiter“, sagte ich endlich und zwinkerte Isabelle zu, und wir mussten schon wieder lachen. „Unsere bundespolitischen Kaiser, Landesfürsten und Kommunalgrafen verstecken ebenso wie unsere Milliardäre, Wirtschaftsbosse und ihre hochbezahlten Manager eher ihren Reichtum, als dass sie damit protzen. Sie wollen keinen Verdacht erwecken und über jeden Verdacht erhaben sein. Doch ab und zu fliegt etwas auf.“

Stella sah mich fragend an. Ich dachte mir schon, dass sie eines jener Beispiele im Kopf hatte, das ich ihr einmal anhand einer regionalen Begebenheit erläutert hatte. „Meinst du die Sache mit Alfons Frank?“

„Es ist ein Paradebeispiel. Ein kleines Beispiel aus einem überschaubar kleinen Kommunalbereich. Ich kannte den Mann persönlich und das machte mir die Erkenntnis über die Sache recht schwer. Man will ja nicht glauben, was geschehen ist und sagt: Nein, das hätte ich ihm nie zugetraut. Er war so erhaben und so höflich und so schrecklich vornehm.“

„Ich glaube, du musst für Isabelle alles der Reihe nach erzählen. Wie soll sie es sonst verstehen!“, meinte Stella.

Ich schilderte die Umstände jenes legalen Bestechungsgeschehens. Der Mann war 25 Jahre lang der sozialautokratische Bürgermeister eines Städtchens gewesen, das ich meine Heimatstadt nenne. Als örtlicher SPD-Chef galt sein Wort wie ein Gesetz. Dann wurde er zu alledem mächtiger Kreistagsvorsitzender, und in all den Jahren seines politischen Wirkens gediehen rundum Betonbauwerke, errichtet von ein und derselben Firma, der Läpp Bau- und Immobilienmanagement AG. Es war die »Abrisszeit« von historischen Bauten, die man durch Bauten aus kaltem Beton ersetzte.

„Der unselige Zeitgeist war damals so“, erläuterte Stella kurz.

„Zu jener Zeit setzte das Dreiparteienkartell aus CDU, SPD und FDP auf den ihnen gemeinsamen Wahlspruch: Wir schaffen das moderne Deutschland!

Stella klopfte auf den kleinen Beistelltisch, sodass unsere Gläser sachte wackelten, und sagte: „Bleib aber bitte beim Erzählstrang!“

Ich fuhr fort: „Jedenfalls bedachte Bürgermeister Frank Das Bauunternehmen von Mal zu Mal mit millionenschweren Aufträgen. Übrigens ohne jegliche – als echt zu bezeichnende – Ausschreibungen. Schulen, Schwimmbäder, Ämter, Straßen; alles was zu bauen war, war für die Läpp AG gewissermaßen vorbestimmt, ein paradiesisches Heimspiel. Alfons schaukelte die Sache.“

Stella stand auf. „Erzähl nur weiter. Ich kenne das ja alles. Ich hole uns was zum Knabbern.“

„Als der Bürgermeister Anfang der 1990er-Jahre aus Altersgründen aus dem Amt schied, genoss er jedoch nicht seine dicke Pension, sondern war auf geheimnisvolle Weise viel unterwegs.“

Stella kam zurück und servierte uns liebevoll drei Schälchen mit unterschiedlichen Inhalten. Eines mit einem Nussmix, ein anderes mit Paprika Chrunchips und ein weiteres mit angeblich in irgendeinem Kessel gerösteten Chips mit »Salt & Vinegar«-Geschmack. Dazu ein Salsa-Dip.

„Danke“, sagte Isabelle. Ich schloss mich ihrem Dankeschön als stadtbekannter Querulant bedenkenlos an: „Danke für den gesunden Snack!“ – und ich griff beherzt zu, denn ich liebe diesen kulinarischen Mist, obgleich er für meine »Scheinschwangerschaft« verantwortlich ist. Doch Ihnen, verehrte Leserschaft gestehe ich, dass mein Herz nicht nur obligatorisch, sondern echt für unsere gesunden grünen Landschaften schlägt – ich esse daraus sogar allerlei Gemüse, seit langem sogar Spinat, mit dem ich als Dreijähriger gerne unsere Esszimmertapete verzierte. Kunst liegt mir im Blut. In diesem Fall auch auf der Zunge.

„Tja, wie ich schon erwähnte, nicht alles bleibt in diesem Leben unter der Decke. Insbesondere, wenn die Gier zu groß wird. Dann rückt der Schwellenwert der Aufdeckung rasant näher. Und so erging es Alfons Frank. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung brachte die ARD-Sendung »Monitor« jenen schicksalhaften Bericht aus dem schicksalhaften Osten unseres Landes.“

Klaus Bednarz moderierte damals die Sendung, als ich plötzlich, wie vom Blitz getroffen, aufschreckte. Ich sah das Bild unseres Ex-Bürgermeisters auf dem Bildschirm aufblitzen. Dann erschien eine hilflos wirkende Bürgermeisterin aus dem sächsischen Beitrittsgebiet, dann ein verzweifelt drein schauender Orts-Chef aus Sachsen-Anhalt und letztlich ein ziemlich erboster Kommunalbeamter aus unserem neu hinzugekommenen thüringischen Nachbarland. Alle hatte das gleiche Schicksal in Form eines »Kommunalberaters« aus dem Westen erwischt.

Der bauernschlaue Ex-Bürgermeister hatte sich bekanntlich um die Firma Läpp verdient gemacht. Nun wusch eine Hand die andere. Das Geschäftsprinzip ist allseits bekannt; und in bescheidenem Maße angewandt wohl auch vertretbar … wenn – wenn die Profitgier nicht über die Belange der Bürgerschaft gestellt wird: über deren Gesundheit, über deren finanziellen Kräfte, über ihre Eigentums-, Erholungs- und kulturellen Bedürfnisse.

Isabelles Tochter kam nach Hause und ich legte eine Erzählpause ein.


*


Inzwischen unweit der Altstadt, unweit unseres nachbarschaftlichen Balkon-Palavers; in der Nähe der Klinik, in Nicoles und Svens Appartement: Es war Neun geworden, ein sommerlicher Spätabend. Dirk hatte darauf gehofft, dass man seine Bemerkung mit einem Lachen quittieren würde, doch er hatte sich getäuscht. Abgesehen davon – was war daran witzig, wenn man sagte: »Das Badefloß ist nicht weggeräumt, es ist noch auf dem See und sieht aus … wie ein Stück echter Sommer, dass sie in der verfickten Coronazeit vergessen haben.«

„Dass sie’s das ganze Jahr über draußen gelassen haben, bedeutet noch nicht, dass sie’s dieses Jahr auch draußen lassen“, sagte Tanja.

„Ich habe mit Claus Pilles darüber gesprochen“, sagte Dirk. Er leerte sein Bier. „Du weißt doch, wer Pilles ist, Sven?“

Sven nickte. „Der Chef des Inheidener Segelclubs. Ein penibler Typ, der seine Mannschaft jedes Jahr zur gleichen Zeit zu Aufräumarbeiten verpflichtet, wie er mir erzählte.“

„Genau“, stimmte Dirk zu, der bei dem Gespräch dabei gewesen war. „Jedenfalls sagte Pilles, dass seine Leute das Floß erst Anfang November ans Ufer holen würden, falls die Angler, denen es gehört, das wieder verpennen. Sind einfach zu faul. Pilles meinte, ihn würd’s nicht wundern, wenn das Floß mal festfriert.“

„Der Sommer ist kalt, aber vom Einfrieren sind wir noch meilenweit entfernt“, sagte Tanja amüsiert.

Dirk verfiel in Schweigen und dachte darüber nach, wie das Floß ausgesehen hatte. Ein Rechteck aus hellem Holz im dunkelblauen Wasser des Sees. Und dann erinnerte er sich an das Geräusch der Tonnen, die unter dem Floß festgezurrt waren, an das lebhafte clunk-clunk, wenn das Wasser an die Fässer schlug. Es war ein leises Geräusch, aber auf dem See war jeder Ton weithin zu hören. Dirk hatte die Tonnen gehört und das Krächzen der Raben auf dem gemähten Feld irgendeines Landwirtes.

„Seit gestern ist Sommer“, sagte Nicole. „Bevor es morgen Herbst wird …“, sie lachte, „… sollten wir heute aufbrechen und die Stunde nutzen.“ Sie spürte, wie Svens Hand über ihre Brüste glitt und stand auf. Sie trat ans Fenster der Wohnung und sah hinaus. „Also der Wetterheini hat wirklich ‘ne Meise.“

„Ich sag euch was“, meldete sich Dirk zu Wort. „Wir fahren jetzt zum Inheidener See, na? Wir schwimmen zum Floß raus, sagen dem Sommer Hallo, und dann schwimmen wir ans Ufer zurück.“

Er sagte das nur, weil er schon ziemlich betrunken war. Er war sicher, dass niemand der Idee Beachtung schenken würde. Aber Sven fuhr drauf ab.

„Einverstanden!“ Er sprach so laut, dass Tanja zusammenzuckte und ihr Bier verschüttete. Aber sie lächelte, und das verunsicherte Dirk nicht wenig. „Das machen wir!“

„Sven, du bist verrückt“, sagte Nicole. Und auch sie lächelte, doch es war ein bisschen Angst in ihrem Lächeln.

„Nein, wirklich, das machen wir“, sagte Sven. Er stand auf und holte eine dünne Abendjacke. Mit einer Mischung von Ärger und Erwartungsfreude betrachtete Dirk die Miene seines Freundes.

Das Grinsen in Svens Mundwinkeln schien ihm verwegen, ja verrückt. Die beiden kannten sich jetzt seit drei Jahren. Sie waren Batman und Robin, Sancho und Pancho. Dirk kannte das Grinsen. Wenn Sven so ein Gesicht machte, dann meinte er es ernst.

„Vergiss es, Sancho, da mach‘ ich nicht mit“ – die Worte lagen ihm auf der Zunge, aber bevor er sie aussprechen konnte, war Tanja, Dirks Freundin, aufgestanden. Auf ihren Lippen spielte das gleiche verwegene Lächeln, das ihm an seinem Freund so missfiel. „Ich bin dafür!“, schrie sie.

„Dann nichts wie hin!“ Sven sah Dirk an. „Was sagst du, Pancho?“

Dirk sah Nicole an und erschrak, in ihren Augen war auf einmal ein Schimmer von Wahnsinn. Was ihn betraf, er hatte nichts dagegen, wenn Sven und Nicole zum Inheidener rausfuhren. Es war zwar keine angenehme Vorstellung, dass die beiden die ganze Nacht lang vögeln würden, aber wenn schon, für ihn war das keine Überraschung. Allerdings war da dieser Ausdruck in ihren Augen, diese Angst …

„Oh, Sancho“, schrie er. Und dann klatschten er und Sven in die Hände, und sie waren aufgebrochen.

Dirk hatte die halbe Entfernung zwischen Ufer und Floß zurückgelegt, als er den komischen schwarzen Fleck auf dem Wasser bemerkte. Der Fleck befand sich seitlich vom Floß, etwas zur Linken, fast in der Mitte des Sees. Fünf Minuten später, und das Licht wäre so schlecht gewesen, dass er ihn für einen Schatten gehalten hätte – falls er ihn überhaupt noch bemerkt hätte. Schlingpflanzen? Verfaulte Seerosenblätter? Eine tote Qualle, eine tote große Qualle?

Er stieß sich vorwärts, irgendwo hinter ihm war das Spritzen der Mädchen zu hören. Aber was hatte eine Qualle im Juni auf einem verlassenen Binnensee zu suchen? Der Fleck war merkwürdig und rund. Und für eine tote Qualle recht groß, zu groß. Wahrscheinlich eineinhalb Meter im Durchmesser.

„Huh!“, hörte er Sven schreien. Dirk sah auf. Sven kletterte gerade die Leiter hoch. Er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. „Wie findest du’s, Pancho?“

„Okay“, schrie er zurück. Er beschleunigte sein Tempo. Die Kälte war wirklich nicht so schlimm, wie er zunächst gedacht hatte. Wenn man erst einmal drin war und sich kräftig bewegte, ließ es sich aushalten. Dirk spürte, wie seine Haut prickelte. Die Pumpe seines Herzens arbeitete jetzt mit voller Leistung, Hitze durchströmte seine Adern. Seine Eltern besaßen ein Haus auf Amrum, dort war das Meer noch im August kälter als hier dieser See im Juni. Er kannte diesen Zustand.

„Wenn du jetzt schon frierst, Pancho, warte nur, bis du aus dem Wasser kommst!“, schrie Sven fröhlich. Er begann zu hüpfen, bis das Floß schwankte, dann schüttelte er sich, und das Wasser perlte ab.

Dirk dachte nicht mehr über den komischen Fleck nach. Erst als seine Hände an die weiß gestrichenen Sprossen der Leiter stießen, fiel sein Blick wieder auf die merkwürdige Erscheinung. Der Fleck war näher gekommen. Er sah jetzt aus wie ein großer Maulwurf, der sich im Spiegel der Wellen bewegte. Als Dirk den Fleck entdeckte, hatte die Entfernung zum Floß etwa zwanzig Meter betragen, jetzt war sie nur noch halb so groß.

Wie war das möglich? Wie …

Dann war er fast aus dem Wasser, auf den Leitersprossen, und der sommerlich-kühle Wind biss seine Haut. Der Schock war noch schlimmer als in dem Moment, in dem er ins Wasser gesprungen war. „Scheiße!“, brüllte Dirk, er schrie und lachte und zitterte in seiner nassen Unterhose.

„Pancho, du Arschloch“, sagte Sven gut gelaunt. Er half ihm aufs Floß. „Kalt genug für deinen Geschmack? Ich wette, jetzt wirst du nüchtern.“

„Ich bin nüchtern! Ich bin nüchtern!“ Er hüpfte auf dem Floß herum, wie er es bei Sven gesehen hatte. Er schlug sich mit den Armen, aber es kam ihm vor, als bewege er sich wie ein Hampelmann, während es bei Sven sportlich ausgesehen hatte. Und dann sahen sich die beiden nach den Mädchen um.

Nicole hatte Tanja überholt. Tanja paddelte wie ein Hund. Wie ein Hund, der von der Natur mit schlechten Instinkten ausgestattet worden war.

„Braucht die Buchhaltungsabteilung der Logistik eventuell logistische Hilfe?“, rief Sven.

„Geh zur Hölle, du Macho!“, schrie Tanja zurück, und Sven brach in Lachen aus.

Dirk sah zur Linken. Der merkwürdige Fleck war auf etwa zehn Meter herangekommen, er schwamm auf dem Wasser. Man hätte ihn für irgendeinen Kanaldeckel halten können, aber da sich die Oberfläche in Wellen brach, konnte er kein Gebilde aus festem Material sein. Eine namenlose Furcht befiel Dirk.

„Ihr müsst schwimmen!“, rief er den Mädchen zu. Er kniete sich auf das Floß, als Nicole die Leiter erreichte. Er half ihr hinauf. Die Bewegung war so heftig, dass sie sich die Knie anstieß.

„Aua! Hey, was …“, stieß Nicole hervor.

Tanja war noch zehn Meter vom Floß entfernt. Das schwarze Gebilde hatte inzwischen die Rückseite des Floßes erreicht. Die Oberfläche war wie glibberiger Schlick, aber Dirk war sicher, es war keine Qualle und kein verfaulter Seerosenstrauß und keine Schlingpflanze, dazu war der Fleck zu schwarz, zu dick, zu glatt.

„Dirk, du hast mir wehgetan! Was soll das denn? Findest du das lus…“

„Tanja! Schwimm!“ Aus seiner Angst war Grauen geworden.

Tanja sah ihn verwundert an. Sie hatte vielleicht nicht mitbekommen, dass er Todesängste ausstand, aber dass es ihm ernst war, dass Eile geboten war, das hatte sie verstanden. Sie paddelte näher.

„Dirk, was hast du?“, fragte Sven.

Dirk beobachtete, wie sich das schwarze Gebilde um die Ecke des Floßes legte. Ein paar Sekunden lang sah es aus wie ein Fabelwesen im TV, das elektronische Bonbons verschlingen will. Dann kroch es am Floß entlang; aus dem Kreis war ein Halbkreis geworden.

„Hilf mir sie raufzuziehen!“, grunzte Dirk, zu Sven gewandt. Er ging in die Knie und streckte die Hand nach Tanja aus. „Schnell!“

Sven reagierte mit einem gutmütigen Schulterzucken. Er ergriff Tanjas freie Hand. Sie zogen das Mädchen aufs Floß, bevor der schwarze Fleck die Leiter erreichte.

„Dirk, bist du verrückt geworden?“ Tanja war außer Atem. Sie hatte Angst. Unter dem nassen BH zeichneten sich ihre harten Brustspitzen ab.

„Das da“, sagte Dirk und deutete ins Wasser. „Was ist das, Sven?“

Sven hatte den Fleck bemerkt. Das Gebilde war an der linken Seite des Floßes angekommen. Es wich zurück und nahm wieder seine runde Form an. Dort war es und schwamm, die vier Menschen auf dem Floß betrachteten es.

„Ein Benzinfleck vermutlich“, sagte Sven.

„Du hast mir das Knie verrenkt“, fauchte Nicole böse und sah zu Dirk. Dann starrte sie auf das schwarze Gebilde im Wasser, dann wanderte ihr Blick wieder zu Dirk. „Du hast …“

„Du selbst hast es dir angestoßen“, sagte Dirk und sah zu dem Fleck.

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

„Das ist kein Benzinfleck“, sagte Dirk. „Habt ihr je solch einen kreisrunden Fleck gesehen? Das Ding sieht eher aus wie ein großer Dame-Stein.“

„Ich hab noch nie einen Benzinfleck auf dem Wasser gesehen“, erklärte Sven. Er sagte es zu Dirk, aber sein Blick war auf Tanja gerichtet. Tanjas Höschen war fast so durchsichtig wie ihr BH. Das Delta ihrer Scham zeichnete sich ab, flankiert von den Halbmonden ihres Hinterns. „Ich bin nicht mal sicher, ob es so was wie einen Benzinfleck überhaupt geben kann. Ich bin aus der Pfalz.“

„Motorboote sind auf dem See nicht zugelassen“, wandte Dirk ein.

„Ich werde eine blaue Stelle kriegen“, sagte Nicole, aber man konnte hören, dass ihr Zorn verraucht war. Sie hatte bemerkt, wie Sven Tanja ansah.

„Gott, ist mir kalt“, sagte Tanja. Sie erschauderte und achtete darauf, dass es hübsch aussah.

„Es wollte sich die Mädchen schnappen“, sagte Dirk.

„Jetzt mach aber einen Punkt, Pancho. Du hast doch gesagt, du bist nüchtern.“

„Es wollte sich die Mädchen schnappen“, wiederholte er stur. „Niemand weiß, dass wir hier sind. Niemand.“ Dirk dachte an das leerstehende Clubhaus des Segelclubs.

„Hast du denn schon mal einen Benzinfleck gesehen, Pancho?“ Sven legte Tanja den Arm um die nackte Schulter; es war dieselbe zerstreute Geste, mit der er in der Wohnung Nicoles Brüste berührt hatte. Tanjas Brüste berührte er nicht, aber hielt die Hand ganz in der Nähe. Dirk sagte sich, es war egal. Nicht egal war ihm der runde schwarze Fleck auf dem Wasser.

„Ich hab vor vier Jahren mal einen Ölfleck gesehen“, erklärte er. „Das war vor Amrum. Wir haben damals die Seevögel aus der Brandung geholt und versucht, sie vom Öl zu befreien.“

„Sehr ökologisch, Pancho!“, lobte Sven. „Mucho ökologisch.“ Dann ging er einen kleinen Schritt von Tanja weg, um den Fleck näher zu betrachten.

„Aber das hat ganz anders ausgesehen“, fuhr Dirk fort. „Es war eine klebrige Masse, die über das ganze Wasser verbreitet war, mit Streifen und Flecken. Es war nicht kompakt wie das da.“

Die Ölpest vor Amrum war ein Zufall, wollte er sagen. Aber dieser Fleck hier ist kein Zufall. Er ist absichtlich da. Doch Dirk schwieg.

„Ich möchte jetzt heim“, sagte Nicole. Immer noch sah sie Sven und Tanja an. Sie war eingeschnappt. Dirk fragte sich, ob sie wohl wusste, wie beleidigt sie aussah. Und ob sie überhaupt wusste, dass sie so aussah.

„Dann verschwinde“, sagte Tanja, und Dirk sah den Triumph in ihren Augen. Es war ein Gefühl, das sich nicht unbedingt gegen Nicole richtete, aber Tanja machte auch keine Anstalten, vor Nicole zu verbergen, was sie empfand.

Tanja machte einen Schritt auf Sven zu; die beiden waren jetzt nur noch eine Handbreit voneinander entfernt. Und dann berührten sich ihre Hüften.

Dirk löste den Blick von dem schwarzen Fleck, um Tanja anzusehen. Er empfand jetzt Hass auf dieses Mädchen. Noch nie hatte er eine Frau geschlagen, aber in diesem Augenblick hätte er nur zu gern auf Tanja eingeschlagen. Nicht etwa, weil er sie hundertprozentig liebte. Er hatte sich nur ein bisschen in sie verliebt, nicht mehr. Und geil war er auf sie, gar nicht so knapp, jawohl, und er war auch eifersüchtig gewesen, als sie Sven im Apartment schöne Augen gemacht hatte, oh ja, aber wenn er sie wirklich liebte, dann hätte er sie mindestens fünfzehn Kilometer von Sven entfernt gehalten. Aber er verstand Nicoles Gesichtsausdruck; er wusste genau, wie sich der Ausdruck auf Nicoles Gesicht von innen anfühlte.

„Ich habe Angst“, sagte Nicole.

„Vor einem unbedeutenden Fleck?“, fragte Tanja ungläubig und deutete zu den Enten, die in einiger Entfernung das Weite suchten. Sie lachte. Und wieder überkam Dirk der schier unbezähmbare Drang, auf sie einzuschlagen, ihr eine saftige Ohrfeige zu geben, so dass der hochmütige Ausdruck aus ihrem Gesicht einem blauen Fleck von der Größe seiner Hand Platz machen würde.

„Dann wollen wir mal sehen, wie du zurückschwimmst“, sagte Dirk zu ihr.

Sie sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. „Ich möchte noch auf dem Floß bleiben.“ Sie sprach, als müsste sie einem Kind etwas erklären. Sie sah zum Himmel auf, dann blieb ihr Blick auf Sven haften. „Ich möchte die Sterne herauskommen sehen.“

Nicole war ein hübsches Mädchen, aber sie hatte auch etwas, das Dirk an einen Gassenjungen erinnerte. Sie wirkte unsicher, und Dirk musste an die Kasseler Mädchen denken, wie sie morgens zur Arbeit ins Logistikzentrum hasteten, in ihren geschlitzten Röcken, der Schlitz konnte vorne oder auf der Seite sein, und allen stand diese neurotische Schönheit ins Gesicht geschrieben. Nicoles Augen sprühten, wann immer man sie ansah, aber es war schwer zu sagen, ob das gute Laune oder Angst war.

Nicole war klein, und Sven mochte nur großgewachsene Mädchen, Mädchen mit dunklem Haar und Schlafzimmeraugen. Dirk wusste, wenn Sven und Nicole eine ernsthafte Liebe verbunden hatte, dann war sie jetzt vorbei. Wenn da überhaupt etwas gewesen war, dann hatte sich Sven sehr langweilig angestellt; von Nicoles Seite war es sicher sehr ernsthaft, tief empfunden und kompliziert gewesen, vor allem sehr schmerzhaft. Aber es war vorbei, da hatte Dirk keinen Zweifel, die Sache war eben in diesem Augenblick zu Ende gegangen; fast war es Dirk, als hätte er einen Stab zerbrechen gehört.

Dirk war von der scheuen Art, aber jetzt trat er zu Nicole und legte den Arm um sie. Sie sah ihn kurz an. Sie wirkte unglücklich, aber doch irgendwie dankbar für die Geste. Dirk war erleichtert, dass es ihm gelungen war, ihr eine kleine Freude zu machen. Und dann kehrte der Gedanke zurück, dass sie jemandem ähnlich war. Ihr Gesicht, ihre Augen …

Zuerst dachte er an die Schauspielerinnen, die er bei TV-Shows gesehen hatte, an die Mädels, die in Werbespots Kekse oder Waffeln anboten oder anderes Zeug. Schließlich fiel es ihm ein: sie sah aus wie Nicollette Sheridan, die bei Desperate Housewives die Rolle der Edie Britt spielte.

„Was ist das für ein Gebilde?“ fragte sie. „Dirk, was ist das?“

„Ich weiß es nicht.“ Dirk spürte Svens Blick auf sich ruhen, Vertrautheit lag darin, aber auch Verachtung. Wahrscheinlich war sich Sven gar nicht bewusst, dass er Dirk verachtete. Der Blick bedeutete: »Dirk, unser Angsthase vom Dienst, pisst sich wieder mal in die Windeln«.

Dirk fühlte sich versucht, seiner Antwort auf Nicoles Frage eine beruhigende Floskel hinzuzufügen: »Wahrscheinlich ist es gar nichts. Mach dir keine Sorgen, gleich ist es verschwunden«. Etwas in der Art. Aber er sagte nichts dergleichen. Sollte Sven ruhig grinsen. Der schwarze Fleck auf dem Wasser machte ihm Angst, das war die Wahrheit.

Nicole ließ Dirk stehen und kniete sich anmutig an den Rand des Floßes, um das Gebilde aus der Nähe zu betrachten. Der Anblick löste in Dirk die Erinnerung an die Frau in Desperate Housewives aus, nur dass Nicole viel jünger war. Ihr kurzes blondes Haar ließ den wohlgeformten Schädel klar erkennen. Er sah die Gänsehaut zwischen ihren Schulterblättern, oberhalb der weißen Bänder, mit denen ihr BH zugeschnürt war.

„Fall nicht rein“, sagte Tanja mit unverhohlenem Spott.

„Lass sie in Ruhe“, erwiderte Sven, immer noch grinsend.

Dirk sah zum Land hinüber, aber da stand niemand bereit, um Hilfe zu leisten, falls sie Hilfe benötigten. Einsam lag dort das DLRG-Bootshaus.

Zwischenbemerkung für meine Leserschaft: Was Dirk nicht sehen konnte, was aber wir hätten sehen können, wenn wir als Haubentaucher mit menschlichem Aufmerksamkeitsbewusstsein über das Gelände geflogen wären – wir hätten eine namenlose dunkle Gestalt wahrgenommen, eine Gestalt mit schwarzer Mund-Nasen-Maske und mit einem tief ins Gesicht gezogenen schwarzen Hut. Und wenn wir das Gehör eines Haubentauchers hätten, würden wir das Gemurmel der dunklen Gestalt verstehen: „Buchhaltung muss verschwiegen sein!“

Dirk betrachtete die beiden, Tanja und Sven, die in der Mitte des Floßes standen, er sah, wie sich ihre Hüften berührten. Sein Blick wanderte zurück zu Nicole. Ein Schreck durchzuckte ihn, als er den schwarzen Fleck gewahrte, der sich auf das Floß zubewegte. Vor Sekunden noch war das Gebilde einen oder zwei Meter weiter weg gewesen. Und er sah den leeren Ausdruck in Nicoles Augen, der auf seltsame Weise der Ausstrahlung des schwarzen Flecks ähnelte.

Dirks Puls ging schneller, ganz ähnlich wie vor einigen Minuten, als er in das kalte Wasser gesprungen war. Er schrie: „Geh da weg, Nicole!“

Was dann geschah, geschah sehr schnell, und doch nahm Dirk jede Einzelheit mit einer Klarheit wahr, die ihm diabolisch anmutete.

Tanja lachte. Auf dem Außenbereich vor der MyClo-Kantine, an einem schönen sonnigen Tag, hätte sich das wahrscheinlich angehört wie das lockere Lachen irgendeiner Mitarbeiterin in der Mittagspause. Aber hier, in der Düsternis, die von Minute zu Minute zunahm, war es wie das Kichern einer Hexe, die einen Zaubertrank zubereitete.

„Nicole, es ist vielleicht besser, wenn du jetzt …“ Es war Sven, der das sagte, aber sie unterbrach ihn, zum ersten und zum letzten Mal in ihrem Leben.

„Es hat Farben!“, schrie sie. Sie starrte fassungslos in die Schwärze hinab, und für den Bruchteil einer Sekunde schien es Dirk, als könnte auch er dort Farben entdecken, bunte, einwärts drehende Spiralen. Dann zerfloss das Bild, der Fleck wurde wieder schwarz. „So wunderschöne Farben!“

„Nicole!“

Nicole streckte ihre weiße Hand nach dem Fleck aus, marmor-weiß war ihre Haut; Dirk sah, dass sie an den Nägeln gekaut hatte.

„Nic…“

Das Floß geriet ins Schwanken, als Sven an den Rand trat, um Nicole zurückzuhalten. Auch Dirk streckte die Hand nach ihr aus, er wollte nicht, dass Sven ihm zuvorkam.

Dann berührte Nicole den Wasserspiegel mit dem Finger; ein Ring entstand, der sich schnell ausbreitete. Dirk sah, wie der schwarze Fleck an ihrer Hand hoch kroch. Er hörte ihr Stöhnen. Die Leere wich aus ihrem Blick. Das Entsetzen trat in ihre Augen. Todesangst.

Die klebrige schwarze Substanz kroch an ihrem Arm hoch und in das Fleisch der Muskeln hinein. Dirk sah, wie die Haut sich auflöste. Nicole stieß einen Schrei aus. Er bemerkte, wie sie die Balance verlor. Sie streckte die Hand nach ihm aus, ihre Finger berührten sich. Ihre Blicke trafen sich, Nicole sah Nicolette Sheridan in diesem Moment verteufelt ähnlich. Taumelnd, mit den Armen rudernd, fiel sie ins aufspritzende Wasser.

Die schwarze Substanz floss über der Stelle zusammen, wo sie hineingefallen war.

„Was ist los?“ Das war Tanja. „Was ist los? Ist sie ins Wasser gefallen? Wie konnte das denn passieren?“

Dirk machte Anstalten, ins Wasser zu springen und nach Nicole zu tauchen. Sven hielt ihn zurück. „Nicht“, sagte er. In seiner Stimme klang die Angst durch. Das war nicht mehr der Sven, den Dirk kannte.

Zu dritt sahen sie, wie Nicole wieder an die Oberfläche kam. Sie schwenkte ihre Arme – nein, nur einen Arm. Der andere war mit einer gespenstischen Membrane bedeckt, die an manchen Stellen den Blick auf blutige Sehnen freigab, auf Fleisch, das Dirk an frisches Roastbeef erinnerte.

„Hilfe!“, schrie Nicole. Ihre Augen waren wie Laternen, die in der Dunkelheit geschwenkt wurden. Unter den Schlägen ihrer Hand schäumte das Wasser. „Hilfe, es tut so weh, Hilfe, es tut weh, helft mir doch, es tut weh, es tut so weeeeh …“

Dirk war hingefallen, als Sven ihm einen Stoß versetzte. Jetzt stand er auf und wankte an den Rand des Floßes. Die Stimme … ihre Stimme … Er wollte ins Wasser springen, aber Sven umfing ihn mit beiden Armen.

„Sie ist tot“, flüsterte er. „Verdammt noch mal, Pancho, siehst du denn nicht, dass sie so gut wie tot ist?“

Jäh überzog sich Nicoles Gesicht mit Schwärze, ihre Schreie wurden gedämpft, und dann brachen sie ganz ab, von einer Sekunde auf die andere. Die schwarze Substanz begann das Mädchen einzuweben wie eine Spinne, die ihre Beute mit Fäden überzieht.

Dirk sah, wie die Schlieren, ätzender Säure gleich, in ihre Haut eindrangen, er sah, wie ihre Halsschlagader aufbrach; eine Fontäne dunklen Blutes schoss hervor, aber die schwarze Masse war schneller, sie ummantelte den Blutstrahl mit einer Hülle und holte ihn in den Körper zurück. Dirk traute seinen Augen nicht, er verstand nicht, was da vorging, aber eines wusste er, es war Wirklichkeit, es war kein Traum, es war keine Halluzination.

*


Isabelles zwanzigjährige Tochter Helena kam tänzelnd auf den Balkon hinzu. Sie hatte eine lockere Art, war mit einer natürlichen Schönheit beglückt und trug ihr mittelblondes Haar heute schulterlang und offen. Manchmal machte sie sich einen Pferdeschanz oder steckte es hoch.

„Na ihr? Wieder mal am Lästern über Nachbarn?“

Ihre Mutter lachte und sagte: „Klar doch, das ist unser Hobby.“

„Und wer muss heute daran glauben?“

„Niemand, den du kennst“, antwortete ich ihr. „Und überhaupt: wir stänkern gegen niemanden. Ich erzähle nur eine Begebenheit, die sich vor dreißig Jahren zutrug – etwas, was seitdem unzählige Male passierte und noch weiter passiert.“

„Also nichts Besonderes.“ Sie schaute auf die Rotweinflasche. „Ein Italiener?“

„Ja, magst du ein Gläschen?“ Stella hielt ihr ein Rotweinglas hin und Helena nickte freudig. Stella goss ihr ein Glas Chianti ein. Ich fasste für Helena die Geschichte kurz zusammen: Nun also hatte die Läpp AG ihren ehemaligen »Auftraggeber« Alfons Frank auf Verkaufstour geschickt, geschickt getarnt als »Kommunalberater«. Er sollte mit seinem nachweisbaren Renommee als erfahrener Westbürgermeister und Kreistagsvorsitzender Landkreise und Kommunen in den ostdeutschen Beitrittsgebieten von der Notwendigkeit einer neuen Kanalisation überzeugen – ein wirklicher Schwachpunkt in der damaligen DDR.

„Na, so was aber auch!“, rief Stella aus. „Das ist noch heute ein saftiger Schwachpunkt bei uns im Westen – marode Abwasser- und Trinkwasserrohre!“

„Ist aber jetzt nicht das Thema“, sagte ich lächelnd und drückte damit unterschwellig aus, was Stella mir zu Recht gerne vorhielt: „Nicht abschweifen, bitte!“

Damals, im Osten, gab es nun eine Abmachung zwischen den unerfahrenen Bürgermeistern-Ost und einem gewitzten Baulöwen-West. Und es gab einen Beratervertrag zwischen jenem Baulöwen und seinem »Beratungsexperten«– seit wann der Beratervertrag existierte, kam nie heraus; man munkelte, dass schon zu Zeiten von Herrn Franks Amtsperiode etwas in der Pipeline war. Doch das Steuergeheimnis bewahrte die Herren vor der Offenlegung. Tatsache war laut Monitor jedenfalls, dass den im Osten unkundigen kommunalen Entscheidungsträgern von Alfons Frank ein sauteures, alle Proportionen sprengendes Abwassersystem angeraten wurde. Der Bund und die bundeseigene Förderbank bürgten für die Zahlung.

Also wurden die übergroßen Rohre bestellt und verlegt. Und dann, als die Scheiße durch die Kanalisation gespült werden sollte, blieb sie stecken und verstopfte alles. Kein einziger der überproportionierten Kanäle funktionierte. Konnte auch gar nicht. Denn wenn der Durchmesser des Abflussrohres zu groß und den mäßigen Gegebenheiten kleiner Gemeinden nicht angepasst ist, fehlt es an Durchflussgeschwindigkeit – dann eben bleibt die ganze Scheiße hängen.

„Das begreift doch jeder Achtklässler!“, rief Helena aus.

„Gewiss“, sagte ich, „aber völlig neu gewählte, falsch beratene Volksvertreter haben sich damals nun mal auf jene angeblich erfahrenen Koryphäen aus dem goldenen Westen verlassen.“

„Und damit waren sie verlassen!“, ergänzte Stella.

„Warum waren sie verlassen?“, fragte Isabelle. „Die konnten doch den Berater und die Baufirma in Haftung nehmen.“

Stella und ich mussten mühsam unser Lächeln unterbinden, es hätte elitär und etwas herablassend gewirkt, obwohl wir nicht im Entferntesten so dachten. „Leider gab es nach hiesiger Rechtsauffassung keinen Schuldigen, jedenfalls keinen, der dafür materiell geradestehen musste“, stellte ich klar.

„Aber der Berater hat doch völlig falsch beraten!“, sagte Isabelle.

Ich nickte zustimmend und sagte: „Sicher doch, aber er hat ja nur beraten und nicht die Entscheidung getroffen. Die Kaufentscheidung mag zwar aufgrund seiner falschen Expertise gefallen sein, aber allein das kann schon zum strittigen Punkt gemacht werden. Ausschlaggebend ist jedoch, dass allein die Auftraggeber, die letztendlich die Entscheidung getroffen haben, für das Resultat ihrer Entscheidung juristisch geradestehen müssen. Hinzu kommt, dass der Beratungsvertrag zwischen dem Läpp-Berater Frank und den Kommunen so ausgetüfftelt war, dass auf den Berater – egal was komme – keine Regresspflicht zukam.“

„Und die Läpp AG?“, fragte Helena. „Sie hat doch wissen müssen, dass die gelieferten Rohre mit ihren überdimensionierten Durchmessern völlig untauglich sind.“

„Läpp war – juristisch gesehen – völlig außen vor. Denn im Kaufvertrag war geregelt, dass die kommunalen Auftraggeber auf eigene Verantwortung bestellen und dass für die funktionalen Voruntersuchungen alleine die Kommunen zuständig sind. Kurzum: den schwarzen Peter hatten die verarschten Kommunen.“

„Die Ärmsten. Ich hätte an deren Stelle dennoch geklagt“, sagte Isabelle.

„Natürlich haben die das versucht – und genau deshalb kam ja heraus, dass dieser Ex-Bürgermeister, der ein Vierteljahrhundert lang die Läpp AG bevorteilt hat, für diesen Immobilienhai und Baulöwen als »Berater« tätig war. Das heimliche Honorargeschäft wäre ansonsten niemals aufgeflogen.“

Als ich das erzählte, überkam mich wieder mal die kalte Wut und ich ergänzte: „Offensichtlich ist es in den Augen dieser korrupten Bande nicht mehr als recht, wenn ein Ex-Bürgermeister zu seinem schmalen Pensionssalär von rund 55.000 Eiern noch einmal ein sattes Beraterhonorar in hunderttausender Höhe kassiert.“

„Zu alledem kam der Zig-Millionen-Schaden, den die staatliche Investitionsbank hatte und der somit von uns allen getragen wurde. Die verpulverten zig Millionen wären weiß Gott im Bildungs- und Gesundheitssystem besser angelegt gewesen“, meinte Stella.

Und ich fügte hinzu: „Besonders ärgerlich ist, dass die ehemaligen Staatsbeamten für den angerichteten Schaden noch nicht einmal einen Cent von ihrer viel zu üppigen Pension abgestrichen bekommen. Sie leben weiter in Saus und Braus …“

„… wenn sie nicht gestorben sind“, sagte Stella. Und das war fast ein völlig realistischer Abschluss.

„Gab es dazu denn nicht einen heimischen Untersuchungsausschuss im Stadtparlament“, fragte Isabelle.

„Doch, den gab es!“, antwortete ich. „Der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler, der Arzt Stephan Güntel, hatte ihn bewirkt. Aber der Ausschuss konnte nichts ausrichten, konnte rein gar nichts erarbeiten, denn – es ist kaum zu glauben …“

Ich schnaufte durch und brauchte keinerlei Kunstpause einzulegen, um die Geschichte ihrem Höhepunkt zustreben zu lassen. Ich musste echt selbst erst einmal meinen Wuthöhepunkt überwinden, bevor ich abschloss: „… denn sämtliche Rathaus-Akten zur Firma Läpp AG waren verschwunden, rechtswidrig beiseite geschafft. Der Bürgermeister war aus dem Amt verschwunden und mit ihm sämtliche relevanten Akten.“

„Er hat sich eben ein Vorbild am großen Saumagen-Kanzler genommen. Auch Helmut Kohl hinterließ leere Aktenregale, obwohl ihm dies das Dienstgesetz streng untersagte“, legte Stella halblaut nach.

Ich dachte an Kohls Ehrenwort und all die miesen Geldtransfers hinter dem Rücken des Bundestages. Was war aus der geleisteten Eidesformel geworden, nach bestem Wissen und Gewissen zu unser aller Wohle zu arbeiten? Puh.

„Kohl war nicht der Mann, von dem wir anfangs gesprochen haben“ wandte Stella berechtigter Weise ein. „Der Mann, der uns interessiert, heißt Arturo Groß.“

„Was ich mit dem Beispiel dieses anderen Bürgermeisters sagen wollte, ist folgendes: Nur das Finanzamt und vielleicht noch die zuständige Registratur für beamtenrechtlich zu meldende Zweiteinkommen – vielleicht sogar die Landrätin – können wissen, ob hinter dem Rücken der Öffentlichkeit Beraterverträge existieren. Und nur durch Zufälle oder durch Gerichtsverfahren fliegt manchmal etwas auf. Und dann staunen die Bürger und einige sagen: Hätte ich das nur gewusst!“

Genauso hatte ich damals reagiert und zu meinem Schwager, der schon immer misstrauisch gewesen war, gesagt: „Das hätte ich niemals vermutet. Hätte ich das nur gewusst!“

„Dabei gibt es fast immer eindeutige Hinweise, wenn auch noch keine Beweise“, sagte Stella. „Aber wer ein heiß umstrittenes Zig-Millionen-Projekt für einen Unternehmer gegen die eigene Bürgerschaft durchboxt, wer sodann auf eine Amtsperiode freiwillig verzichtet, der wird, bevor er vor dem Nichts steht, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von dem Unternehmen, dem er gefällig war, nach allen Kräften unterstützt.“

Ich möchte Sie, verehrte Leserinnen und Leser, nicht unbedingt mit weiteren Korruptionsaffären langweilen – Sie ahnen schon, wie alles läuft: Nur Isabellas abschließenden Kommentar möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie sagte: „Mein gutes korruptes Rumänien und meine neue deutsche Heimat – die einen machen’s offen, die anderen geschickt verdeckt.“

Und ihre Tochter Helena ergänzte: „Aber Rumänien ist bereit, von Deutschland zu lernen, oder?“


*

„Es will unter das Floß kriechen“, sagte Sven grimmig. „Kannst du mir erklären, was die Scheiße soll, Pancho?“

Dirk inspizierte das Ding mit aller Sorgfalt. Es nagte an der Längskante des Floßes. Es hatte die Form einer durchgeschnittenen Pizza angenommen und schien dicker zu werden.

Tanja stand da und schrie. Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Augen, wieder und wieder, und die Geste erinnerte Dirk an eine Stummfilmheldin. Er wollte ihr das gerade sagen, als er feststellte, dass er keinen Laut hervorbringen konnte.

Dirk wandte sich wieder Nicole zu. Immer noch kämpfte das Mädchen um sein Leben, wenn man das noch Leben nennen konnte – aber ihre Bewegungen waren sehr langsam geworden. Nicole war jetzt eingehüllt von einer dicken schwarzen Schicht. Das Wesen ist größer geworden, dachte Dirk. Mein Gott, es ist größer geworden. Und es hat Muskeln.

Er sah, wie sie mit der Hand nach dem Wesen schlug, doch ihre Finger blieben kleben wie die Flügel einer Fliege, die ans Fliegenpapier geraten ist. Er sah, wie ihre Hand zerschmolz. Ihre Gestalt war noch zu erkennen, umgeben von einem klebrigen schwarzen Mantel; die Gestalt bewegte sich nicht mehr, sie wurde bewegt; etwas Glänzendes, etwas Weißes erschien, Knochen, dachte er, und dann kniete er am Rande des Floßes und spie ins Wasser.

Tanjas Schreie waren zu hören. Plötzlich ein Schlag. Die gellenden Schreie des Mädchens gingen in unterdrücktes Wimmern über. Er hat sie geschlagen, dachte Dirk. Das wollte ich doch tun!

Er richtete sich auf und wischte sich den Mund ab. Er fühlte sich sterbenselend. Und da war die Angst. Sie war so groß, dass er nur noch mit einem winzigen Rest seines Gehirns denken konnte. Bald würde er selbst in Tränen ausbrechen, wenn er nicht aufpasste. Und dann würde Sven ihm eine runterhauen. Sven würde nicht durchdrehen. Nicht er. Sven war aus dem Stoff, aus dem man Helden schnitzt. Und dann hörte er wie von fern, dass Sven mit ihm sprach.

Dirk sah zum Himmel und versuchte die Erinnerung an den Augenblick zu verdrängen, als Nicole zu einem Gebilde zerfloss, das nichts Menschliches mehr hatte; es war wichtig, dass er diese Erinnerung verbannte, er wollte nicht, dass Sven ihn schlug, so wie er Tanja geschlagen hatte.

Die ersten Sterne waren zu sehen. Dirk erkannte den Großen Wagen. Im Westen schimmerte der Widerschein des versunkenen Tages. Es war fast eine Stunde vor Mitternacht.

„Oh, Sancho“, brachte er hervor. „Diesmal haben wir uns ganz schön reingeritten.“

„Was war das?“ Sven hielt seine Schultern umfasst. „Nicole ist aufgefressen worden, hast du das gesehen? Das Ding hat sie aufgefressen! Was war das?“

„Ich weiß es nicht, das habe ich doch vorhin schon gesagt, hast du’s nicht gehört?“

„Du musst doch wissen, was das war, du Intelligenzbolzen. Wozu warst du früher in all diesen medizinischen Vorlesungen, wenn du nicht weißt, was das war?“ Sven war den Tränen nahe.

„In den Büchern, die ich gelesen habe, steht nichts von solch einem Ding“, sagte Dirk.

Das Ding hatte inzwischen wieder die Form einer schwimmenden Scheibe angenommen. Es befand sich drei Meter vom Floß entfernt.

„Es ist größer geworden“, bemerkte Tanja.

Das Ding war etwa eineinhalb Meter im Durchmesser gewesen, als Dirk es entdeckte. Jetzt maß es mindestens zweieinhalb Meter.

„Es ist größer, weil es Nicole gefressen hat“, schluchzte Tanja.

„Hör auf zu heulen, oder ich zerschmettere dir die Kinnlade“, sagte Sven. Sie gehorchte sofort. Sie hörte zu weinen auf wie eine Hart-aber-fair-Sendung, die verstummt, wenn man ihr die Stromzufuhr abschneidet. Ihre Augen waren riesengroß.

Sven sah Dirk prüfend an. „Bist du okay, Pancho?“

„Ich weiß nicht recht. Ich schätze, ja, ich bin okay.“

„Du bist mein Mann.“ Sven versuchte zu lächeln, und Dirk erschrak, als ihm das gelang. Machte das, was sich hier abspielte, Sven etwa Spaß? „Du hast also keine Ahnung, was das sein könnte?“, fragte Sven.

Dirk schüttelte den Kopf. Vielleicht war es wirklich nur eine genetisch aus dem Ruder gelaufene Seerose. Vielleicht aber war es doch eine mutierte Qualle gewesen. Kosmische Strahlung konnte die Substanz verändert haben. Oder irgendwer hatte atomares Zeug über das Gebilde gepisst. Wer vermochte es zu sagen?

„Meinst du, wir können daran vorbei schwimmen?“, fragte Sven.

„Nein!“, schrie Tanja.

„Du hältst den Mund!“

„Du hast selbst gesehen, wie schnell es Nicole verschlungen hat“, sagte Dirk.

„Vielleicht, weil’s Hunger gehabt hat“, antwortete Sven. „Vielleicht ist es jetzt satt.“

Vor Dirk stand Nicoles Bild, wie sie am Rande des Floßes kniete, so sanft, so hübsch in ihrem BH und ihrem Höschen. Er begann zu würgen.

„Versuch an Land zu schwimmen, Sven.“

„Oh, Pancho.“

„Oh, Sancho.“

„Ich will nach Hause“, flüsterte Tanja. „Okay?“

Keiner antwortete ihr.

„Wir warten, bis es weggeht“, sagte Sven. „Es ist gekommen, also geht es auch wieder weg.“

„Vielleicht“, sagte Dirk.

Sven sah ihn wütend an. „Vielleicht? Was ist das für eine Scheiße: Vielleicht?“

„Es ist gekommen, als wir kamen, das hab‘ ich gesehen. Ich glaube, es hat uns gerochen. Wenn es satt ist, wie du sagst, wird es gehen. Wenn es noch Hunger hat …“

Sven stand da und dachte nach. Immer noch fielen Wassertropfen aus seinem kurzen Haar auf die Planken.

„Wir warten“, sagte er. „Hoffentlich frisst es Fische.“

Dirk sah im Halbdunkel auf dem Gelände des Segelclubs die Boote stehen, fest verschnürt, gut abgedeckt gegen neuerliche Unwetter. Würde vielleicht ein Segler noch einmal zur Kontrolle seines Bootes kommen, fragte er sich hoffnungsvoll. Fünfzehn Minuten vergingen. Die drei sprachen nicht miteinander. Es wurde merklich kühler. Sie trugen nur Unterwäsche. Weitere zehn Minuten waren vergangen, als Dirk mit den Zähnen zu klappern begann. Tanja hatte sich an Sven schmiegen wollen. Er stieß sie zur Seite.

„Lass mich in Ruhe.“

Sie setzte sich aufs Floß und verschränkte ihre Arme über ihren Brüsten. Sie zitterte vor Kälte. Sie sah Dirk an. Er verstand. Wenn er jetzt zu ihr ging und ihr den Arm um die Schultern legte, war das okay.

Doch er blieb, wo er war. Er hielt den Blick auf das schwarze Ding gerichtet. Es kam nicht näher, aber es entfernte sich auch nicht. Er sah zum Ufer. Ein Streifen aus geisterhaftem Weiß. Er vermeinte neben der Segleranlage die Umrisse des Golfs zu erkennen.

„Wir sind einfach so losgefahren“, sagte Sven.

„Ganz recht“, erwiderte Dirk.

„Wir haben niemandem gesagt, wo wir hinfahren.“

„Nein.“

„Also weiß niemand, dass wir auf dem Floß sind.“

„Nein.“

„Hör auf!“, schrie Tanja. „Hört auf damit, ihr macht mir Angst!“

„Halt den Rand“, sagte Sven beiläufig, und Dirk musste lachen. Immer musste er lachen, wenn Sven diesen Ausdruck gebrauchte. „Wenn wir die Nacht auf dem Floß verbringen müssen, dann bleiben wir eben auf dem Floß. Morgen früh werden wir um Hilfe schreien, bis uns jemand hört. Wir sind hier ja nicht im Inneren der Mongolei, oder, Dirk?“

Vielleicht gibt es auf irgendeinem der Ferienhausgrundstücke einen vergessenen Wachhund, dachte Dirk, und dann kämen Herrchen oder Frauchen, um das arme Tier zu holen.

Dirk schwieg. Dirk erinnerte sich gerade an das große Verbotsschild mit dem Hinweis: „Wegen Corona! Ab 01.06.2021 ökologische Sperrzone. Die Ferienhäuser im Umkreis von 1 km unterliegen der Sperrverordnung bis zum 01.03.2022. gez. Die Landrätin“

„Ob wir im Inneren der Mongolei sind, hab ich gefragt!“

„Du weißt ganz genau, wo wir sind“, sagte Dirk. „Wir sind von der Hungener Landstraße abgebogen, um den Kreisel, haben die erste rechts genommen …“

„Und alle fünfzig Meter ein Häuschen …“

„Sommerhäuschen. Wir haben Juni, mein Freund. Und ab 1.6. ist hier absolute Sperrzone. Die Häuschen sind unbewohnt.“

„Aber es gibt doch sicher jemanden, der nach dem Rechten sieht“, sagte Sven.

„Es gibt nichts zu klauen in den Häusern. Wenn’s überhaupt so etwas wie einen Wächter gibt, dann taucht er vielleicht in Abständen von zwei Monaten auf.“

„Claus Pilles! Pilles vom Segelclub!“

„Vielleicht glaubt er dieses Jahr an das Versprechen der Angler und schaut nicht mehr nach dem Floß, weil er es längst als eingetütet abgehakt hat.“

„Jäger?“

„Kaum. Was wollen die an einem Badesee jagen?“, sagte Dirk. Und dann hielt er sich die Hand vor den Mund. Ihm war der Schreck in die Glieder gefahren.

„Vielleicht geht es weg“, hörte er Tanja sagen. Um ihre Lippen spielte ein trauriges Lächeln. „Vielleicht … ich meine … vielleicht lässt es uns in Frieden.“

„Vielleicht verirrt sich ein Bulle in die Gegend“, sagte Sven.

„Es bewegt sich“, rief Dirk.

Tanja sprang auf. Das Floß begann zu schwanken, und Tanja stieß einen Schrei aus. Sven ging zur anderen Seite und wartete, bis sich das Floß stabilisiert hatte.

Das Ding kam mit beängstigender Geschwindigkeit näher. Dirk erblickte die Farben, die Nicole gesehen hatte, ein fantastisches Rot und gelbe und blaue Spiralen, die sich in den Wellen brachen; die Farben flossen durcheinander, Dirk stand am Rande des Floßes, und er ahnte, dass er das Gleichgewicht verlieren würde, sein Oberkörper begann zu schwanken, er …

Mit letzter Kraft versetzte er sich einen Faustschlag auf die Nase; es war die Geste eines Menschen, der mit einem Hustenanfall kämpft, nur viel kräftiger ausgeführt und etwas zu hoch angesetzt. Durch sein Nasenbein zuckte ein stechender Schmerz, und er spürte das warme Blut, das ihm über das Gesicht rann. Es gelang ihm, sich einen Schritt zum Inneren des Floßes zu bewegen.

„Schau das Ding nicht an, Sven!“, schrie er. „Schau’s nicht an, die Farben machen einen schwindlig.“

„Es will unter das Floß kriechen“, sagte Sven grimmig. „Kannst du mir erklären, was die Scheiße soll, Pancho?“

Dirk inspizierte das Ding mit aller Sorgfalt. Es nagte wieder an der Längskante des Floßes. Es hatte wieder die Form einer durchgeschnittenen Pizza angenommen. Und es schien dicker geworden zu sein.

Und dann schob es sich unter die Bretter. Dirk war es, als wäre da ein neues Geräusch, es hörte sich an wie das Kratzen eines zusammengerollten Rollos, wie ein Rollo, der durch ein enges Fenster gezogen wurde, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

*

Als Stella und ich uns von unseren Balkonnachbarn verabschiedeten, mag es eine Stunde vor Mitternacht gewesen sein – eine laue Sommernacht, wenn man in einer Stadt aus erwärmten Steinen zu Hause ist. Eine viel zu kühle Nacht, wenn man sie nur in Unterwäsche, verlassen auf einem Floß, auf einem See verbringen muss. Von jenem Ereignis wusste ich nichts, und so ging ich wie jeden Abend in mein Büro, um einen letzten Blick auf die eingegangenen Mails zu werfen und den Computer endlich abzuschalten. Ich weiß, Strom sparen sieht anders aus.

Mein Blick fiel auf einen Mailabsender. Es war Carla Reemtsma, die mir gemailt hatte:

Hallo Stefan Koenig,

ich schreibe dir heute mit klopfendem Herzen, auch wenn wir uns noch nicht persönlich kennen. Ich bin Carla, 23 Jahre alt und Aktivistin für Klimagerechtigkeit bei Fridays for Future. Als Pressesprecherin der Bewegung bin ich es gewohnt, öffentlich zu sprechen. Aber jetzt bin ich aufgeregt: Noch nie war unser Protest so wichtig wie jetzt. Denn mit der kommenden Bundestagswahl stehen wir vor einer echten Schicksalswahl.

Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um die Klimakrise und das Artensterben zu stoppen. Die nächste Regierung entscheidet darüber, wie meine Zukunft aussehen wird – und die aller kommenden Generationen. Viel zu lange hat Laschets Union den Klimaschutz blockiert und unseren Protest gleichgültig ausgesessen. Dabei ist eine deutliche Mehrheit der Menschen für konsequenten Klimaschutz. Das macht mich wütend. Aber jetzt haben wir einen mächtigen Hebel: das Kreuz auf dem Wahlzettel.“

Ich war müde und unterbrach und fuhr den PC herunter. Dann legte ich mich neben Stella, die schon fest schlief. Drei Gläser Chianti und Stella fällt ins Koma. Mein Schlaf war unruhig. Gegen vier Uhr früh muss ich von einem Albtraum wach geworden sein.

In diesem Traum sah ich Gott als schwere, unheimlich dunkle Wasserwolke über einem Tal schweben. Oder vielmehr: ER zirkulierte. ER pustete mit einer solchen Kraft, dass sich die schweren Wolken rundum im Kreis drehten und immer wieder über dem Tal sammelten. Und ER blies mit seiner gigantischen Wolkenkraft so gewaltig, dass sich die stählernen Überlandleitungen, mit denen die Windkraft von hoher See als Strom ins Landesinnere geführt wird, bogen und schließlich knallend und funkensprühend zersprangen.

Ich sah einen Gott, der so erzürnt wütete, dass ER aus seinem düster-blauen Himmel heraus mit Millionen Litern Wasser das Tal überschwemmte. Im Traum hörte ich das Splittern und Krachen von Reklametafeln und zerschellten Bauten, von klirrenden Metallgeländern und einstürzenden Brücken. Es gab keinen Halt und kein Halten mehr. Häuser stürzten ein und wurden von Wassermassen mitgerissen – selbst Gotteshäuser samt ihren kupfernen Glocken.

Das ganze Land ging unter SEINEN Wassermassen unter. ER und seine Wasserwolken umkreisten das unglückliche Gebiet ohne Unterlass, und die Regenmassen strömten mit einer Riesengeschwindigkeit durch das Tal und rissen alles mit. ER kam auf uns alle zu, und alles Leben ertrank in SEINEN Fluten. Einst war das Leben aus dem Wasser gekommen, nun war das Wasser gekommen, um das Leben zu nehmen. Und ER ließ es zürnend zu.

Ich schlief wieder ein.

64 Kilometer von Lich entfernt betrat gegen fünf Uhr morgens die Professorin Dr. Sarah Jones die Zentrale des Deutschen Wetterdienstes in der Frankfurter Straße 135 in Offenbach. Sie grüßte den Pförtner, der sich über ihr frühes Erscheinen wunderte, und ging hoch in die zweite Etage in ihr Büro. Ihr Kollege, Lars Kirchhübel, kam nur wenige Minuten nach ihr. Sie hatten sich um diese frühe Uhrzeit verabredet, um ungestört von ihrem Tagesgeschäft ein Problem »durchzukauen«, wie sie es gerne bezeichneten.

„Ich mache uns einen Kaffee“, sagte Lars, und Sarah nickte zustimmend, während sie den Computer einschaltete und den Ausdruck vom gestrigen Tag vor sich ausbreitete. Die Daten waren eindeutig.

„Die Atlantische Umwälzströmung ist so schwach wie nie zuvor in den vergangenen eintausend Jahren“, sagte sie.

„Siehst du eine regionale Gefahr für Deutschland?“ Er schob die Kaffeetasse auf ihre Schreibtischseite.

Sie sah ihn mit gespieltem Missmut an. „Die Umwälzströmung kann für die gesamte Menschheit – und nicht nur regional – dramatische Folgen haben.“ Dr. Jones reichte ihm eine Kopie ihrer Studie hinüber.

Den beiden Klimawissenschaftlern war seit langem klar, dass die Atlantische Umwälzströmung, die sie intern nach einer englischen Bezeichnung mit »AMOC« abkürzten, als eines der Kippelemente des Weltklimas gilt, ebenso wie das Grönlandeis, der Jetstream und der Amazonas-Regenwald. Sie gingen wie ihre Kollegen in aller Welt davon aus, dass Veränderungen an diesen Elementen überproportional große Folgen haben werden.

„Ich habe gestern mit unserem Kollegen Boers in Potsdam telefoniert“, sagte die Professorin. „Niklas ist in seiner Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Meeresströmungen im Atlantik bereits so stark an Stabilität verloren haben, dass es schon bald zu einem Zusammenbruch dieses Systems kommen könnte.“

In seiner Studie hatte der Forscher des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung die wichtigsten Parameter herausgearbeitet. Die AMOC transportiert warme Wassermassen aus den Tropen an der Meeresoberfläche nach Norden und kaltes Wasser am Meeresboden nach Süden. Das ist für die relativ milden Temperaturen in Europa am relevantesten. Aber jetzt sah er Gefahren auf Europa zukommen.

„Wir wissen ja, dass die AMOC verschiedene Betriebsmodi haben kann. Gerade ist sie im starken Modus“, sagte Dr. Jones und schlürfte nachdenklich am Kaffee. Dann erzählte sie Lars Kirchhübel, was sie mit Boers telefonisch besprochen hatte.

Lars holte ein paar Kekse, reichte sie Sarah und sagte: „Die AMOC ist also im stärksten Modus, den die Strömung haben kann – umso bedenklicher, wenn Professor Boers, ebenso wie du, zum selben Schluss kommen: Dass sie trotz starkem Modus so schwach ist wie nie zuvor in den letzten tausend Jahren.“ Er stand auf, um sich zwei Würfelzucker aus dem Schränkchen über der Spüle zu holen. „Nimmst du auch Zucker?“

Sarah schüttelte den Kopf. „Nach drei Jahren fragst du noch immer! Wenn du bei deiner Arbeit genauso vergesslich bist, werden wir eines Tages vom Wetterchaos überrascht werden.“

Beide lachten.

Dann deutete Sarah auf die zweite Seite der Studie und sagte: „Wenn die Prognose unseres Nordlichts zutrifft, dann sähe die hiesige Realität doch erheblich anders aus als die bisherige. Wir könnten sowohl in Europa wie auch in Nordamerika extreme Kälteperioden erleben – trotz allgemeiner Klimaerwärmung.“

Kirchhübel hatte den Kaffee etwas zu schnell getrunken und litt jetzt an Schluckauf.

„Solch ein Schluckauf könnte die Ostküste der USA heimsuchen – ein überschwappender Meeresspiegel“, sagte Sarah Jones und verbiss sich das Lachen.

„Es ist wirklich nicht zum Lachen“, sagte ihr Kollege, „zumal Störungen der saisonalen Monsunregen, die einen Großteil der Welt mit Süßwasser versorgen, möglich sind. Und nicht zu vergessen: Durch die Temperaturschwankungen könnten vor allem Fischarten aussterben, die sich nicht so schnell anzupassen vermögen.“

„Ich sehe als Hauptgefahr den Dominoeffekt“, erklärte Sarah Jones ihre Sicht der Klima-Entwicklung. „Das Kippen eines Punktes bleibt beileibe nicht ohne Auswirkung auf die anderen. Für den Amazonas-Regenwald sind solche Rückkopplungseffekte bereits beschrieben worden.“

„Ich bin froh, dass wir aus diesen Ereignissen die gleichen Schlussfolgerungen ziehen“, sagte Lars, und fügte nach einer Weile hinzu: „Ein gleicher Dominoeffekte existiert zweifellos auch zwischen dem Abschmelzen des grönländischen Eisschildes, das dann die AMOC praktisch zum Erliegen bringen würde. Das hätte unabsehbare Folgen: Weil sodann die Temperaturen in bestimmten Gegenden der Welt steigen und Biosphären und Ozeane diese Veränderungen nicht mehr abpuffern können, würden weitere Kippelemente fallen, was die Entwicklung dramatisch verstärken würde.“

*

In diesen frühen Stunden des Dienstagmorgens ging in Lich ein Mann mittleren Alters etwas keuchend den ansteigenden Guckertsweg hoch. Die Entfernung zu dem in Windeseile entstandenen Logistikklotz betrug nicht einmal einen Kilometer und der Bau war schon in seiner Sichtweite. Unwillig schüttelte er den Kopf. Der Mann trug eine blaue Arbeitshose und ein Sporthemd und kannte diesen Weg hoch auf den Prominentenhügel noch aus früheren Tagen, als dieses Wohngebiet in seiner bedeutungsvollen Blüte stand. Thomas bog an einer der oberen Straßen rechts ab und bald schon stand er vor der verlassen daliegenden Villa.

Hier, im kleinen Nachbarhaus des Villenanwesens, hatte er mit seinen Eltern die Kindheit verbracht, als sein Vater noch Chef des Hauspersonals und so etwas wie ein Butler für die Villeneigentümer war. Nun hatte er seit zehn Jahren die Stelle seines Vaters eingenommen, obwohl die ursprünglichen Besitzer, das Verlegerehepaar, der alte Herr Dr. Horst Wernecke und dessen Frau Emma, ebenso wie seine Eltern längst verstorben waren.

Thomas Wünsch liebte die frühe Stunde. Er mochte es nicht, wenn die Nachbarschaft ihn zu sehen bekam. Er schloss die schwergängige, historisch anmutende Eichentür auf, sah sich in den Räumen um – alles war sauber und in geordnetem Zustand, kein Wunder, schließlich war das Haus bis auf die monatliche Versammlung eines gewissen Clubs unbewohnt und menschenleer.

Werneckes Nachkomme, sein Sohn Dr. Niklas Wernecke, hatte Thomas die Pflege der Villa und ihres prachtvollen Gartens anvertraut; sie kannten sich aus Kindestagen. Rein beruflich sprach Dr. Wernecke jun. seinen ehemaligen Spielkameraden etwas unbeholfen mit „mein Vertrauter“ an. Ich kannte beide inzwischen recht gut. Schließlich war Wernecke jun. mein Verleger. Doch dazu später.

Der Vertraute ging nach hinten durch die Terrassentür, holte im Gerätehaus die Heckenschere heraus und schnitt um diese frühe Uhrzeit per Hand die Büsche im Vorgarten, sichtlich darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen, nicht aufzufallen, niemanden zu wecken und dabei den Sonnenaufgang zu genießen.

Er liebte seine Arbeit. Aber er hatte gestern Abend eine beunruhigende TV-Sendung mit einer Klimaexpertin der Universität Oxford gesehen. Daran musste er denken, als er die Büsche schnitt, damit Freitagabend keiner der Besucher Anstoß an einem eventuell als verwildert zu bemängelnden Zustand nehmen konnte. Auch Mittwoch und Donnerstag, das war ihm klar, musste er noch einige Stunden hier arbeiten.

Thomas Wünsch schien jederzeit auf die biologischen und ökologischen Belange des Anwesens zu achten. Bei seiner Gartenarbeit ließ er die Blühpflanzen besonders lange stehen, stutzte nur die notwendigsten Äste von Bäumen und Büschen. Er schaute auf die Uhr, es war jetzt fünf Uhr früh – Zeit, mit seiner geräuschlosen Arbeit zu beginnen.

Nur eine halbe Stunde später, gegen halb Sechs, setzte sich in Oxford die Klimaforscherin, über die Thomas am Abend einen Bericht gesehen hatte, an ihren Schreibtisch und verfasste einen Artikel. Die gebürtige Kielerin Friederike Otto beschäftigte die Frage, was die klimatischen Treiber der Extremwetter sind. Sie arbeitete seit zwei Jahren am Thema der meteorologischen Rückkopplungseffekte und hatte bestimmte Unwetterereignisse auf ihrem Schirm.

Da ging es zum einen um das von Hitze und Dürre geplagte Nordamerika und das schon wieder oder immer noch brennende Kalifornien. Da suchten schwerste Schlammlawinen Japan heim; in Nevada trockneten serienweise Seen wie der Washoe Lake vollständig aus; mächtige Wirbelstürme zerschmetterten ganze Städte in Kanada; Sibirien brannte – in Deutschland herrschte Ruhe. „Noch …“, dachte sie und machte sich an die Arbeit.

Sturm über Lich - 2022

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