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Magie oder Maggi?

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Nicht lange, nachdem ich den Thriller »Freie Republik Lich – 2023« veröffentlicht hatte, sprach ich mit einer Leserin, die mir versicherte, wie gut er ihr gefallen habe. Es war ihr gelungen, die 412 Seiten in drei Tagen zu lesen. Wie zauberhaft!

Mensch Meier, dachte ich, was haben die Leute doch verdammt viel Zeit, während mir selbst die Zeit unaufhörlich durch die Finger rinnt und ich nur auf dem Klo mal für lange fünf Minuten ein oder zwei Artikel aus Stellas verdammt informativer GALA durchlesen kann, bevor ich nach notwendiger Verrichtung der notdürftigen Angelegenheit über den Zeitschriftenstapel stolpere und mir ein Hörnchen hole.

„Aber Ihre Anmerkungen, wie Sie was und warum schreiben, Herr Koenig, die überlese ich“, sagte sie und behielt mich dabei scharf im Auge. Ich glaube, sie hielt es für möglich, dass ich sie in meinem nächsten Buch vom Dank an meine treuen Leserinnen und Laser namentlich ausschloss. Und genau das tue ich, verehrte Frau Meier …

… natürlich nicht.

Wie hatten Sie Ihr Geständnis noch mal begründet? Das, liebe Frau Meier, hatten Sie gesagt: „Ich gehöre zu den Leuten, die nicht wissen wollen, wie der Zauberer seine Tricks bewerkstelligt.“

Eigentlich wollte ich Ihnen damals dazu noch einiges sagen, aber es war abends, kurz vor Geschäftsschluss, und ich musste noch dringend einiges an Besorgungen erledigen. Deshalb nickte ich nur und versicherte Ihnen, das wäre durchaus in Ordnung.

Aber heute Morgen habe ich keine Besorgungen zu erledigen und will zwei Dinge ein für alle Mal klarstellen. Es ist mir gleich, ob Sie meine Erläuterungen lesen oder nicht. Es ist Ihr Buch, und meinetwegen können Sie es während Ihrer Morgenmeditation in der Mitte des Logistik-Kreisels auf dem Kopf balancieren, während hunderte LKW um Sie kreisen. Natürlich weiß ich, dass Sie das Logistikmonster genauso ablehnen wie mehrere tausend Licher. Aber mir geht es hier um etwas anderes, nämlich – und das zum Zweiten – darum: Ich bin kein Zauberer, und meine Schreibe besteht nicht aus einer Aneinanderreihung von Tricks.

Das soll nicht heißen, dass beim Schreiben keine Magie im Spiel wäre. Ich glaube in der Tat, dass es so ist, und dass sie sich besonders üppig um erzählende Literatur rankt … Geschichten, die sich wiederholen, die auf abgeänderte Weise neue, zauberhafte Wege in eine neue Gegenwart finden … wie magische Zauberwesen, die uns auf ewig begleiten – egal, wer sie wann und warum und auf welche Weise geboren, gehört und weitererzählt hat.

Ja, Magie ist auf alle Fälle beim Schreiben im Spiel. Paradox ist nur dies: Zauberer haben nicht das Geringste mit Magie zu tun, wie die meisten dieser Taschenspieler bereitwillig zugeben werden. Eher haben Hausfrauen und Kochsendungs-Köche etwas mit Magie zu tun, wenn sie ihre Speisen mit Maggi würzen.

Die unbestreitbaren Wunder der Zauberer – Häschen aus dem Zylinder, Münzen aus leeren Gläsern, Tauben aus dem Ärmel, Seidenschals aus leeren Händen … und natürlich Frauen verschwinden oder in aufreizender Wäsche hinter einem Vorhang erscheinen zu lassen – bewerkstelligen sie durch ständige Übung, geschickte Ablenkungsmanöver und andere billige Hütchenspieler-Tricks.

Das Gerede dieser Trickser von den „uralten Geheimnissen des Orients“, von „Aladins Wunderlampe“ oder von „den vergessenen Legenden des untergegangenen Atlantis“ ist nur Beiwerk.

*

Darüber hatte ich mit Ben, meinem guten Freund und Arbeitskollegen, gesprochen, als wir gegen Ende Oktober vergangenen Jahres ein besonderes Event in Laubach besucht hatten. Es heißt »Winterzauber«, und es fand zu jener Zeit am 30. und 31. Oktober im Schlosshof und der Schlossumgebung statt.

Heute, am Mittwoch, dem 19. Januar 2022, zweieinhalb Monate danach, sitzt Ben neben mir und wir schieben Wache wegen jenem Fremden, der sich in der Vernehmung mit dem Namen »Niko Lamor« vorstellte. Sie, verehrte Frau Meier und alle anderen Leserinnen, kennen ihn und seinen angeblichen Zwillingsbruder, Okin Ramol, bereits aus meinem Bericht »Sturm über Lich – 2022«. Aber jetzt erinnert mich Ben gerade an diesen herrlichen Vorweihnachtsmarkt in Laubach namens »Winterzauber«. Und er erinnert mich eben just an dieses Gespräch mit Ihnen, Frau Meier – jenes Gespräch über den Unterschied zwischen Taschenspielertricks und wahrer Magie.

„Mir scheint es ein Jahrhundert her, dass wir dieses zauberhafte Event genießen durften – vorbei der Duft der Stollenspezialitäten aus dem Erzgebirge, der Lebkuchen und der gefüllten Spitzen aus der fernen Bäckerei und Konditorei. Vorbei die Zeit des leckeren finnischen Flammlachses, der frisch über dem Buchenholz geflammt wird. Ich glaube, es ist für immer vorbei, mein Freund …“ Dabei schaut mich Ben traurig an.

„Jedenfalls wäre jetzt ein wärmender Punsch äußerst hilfreich“, antworte ich Ben – und nur für mich denke ich: Oder wäre selbst das jetzt nichts weiter als billige Magie? Ein wärmender Punsch statt der Befreiung von all der Last der letzten Tage?

„Es scheint, als sei uns ein solcher »Winterzauber« in unserem ganzen Leben nicht mehr vergönnt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts“, sagt Benjamin.

Bis auf eine Wachmannschaft von zehn Leuten sind alle schlafen gegangen. Auch Frau Meier und alle anderen Leserinnen meines Thrillers „Freie Republik Lich – 2023“ schlafen jetzt tief und fest. Ben und ich haben angeboten, Wache zu schieben, obwohl wir bereits 24 Stunden auf den Beinen sind – aber jeder von uns hat vor einer Stunde einen Energy-Drink zu sich genommen, und so fühlen wir uns jetzt recht fit.

Wir sitzen im Untergeschoss in einer Couch-Sitzgruppe, die im Eingangsbereich der großen Schlafräume steht. In der Sitzecke läuft mit leiser Lautstärke ein kleiner Fernseher, in dem es zum x-ten Mal um das Unwetter geht. Außer, dass sich der Sturm noch einmal steigern wird, erzählen uns die Wetterfrösche nichts Neues. Wir schalten innerlich ab, schauen aber dennoch zum TV hin, während wir uns unterhalten – eine unschöne Angewohnheit. Aber Sie kennen das gewiss: Ein laufender Fernsehapparat nimmt einen gefangen; ob man will oder nicht, man schaut immer wieder zum Bild. Nur wenn man das Gerät abschaltet, hat man wieder einen freien Blick zum Gesprächspartner.

Ben interessiert sich für meine Diskussion mit jener Frau Meier und ich schildere ihm, wie es weiterging, als ich ihr im Herbst im Kunkel-Café im RUWE-Markt begegnet war.

„Wir haben nicht groß herumdiskutiert oder irgendein Palaver wegen dieser verdammten Magie gehabt“, erkläre ich Ben. „Ich habe ihr gegenüber einfach meine Vermutung geäußert, dass sich Bühnenzauberer gewiss mit dem Witz über den Ortsfremden identifizieren können, der vor der Licher Brauerei steht und einen Ortskundigen fragt, wie er zur Brauerei kommt. »Üben, Mann, üben!, antwortet der Ortskundige.“

Ben lächelt etwas unsicher und ich sehe ihm an, dass er nicht wirklich verstanden hat, was ich damit meine – nun ja, es ist bereits zwei Uhr morgens.

„Verstanden?“, frage ich.

Er schüttelt – trotz Energy-Drink – müde den Kopf.

„Was ich damit meine: Dasselbe gilt auch für Schriftsteller.“

„Du meinst: Üben, üben, üben?“

Jetzt nicke ich, bemerke aber, dass er mich überhaupt nicht anschaut, sondern zu Jens Köller hinsieht, der sich gerade zehn Meter vor uns im Schlaf unruhig in seinem Feldbett neben dem Bett seiner Frau hin- und herwirft, als würde er etwas Beunruhigendes träumen.

„Der hatte heute keinen leichten Tag“, sagt Ben, und ich stimme ihm zu.

Ben sieht mich mit müden Augen an und sagt: „Du meinst also: Übung macht den Meister und nicht irgendeine Magie, stimmt‘s?

„Nachdem ich seit zwanzig Jahren Unterhaltungsliteratur schreibe und von den intellektuellen Kritikern als billiger Schundschreiber abgetan werde – diese netten Intellektuellen scheinen Schundschreiber zu definieren als »Autoren, die verständlich schreiben und dessen Werk von zu vielen Leuten geschätzt wird« – kann ich nur bestätigen, dass handwerkliches Können dazugehört. Ja, der häufig nervtötende Vorgang von Niederschreiben, Umschreiben und nochmaligem Umschreiben ist erforderlich, um gute Arbeit hervorzubringen. Und nochmal ja: Harte Arbeit ist das einzig akzeptable Training für diejenigen unter uns, die ein gewisses Talent besitzen, aber wenig oder gar kein Genie.“

„Danke für diesen privaten VHS-Vortrag, guter Freund, wie freue ich mich doch, bald abgelöst zu werden und schlafen gehen zu können“, murmelt Ben noch und keine fünf Minuten später hängt er längs auf der Couch mit abgeknicktem Kopf und schnarcht vor sich hin, während gegenüber immer noch das kleine Fernsehgerät läuft.

Bei mir wirkt ein Energy-Drink zwei, drei Stunden lang – in Bens Adern dagegen versanden die wach haltenden Alkaloide der Teeblätter und Kaffeebohnen wohl schon nach einer Stunde. Sei’s drum. Ich war in Gedanken noch bei dem, was ich Frau Müller zu erklären versucht hatte. Sie brauche keine Angst davor zu haben, meine Anmerkungen zu lesen, weil sie denken würde, ich würde die Magie zerstören, indem ich ihr verrate, wie der Trick des Schreibens funktioniert. Echte Magie kennt keine Tricks. Wenn es um echte Magie geht, gibt es nur eines: die Geschichte.

Natürlich ist es möglich, eine Geschichte zu verderben, bevor man sie gelesen hat. An Frau Meier gewandt hatte ich gesagt: „Wenn Sie zu den Leuten gehören (zu den grässlichen Leuten), die den Zwang verspüren, die letzten Seiten eines Buches zuerst zu lesen – wie ein eigensinniges Kind, das seinen Schokoladenpudding vor seinem Spiegelei mit Spinat essen will –, dann fordere ich Sie an dieser Stelle auf, sofort damit aufzuhören. Sonst werden Sie den schlimmsten aller Flüche erleben: Entzauberung.“

Als ich jetzt darüber nachdenke, wird mir bewusst, wie hart diese dahingeschleuderten Worte in den Ohren der armen Frau Meier geklungen haben mögen und erst recht, wenn sie tatsächlich zuerst die letzten Seiten eines Romans liest, bevor sie vorne beginnt.

Ich stelle meine Gedanken ab, jedenfalls so gut es geht. Neulich sagte mir Stella bei einem Glas Rotwein, als ich sie wieder einmal mit einer meiner Räuberpistolen zum »Logistikmonster auf dem Wüstenberg« belästigte: „Du bist das Opfer deiner Gedanken!“ Das gab mir zu denken – und ich denke bis heute darüber nach, was ich ihr in zirka zwölf Monaten darauf erwidern werde. (Und bis dahin heißt es: Üben, üben, üben.)

Jetzt decke ich den sanft dahinschnarchenden Ben mit einer beige-farbenen Wolldecke zu, und mache einen Rundgang. Ich muss an Martha Weis denken – sie wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Niko Lamor erschlagen. Sein blutiger Merkurstock sollte Zeugnis genug sein. Ihr mit einem Tischtuch bedeckter Leichnam lag noch immer in ihrem Haus an der Wetter.

Und dort würde die alte Pendeluhr jetzt zwei Uhr schlagen. Es sind die ersten zwei Stunden eines neu angebrochen Tages. Es ist Mittwoch, der 19. Januar 2022. Ich weiß nicht, wie ich gerade darauf komme: Aber an einem 19. Januar 1905 wurde in Wien das Kindertotenlied von Gustav Mahler uraufgeführt.

Und an noch etwas denke ich.

Ich denke an Peter Machey, der sich vor einigen Stunden erhängt hat und dessen Leichnam Hubert Seifried und ich in einen Läufer eingewickelt und am Hintereingang des Rathauses in einer weniger verschneiten Ecke abgelegt haben, damit die hier versammelte Bürgerschaft nicht unmittelbar mit diesem merkwürdigen Selbstmord konfrontiert ist – obwohl ich mir (ebenso wie Seifried) nicht sicher bin, ob es wirklich Suizid war oder ob Lamor seine Hände im Spiel gehabt hat.

Die Außenwache hat sich vor einer halben Stunde hier im Inneren des Rathauses aufgewärmt und eine Thermoskanne mit nach draußen genommen. Ich habe meine Bedenken geäußert, mehr kann ich nicht tun, ich bin hier nur der Protokollant – aber ich finde den Außendienst äußerst riskant. Wie man mir berichtete, sind inzwischen die Schneewehen höher denn je und mehrere Schaufenster wurden von den Schneemassen eingedrückt. Die Straßen sind jetzt selbst für Geländewagen unpassierbar. Die Laternenpfähle stecken bis halb zu ihren Lichtkugeln hinauf im Schnee.

Ich muss plötzlich an die achtjährige Julia denken. Sie war im letzten Herbst, am Sonntag, dem 10. Oktober 2021, mit ihren Eltern, ihrem sechsjährigen Bruder und einem neunjährigen Cousin beim Wandern im bayrisch-tschechischen Grenzgebiet verloren gegangen. Es gab zu dieser Jahreszeit noch keinen Schnee. Aber Kälte und Nässe. Zwei Tage und zwei Nächte war sie allein im Wald umhergeirrt. Am Sonntagnachmittag gegen vier Uhr saß sie noch auf dem Rücksitz des Familienautos. Um halb sechs hatte sie sich beim Versteckspiel mit den beiden Jungs im Wald verirrt.

Um sieben Uhr, als die Dämmerung hereinbrach, versuchte sie, sich nicht zu fürchten. Versuchte, nicht zu denken „Es ist schlimm, es ist sehr schlimm.“

Das Mädchen irrt durch die Wälder. Sie ist mutterseelenallein. Sie ist vom Weg abgekommen. Noch hat niemand bemerkt, dass sie verschwunden ist – Bruder und Cousin denken, es gehört zum Spiel. Nur sie weiß, dass sie sich verirrt hat und keiner da ist, der sie beschützen kann – vor dem Hunger und dem Durst, vor der Kälte und dem Nebel, vor den wilden Tieren, vor der Einsamkeit und der Dunkelheit.

Um neun Uhr, als es stockfinster ist, versucht sie nicht daran zu denken, dass manchmal Leute, die sich im Wald verirren, ernsthaft verletzt werden. Oder niemals wieder zurückkehren. Eine Baseballkappe, ein Taschentuch, ein kleiner hellbrauner Stummelbleistift von IKEA und die Erinnerung an die Gespräche mit ihrem Vater über dessen alte Pfadfinderzeiten sind die einzige Ausrüstung, die Julia mit sich führt. Mehr hat sie dem Grauen der Wälder nicht entgegenzusetzen. Und das ist sehr, sehr wenig.

Ich muss mich schütteln, als ich jetzt daran denke. Aber da die Geschichte mit Julia gut ausging und sie nach zwei langen Tagen und noch längeren Nächten im Wald lebend gefunden worden war, schöpfte auch ich Hoffnung, dass wir aus der Katastrophensituation unserer Stadt lebend herauskommen würden.

Einer der Außenposten hatte berichtet, dass die Scheiben der Hof-Apotheke vom Schnee eingedrückt worden waren und das Apothekeninnere sich zu einer kältestarrenden Tundra verwandelt habe. Eis glitzere auf den Buchstaben des Wortes »Arzneimittel« im hinteren Teil des Ladens. Weiter vorn sei das Schild mit der Aufschrift »Besiegen Sie den alten Mann namens Winter mit einer Heizdecke von IMETEC« mit Eiskristallen besetzt, die dem Schild ein spöttisches Aussehen bescherten. Die Pendeluhr im Verkaufsraum – ähnlich der Uhr von Martha – sei so zugeschneit, dass man sie nicht mehr ablesen könne, aber sie funktioniere wohl noch.

Der Eissalon von Morandin sei inzwischen ein einziger Eisklotz, ähnlich dem Eisberg, der die Titanic am 14. April 1912 kurz vor Mitternacht unsanft streichelte.

Ich komme bei meinem Kontroll-Rundgang ins gespenstisch ruhig anmutende »Sonnenschein«-Kinderland, wo noch bis in die Abendstunden hinein Remmidemmi geherrscht hatte. Ein Kuckuck, den die »Sonnenschein«-Kinder bestimmt heiß und innig lieben, schnellt immer wieder aus der Uhr an der Wand, unverschämt wie eine herausgestreckte Zunge. Diesmal kommt er nur drei Mal aus seinem Häuschen und ruft »Kuckuck«. Damit verschwindet der Vogel wieder in seinem Versteck. Der Kindergarten selbst ist makellos sauber, wirkt aber unheimlich – die kleinen Tische und Stühle, die Kinderbilder an den Wänden, die Tafel, auf der »Wir sagen Bitte« und »Wir sagen Danke« geschrieben steht.

Zu viele Schatten, zu viel Stille.

Ich gehe hoch in das Polizeibüro, wo bis vor kurzem noch Herr Lamor hinter Gittern gefangen war und auf seiner Pritsche mit angezogenen Beinen saß, um uns zu belauern. Der Boden ist nach wie vor mit Papier und Büroartikeln übersät, und die herausgefallenen Gitterstäbe liegen noch dort, wo sie hingefallen waren, aber der Raum ist leer. Auf der großen Batterie-Uhr über Köllers leergefegtem Schreibtisch ist es jetzt vier Minuten nach drei.

Mein Rundgang führt mich in die Rathaus-Küche im Untergeschoss. Sie wirkt wie aus dem Ei gepellt – die Arbeitsplatten sauber, der Fußboden gewischt, die gespülten Töpfe in den Abtropfkörben gestapelt. Eine kleine Armee von Frauen hat Ordnung geschaffen – zweifellos unter Frau Demuths Oberbefehl. Ich sehe, dass alles bereit fürs Frühstück ist, das es in vier Stunden gibt, so Gott will: Pfannkuchenteig für rund dreihundert Personen. An der Wanduhr ist es inzwischen zwanzig Minuten nach drei. Wie der »Sonnenschein«-Kindergarten wirkt auch dieser Raum unheimlich – die vom Generator gespeiste Beleuchtung ist minimal, und draußen heult schrill der Wind.

Carlo Mannschmidt und sein Sohn Michel sitzen auf Hockern am Hintereingang der Küche vor einer Tür mit dickem Fensterglas. Sie haben Jagdgewehre auf dem Schoß und starren ins undurchdringliche Weiß. Beide sind kurz davor, einzunicken.

„Wie sollen wir da draußen irgendwas sehen?“, fragt der Neunzehnjährige seinen Vater.

Carlo schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht.

Ich wünsche den beiden noch einen ruhigen Abend und gehe weiter zum Gemeindebüro im Erdgeschoss, wo an normalen Tagen Frau Kranz-Mai die Ja-Sager bis zu ihrem Tod mit dem Fluch einer unglücklichen Ehe belegt. Manchmal, wenn sie ihren guten Tag hat (aber nur dann), wünscht sie den frisch Getrauten von Herzen alles Gute – und in diesen äußerst seltenen Fällen geht dann tatsächlich alles gut.

Vor dem Büro des Standesamtes sitzen Hubert Seifried und Bernardo, beide ebenfalls mit Jagdgewehren bewaffnet, und halten an der offenen Bürotür Wache. Das heißt – Bernardo hält Wache. Hubert döst vor sich hin. Ich sehe, dass Frau Kranz-Mai und Michaela Wiese nebeneinander auf Feldbetten schlafen und flüstere Bernardo zu: „Alles in Ordnung? Oder hat sich Herr Lamor als der graue Kardinal entpuppt?“

Er lächelt müde, schüttelt den Kopf und sagt: „Ich wäre jetzt gerne mal Mäuschen und würde wissen, wie die da in ihrem großen, kalten und einsamen Schloss eine solche Situation alleine meistern …“

„Jedenfalls haben sie gewiss genug Vorräte und eine warme Stube“, antworte ich, bevor ich auf den knisternden CB-Funk aus Frau Kranz-Mais Büro höre. Aber das Knistern hat nichts zu bedeuten, wie Bernardo sagt: „Es ist nur atmosphärisches Rauschen!“

Der Fremde - Lich, 19. Januar 2022

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