Читать книгу Die Bruderschaft des Baums - Stefan Kraus - Страница 5

Die Gabe

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Hanrek wälzte sich im Schlaf auf die andere Seite. Anscheinend hatte ihm irgendjemand einen Stein ins Bett gelegt und der bohrte sich jetzt schmerzhaft in seine Seite. Das war bestimmt sein jüngerer Bruder Stonek gewesen. Brummend versuchte er, eine bequemere Lage um den Stein herum zu finden. Doch plötzlich war Hanrek hellwach und setzte sich ruckartig auf. Er schlief gar nicht in seinem Bett sondern auf der blanken Erde und nicht weit von seinem Schlafplatz war ein Trümmerfeld, das bis vor kurzem noch das friedliche Dorf gewesen war, in dem er lebte.

Alle Ereignisse standen ihm jetzt wieder lebhaft vor Augen. Das furchtbare Erdbeben, der sanftmütige Ackergaul Tarpon, der durchgegangen war und Hanrek mitsamt dem Pflug hinter sich her geschleift hatte. Sein Vater, der an eben diesem Pflug gestanden hatte und nur Momente später von einem umstürzenden Baum eingeklemmt wurde. Die Hilferufe seines Vaters, das Schreien der vielen Sterbenden und Verwundeten im Dorf und das Dorf Hallkel selbst, in dem kein einziges Haus mehr stand. Nicht einmal ein Stall oder eine Scheune hatte das Erdbeben überstanden.

Überall ragten spitze zersplitterte Holzstümpfe aus den eingestürzten Häusern. Die Gassen zwischen den Häusern waren fast nicht mehr als solche zu erkennen. Der große Baum auf dem Marktplatz in der Mitte des Dorfes war umgestürzt und hatte mit seiner mächtigen Krone die Überreste der Schule unter sich begraben. Die Mühle von Hallkel und einige andere Häuser waren in den Bach gestürzt und die Trümmer hatten sein kaltes Wasser gestaut. Der Bach, seines Bettes beraubt, bahnte sich mühsam einen Weg durch das Trümmerfeld und viele der Verschütteten waren in dem sonst so friedlich und munter fließenden Wasser jämmerlich ertrunken.

So wie der Bach das Dorf Hallkel überflutet hatte, so überfluteten all die Erinnerungen nun Hanrek und stürzten ihn in die Wirklichkeit der letzten beiden Tage. Das viele Leid der Dorfbewohner bedrückte ihn und zog ihm die Kehle zu.

Vor lauter Erschöpfung hatte er sich vor einigen Stunden an den Rand des Dorfes geschleppt und war direkt neben der Straße eingeschlafen. Es war Nacht, doch der Himmel dämmerte bereits. Hanrek konnte neben sich noch andere Gestalten erkennen, Manche schliefen den Schlaf der Erschöpften, andere waren verletzt aus den Trümmern gerettet worden und lagen jetzt zitternd und blutend auf der nackten Erde. Viele hatten schmerzverzerrte Gesichter, andere einen starren leeren Blick. Wieder andere stöhnten im Schlaf. Im Dorf brannten Fackeln. Sie beleuchteten die furchtbare Szenerie nur mäßig, zeigten aber an, wo Menschen verzweifelt in den Trümmern arbeiteten.

Zum Glück war Pirion, Hanreks Vater, vom Pflug nicht verletzt worden und so war Hanreks Familie eine der wenigen gewesen, die keine Verluste zu beklagen hatte. Ja, einige Schweine und Hühner hatten sie verloren und auch ihr Haus war eingestürzt aber ihre Nachbarn hatte ein viel größeres Unglück ereilt. Der Werkzeugmacher des Dorfes und sein Sohn waren von dem herunter stürzenden Dach ihrer Werkstatt erschlagen worden. Die Frau des Werkzeugmachers Klaudia und ihre Tochter Miria hatten unverletzt überlebt, wenn man bei dem Schock, den sie davon getragen hatten, von unverletzt sprechen konnte. Der Müller und auch der Wirt des einzigen Gasthauses im Dorf hatten jeweils ihre Frau verloren. Außerdem war der Tel, der gewählte Vertreter des Dorfes, gestorben. Es waren viele Verwandte und viele Freunde zu beklagen.

Nach wie vor gab es Hoffnung, Überlebende aus den Trümmern zu retten aber sie wurde von Stunde zu Stunde geringer. Hanrek wälzte sich schmerzhaft über den spitzen Stein und kam auf die Füße. Auch er würde dabei gebraucht werden, die noch Lebenden aber auch die Toten aus den Trümmern zu tragen.

***

Schull zügelte das Tier, auf dem er ritt. Sofort hielten die hinter ihm laufenden Marschierenden an. Es war gefährlich einem Exzarden von hinten zu nahe zu kommen. Schull betrachtete die Szenerie vor sich und kratzte dabei gedankenverloren mit seinem spitzen Stock den Nacken seines Exzarden Carmeon.

Es war, wie der Hirtenjunge gesagt hatte. Eine Lawine hatte fast das ganze Bergdorf, in dem er gelebt hatte, weggerissen. Es standen nur noch einige wenige Überreste. Bis auf ihn waren alle gestorben. Der Junge hatte Glück gehabt, weil er sein Vieh gehütet hatte und nicht im Dorf gewesen war.

Von hinten kamen unterdrückte Schluchzer von dem armen Kerl. Es war unmenschlich, den Jungen so kurz nach diesem schweren Unglück wieder an die Unglücksstelle zu treiben. Aber er musste ihnen den Weg zeigen, nicht den Weg zu seinem Dorf, nein, sondern den Weg in die Berge an eine bestimmt Stelle, die nur er kannte. Er hatte Dinge behauptet, die man besser nur behauptete, wenn man sicher war, dass sie wahr waren, vor allem wenn man das gegenüber dem Kommandanten tat.

Schull drehte sich zu seinen Begleitern um. Einer der Soldaten hatte den Jungen gestützt und tätschelte ihm unbeholfen den Kopf. Fragend schaute Schull den Soldaten an. Mit einem Schulterzucken ließ dieser die ungesagte Frage unbeantwortet. Die Soldaten waren an Kämpfe, Tod und Verletzungen gewohnt, aber sie wussten nicht mit einem Jungen umzugehen, den der Schmerz des persönlichen Verlusts überwältigte.

Schull gab dem Soldaten einen Wink, damit er den Jungen zu ihm brachte. Auf einem Exzarden reiten zu dürfen, würde ihn ablenken. Und tatsächlich wurden die geröteten feuchten Augen ganz groß, als sie ihn auf das Tier hoben und vor Schull in den Sattel setzten.

Kurze Zeit später gab Schull Carmeon das Kommando. Hier konnten sie nichts mehr helfen. Der gut abgerichtete Exzard trottete mit schwerem aber sicherem Schritt den Weg entlang, der oberhalb des ehemaligen Dorfes weiter in die Berge führte. Sein mächtiger stachelbewehrter Schwanz schwang im Rhythmus seiner Schritte hinter ihm hin und her und fegte dabei den fest gefrorenen Schnee zur Seite.

Der Weg war durch die Lawine ebenfalls verschüttet, Schnee, Geröll und abgerissene Baumstämme bedeckten ihn, doch das würde für seinen Exzarden kein Problem sein. Auch Schull konnte als Flüsterer genau wie sein Reittier den Weg darunter klar und deutlich erkennen. Zusammen waren die beiden ein unschlagbares Team.

Es war ein sehr beschwerlicher Weg für alle Beteiligten und es dauerte noch einige Stunden, bis sie an der Stelle angekommen waren, die ihnen der Hirtenjunge beschrieben hatte. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Schull hielt an, ließ den Jungen absteigen und bat ihn voraus zu gehen. Nach weiteren fünfzehn Minuten hielt der Junge, drehte sich um und deutete wortlos mit ausgestrecktem Arm nach vorne.

Was Schull da sah, ließ ihm den Atem stocken. Vor ihnen im Süden lag tief unter ihnen eine Ebene, eine riesige Ebene. Aber nicht die Größe war das Ungewöhnliche, nein, große Ebenen gab es in Narull viele. Das Ungewöhnliche war, dass sie bewaldet, grün und schneefrei war. Kein noch so kleiner Flecken Schnee oder Eis war zu sehen. Es musste dort sehr warm sein. Der Junge hatte wahrhaftig einen Weg durch das Gebirge gefunden und Schull wurde mit einem Schlag die Tragweite dieser Entdeckung bewusst.

Für Narull war soeben eine neue Zeit angebrochen.

***

In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten schien es allen, als ob die Arbeit nicht zu bewältigen wäre. Für das Beklagen der Toten blieb wenig Zeit. Außer dem Wiederaufbau des Dorfes mussten die anderen Arbeiten mit weniger Leuten verrichtet werden. Das Bestellen der Felder, Füttern der Tiere, Melken der Kühe und was täglich so alles anfiel, durfte nicht vernachlässigt werden, wenn sie nicht im nächsten Winter Hunger leiden wollten. Die Winter im Norden waren kalt und lang. Doch sie hatten, was das Wetter betraf mit dem milden Frühling Glück. Vor allem zu Beginn, als keiner ein Dach über dem Kopf hatte, blieben sie von übermäßiger Kälte, Regen oder gar Schnee verschont.

Pirion, Hanreks Vater, wurde eine besondere Ehre zu Teil. Das Dorf wählte ihn zu ihrem neuen Tel. Doch mit dieser Ehre war natürlich insbesondere in dieser schweren Situation auch viel Verantwortung verbunden.

***

Hanrek war schon recht groß gewachsen für sein Alter aber er war noch lange nicht ausgewachsen und das, obwohl er schon seit einiger Zeit seinen Vater überragte. Dass er noch länger und breitschultriger werden würde, ließ sich vermuten, da seine Hände und Füße im Verhältnis zu seinem restlichen Körper sehr groß waren und er vermittelte auch sonst den Eindruck, als ob er noch nicht ganz Herr in seinem Körper wäre.

Sein Vater war eher stämmig und breit. Die körperliche Größe hatte Hanrek von seiner Mutter, die für eine Frau recht hoch gewachsen war. Auch die dunklen fast schwarzen Haare hatte er von ihr. Seit dem Winteranfang hatte er seine Haare nicht mehr schneiden lassen und jetzt fielen sie ihm in dunklen Locken über die Schulter. Woher er seine tiefblauen Augen hatte, wusste er nicht. Sowohl seine Eltern als auch sein jüngerer Bruder Stonek hatten braune Augen wie die meisten Bewohner in dieser Gegend des Königreichs. Sein Bruder sah ihm sonst aber bemerkenswert ähnlich, wobei er bis jetzt noch um einiges kleiner war.

Es war genau in den Tagen, in denen das ganze Dorf draußen unter freiem Himmel kampieren musste, als Hanrek eine Veränderung an sich spürte. Nein es war nicht das Bewusstsein, dass er größer und breitschultriger wurde, dass ihm die ersten Barthaare sprossen oder dass ihn öfter die neuen und manchmal erschreckend befremdlichen Gedanken und Wünsche eines normalen Vierzehnjährigen befielen. Nein es war eine Empfindung, die er nachts auf seinem Strohlager im Freien hatte.

Tagsüber ging die Zeit angefüllt mit Arbeit wie im Flug vorüber. Wie alle anderen hatte auch er kaum Zeit sein Essen in Ruhe zu genießen, sondern er schlang es hinunter, die nächste Aufgabe schon wieder vor sich. Nur spät abends, wenn das Dorf zur Ruhe gekommen war, fand er die Zeit, darauf zu achten.

Anfangs war es wie eine leichte Berührung, die er spürte, wenn er sich ganz entspannte. Sie kam aus der Erde, auf der er lag. Wenn er sich darauf konzentrierte, hatte er den Eindruck, dass er fühlen konnte, wie das Gras um ihn herum wuchs. Diese Empfindungen waren so verstörend, dass er mehrfach aufsprang und verwirrt in der Dunkelheit umher ging.

Zurück auf seinem Lager und mit der nötigen Konzentration vor dem Einschlafen meinte er erneut zu spüren, wie sich die Wurzeln des Grases in die Erde gruben. Er meinte die Insekten im Gras zu fühlen und die Würmer im Boden, ja er hatte sogar das Gefühl zu spüren, wie die Wurzeln der umliegenden Bäume durstig Wasser aufsaugten.

Hanrek zweifelte an sich und hatte das Gefühl verrückt zu werden und doch hatten diese verstörenden Empfindungen zugleich auch eine beruhigende Wirkung auf ihn, da er in diesen Momenten mit seiner Umgebung verschmolz, so sehr, dass er darüber seinen eigenen Körper fast vergaß.

Hanrek war hin und her gerissen, er hätte Zeit benötigt, um in Ruhe über die Empfindungen nachdenken zu können aber die hatte er wegen der vielen Arbeit nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte sich seiner Mutter oder seinem Vater anvertrauen und tat es dann doch nicht, aus Angst sie würden ihn tatsächlich für verrückt halten oder es als Spinnerei eines Heranwachsenden abtun. Einerseits freute er sich auf die Nächte und andererseits hatte er Angst davor.

Denn mit jeder Nacht, die er im Freien verbrachte, wuchs die Intensität, mit der er seine Umgebung über die Erde fühlen konnte. Auch der Radius wurde größer. Die Gefühle schlossen zunehmend auch Lebewesen ein, die sich bewegten, wie die kleinen Feldmäuse, die ganz in der Nähe ihren Bau hatten, einen herumstreunenden Fuchs und schließlich die um ihn lagernden Menschen und Haustiere. Er konnte wahrnehmen, ob seine Mitmenschen Angst hatten oder sich freuten, ob sie sich wohlfühlten oder Schmerzen hatten.

Diese Eindrücke waren es, die ihm besonders Angst machten, denn einerseits übertrugen sich die Stimmungen auf ihn und andererseits kam er sich wie ein böser Eindringling vor, der unerlaubt an Dingen teil hatte, die ihn nichts angingen.

Hanrek begann sich zu verschließen, wollte die Gefühle der anderen aus seinem Leben halten und schaffte es doch nicht. Dieser Konflikt dauerte über Tage, Wochen und Monate und zerriss in fast.

Und doch gab es auch etwas, was ihm in diesen Konflikten half. Es waren die Bäume um ihn herum. Wenn er sich öffnete und in seiner Umgebung Bäume spürte, vermittelten diese ihm einen Frieden, der ihm bis in die Fingerspitzen drang. Und mit dem Bewusstsein, dass dieses Gefühl des Friedens nichts Schlechtes sein konnte, bezwang er nach und nach den inneren Konflikt und ließ sich auf die Veränderungen ein.

Und auch wenn er lange sehr darunter gelitten hatte, bezeichnete er in seinen Gedanken das, was er nachts empfand, als die „Gabe“.

Je größer der Radius wurde und die Intensität wuchs, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er lernen musste, die Gabe zu beherrschen. Denn die Empfindungen um ihn herum waren so stark und so zahlreich, dass die Gefahr bestand, dass er sich selbst vergaß und dass sie ihn fortspülten. Aber er traute sich immer noch nicht, jemanden um Hilfe zu fragen.

So lernte er allmählich, ganz ohne fremde Hilfe, das Gefühlte gegeneinander abzugrenzen, einzelne Empfindungen auszuschließen und er lernte, sich auf bestimmte Gefühle zu konzentrieren. Wochenlang arbeitete er jede Nacht daran und manchmal war er sogar tagsüber in der Lage sich auf die Gabe einzulassen.

Immer weiter verfeinerte er die Gabe, sodass er schließlich sogar feststellen konnte, dass der Schmerz, den ein vorbeistreunender Fuchs in der Pfote litt, durch einen Dorn hervorgerufen wurde, der noch im Fußballen steckte. Er lernte, dass er die Gabe nicht einsetzen konnte, wenn er selbst oder das, was er erspüren wollte, auf Stein stand. Anfangs verwirrte es ihn jedes Mal, wenn er einem Tier nachspürte, das lief und dabei auf Steine trat. Die Verbindung wurde dann so jäh unterbrochen, dass es ihm vorkam, als wäre er plötzlich blind geworden. Im nächsten Moment war der Kontakt dann wieder da, was ihn genauso verwirrte. Eben noch blind und plötzlich im grellen Sonnenlicht.

Die Gabe wurde mehr und mehr ein Teil seiner selbst aber nach wie vor scheute er sich, mit jemandem darüber zu reden, sondern er hütete sie wie einen wertvollen Schatz. Er hatte noch nie von etwas Vergleichbarem gehört. Vielleicht war er ja der Einzige, der so etwas fühlen konnte.

***

Die meisten Trümmer waren mit vereinten Kräften notdürftig an den Waldrand geschafft worden. Dort lag jetzt ein riesiges Feld von zersplitterten Holzbalken. Zum Bauen konnte man dieses Holz nicht mehr verwenden, lediglich zum Verfeuern taugte es noch. Im nächsten Winter würde der riesige Holzberg merklich schrumpfen.

Allmählich wurde im Dorf ein Haus nach dem anderen wieder aufgebaut. Eine Familie nach der anderen konnte nachts zum Schlafen in ihr Haus zurückkehren. Auch Hanreks Familie konnte nach einigen Monaten in ihr zwar noch unfertiges Haus umziehen, aber zumindest ein Dach über dem Kopf hatten sie wieder. Im ganzen Haus roch es nach frischem Holz. Die gemauerten Wände waren noch feucht, die Einrichtung dürftig und der Garten hinter dem Haus war ein einziges Schlammfeld.

„Links. Rechts. Links. Rechts. Fannilo, gut so. Hanrek, nicht die Beinarbeit vernachlässigen. Hansen, nimm die Deckung höher.“

Klack, klack,

Klack, klack,

machten die Stäbe mit denen Hanrek und vier weitere seiner gleichaltrigen Freunde unter der Aufsicht von Spartak dem Ausbilder der Dorfwehr den Stockkampf übten.

„Alle Mann, halt.“, rief Spartak.

Sofort ließen die vier Kämpfer die Stäbe sinken. Der Fünfte, der wartend an der Seite im Stroh gesessen hatte, kam auf die Füße und näher, sodass sie alle erwartungsvoll vor Spartak standen und auf die nächste Lektion warteten.

Spartak war zweiundzwanzig Jahre alt und ein durchtrainierter untersetzter Mann, der seit drei Jahren die Aufgabe des Ausbilders übernommen hatte. Er widmete sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe und nichts war ihm zu viel, wenn es um die Ausbildung seiner Schützlinge ging.

„Ihr wisst, dass es ein Stockkämpfer ohne große Schwierigkeiten auch mit einem Schwertkämpfer aufnehmen kann. Wenn der Stockkämpfer seinen Stab aber so einsetzt wie ein Schwert, wird er keine Chance haben. Der Vorteil des Stabs liegt in seiner größeren Reichweite, seinem leichteren Gewicht und vor allem in seiner Vielseitigkeit. Am besten zeige ich euch an einem praktischen Beispiel, was ich mit Vielseitigkeit meine. Hansen, komm her!“

Die beiden stellten sich in Position.

„Wir beginnen so wie die letzte Übung mit links, rechts, links, rechts. Du machst einfach immer weiter die gleichen Angriffs- und Abwehrbewegungen wie bisher.“, sagte Spartak zu Hansen gewandt.

„Ich werde dann meine Angriffsbewegungen, sagen wir, ein wenig anpassen. Du brauchst keine Angst zu haben Hansen. Ich werde dich nicht verletzen.“

Dabei klopfte er seinem Schüler beruhigend auf die Schulter.

Die beiden begannen die Übung.

Klack, klack,

Klack, klack.

Gleichmäßig wurden Angriffs- und Verteidigungsbewegungen vorgetragen.

Plötzlich ohne erkennbare Änderung in der Bewegung schlug Spartak in der Angriffsbewegung nicht zu sondern wich dem Schlag aus und ließ gleichzeitig seinen Stab durch die Finger gleiten, sodass das längere Ende nicht mehr oben sondern unten war. In der gleichen fließenden Bewegung fädelte er das nun längere untere Ende zwischen Hansens Stab und seiner rechten Armbeuge ein. Eine kurze Körperdrehung, und Hansen segelte in hohem Bogen durch die Luft. Da sie das Fallen oft genug geübt hatten, tat er sich bei dem spektakulären Wurf zwar nicht weh, ein wenig verdutzt schaute er aber schon aus, als er von unten zu seinem Lehrer hoch schaute.

„Das ist der Grund, wieso ich dir vorhin sagte, dass du die Deckung hoch nehmen sollst. Wenn du es nicht tust, gibst du damit dem Angreifer die Möglichkeit diese Finte anzuwenden.“

Nach dem Erdbeben hatte Spartak gegen Ende des letzten Herbstes damit begonnen, den nächsten Jahrgang der heranwachsenden jungen Männer im Kampf auszubilden. Neben dem Stockkampf waren dies der Schwertkampf und das Bogenschießen. Die Ausbildung im Kampf war ein Gesetz des Königs und sollte sicherstellen, dass in seinem Königreich immer genug Soldaten für seine Armee zur Verfügung standen. In anderen Landesteilen war das viel wichtiger als in der Stadt Haffkef und in seiner Umgebung. In Haffkef gab es keine Garnison und keine Soldaten. Lediglich eine Stadtwehr war vorhanden und in den umliegenden Dörfern die Dorfwehren. Und diese beschäftigten sich vor allem mit wilden Tieren wie Wölfen und Bären, die in kalten Wintern manchmal aus den nahen Bergen in die Ebene herunterkamen. Es gab auch keine Räuberbanden hier, die die Gegend unsicher gemacht hätten.

„Räuber sind vor allem ein Zeichen dafür, dass das Land seine Bewohner nicht ernähren kann oder dass der König das Land ausbeutet.“, sagte Pirion, Hanreks Vater immer, wenn es auf dieses Thema kam.

„Wer will schon geächtet und verfolgt irgendwo im Wald leben, wenn er auch in einem Dorf unter einem ordentlichen Dach leben kann?“

Als Stadt im hintersten nördlichen Winkel des Königreichs war es ziemlich unwahrscheinlich, dass Haffkef und seine Umgebung mit Krieg zu tun hatten. Und selten zog es einmal einen der jungen Männer in eine der Städte im Süden, um sich dort als Soldat zu verdingen. Und wenn es einer tat, kam er nach seinem Dienst in der Armee sicher nicht in den kalten langweiligen Norden zurück.

Ziemlich genau ein Jahr war seit dem schrecklichen Erdbeben vergangen. Erst im Herbst waren die Aufräum- und Aufbauarbeiten so weit gediehen, dass ein geregelter Ablauf im Dorf wieder möglich war. Das bedeutete, dass erst seit dieser Zeit die kleineren Kinder wieder Schule hatten und die größeren Jungs ab vierzehn Jahren ihre Ausbildung an den Waffen bekamen.

Die kleineren Kinder, zu denen auch Hanreks zwölfjähriger Bruder Stonek gehörte, wurden von Zacharia dem Dorfgelehrten unterrichtet. Er lehrte sie neben Lesen, Schreiben und Rechnen in allen Fragen der Bräuche und der Kultur des Königreichs. Er beantwortete ihnen gerne so Fragen wie nach dem Alter des Königs oder wieso alle Dörfer auf „el“ enden und die Städte mit „ef“.

„In unserem Königreich enden fast alle Dorfnamen auf „el“. Damit erkennt man, ob von einem Dorf oder einer Stadt gesprochen wird. Fast alle Städte enden auf „ef“. Lediglich die Städte des Königs enden auf „om“. Wenn also unsere Stadt eine Stadt des Königs wäre, würde sie nicht Haffkef sondern „Haffkom“ heißen. Aber dafür ist unsere Stadt zu klein und unbedeutend.“

Jedes Mal, wenn Hanrek Zacharia davon reden hörte, dass die Stadt Haffkef klein sein sollte, hielt er ihn für einen Aufschneider, weil er bei jedem Besuch in der Stadt mit offenem Mund die großen Häuser, die Gärten, den schönen Brunnen und die hohe Stadtmauer bewunderte. Der Lärm auf den Straßen mit den vielen Pferdekarren und Menschen erschreckte ihn jedes Mal. Er war sich sicher, dass er sich nie daran gewöhnen würde.

Zacharia fuhr mit seiner Erklärung fort.

„Insgesamt gibt es dreizehn Städte des Königs. Die Wichtigste ist aber die, in der der König selbst lebt und regiert. Das ist Kiroloom. Ihr Name endet zur Ehre des Königs auf „oom“. Und dementsprechend enden die Namen der Dörfer in der Nähe einer Stadt des Königs mit „ol“ und Dörfer in der Nähe von Kiroloom mit „ool“.“

Spartak hieß sie, sich für die nächste Übung aufzustellen. Hanrek mochte den Stockkampf und das Bogenschießen. Dagegen mochte er den Schwertkampf überhaupt nicht. Obwohl sie bisher nur mit Holzschwertern geübt hatten, bereitete ihm der Gedanke an abgeschlagene Arme und Beine Übelkeit.

Hanreks Gedanken schweiften zum Bogenschießen ab. Seine Gefühle für das Bogenschießen waren zwiespältig. Anders als der Schwert- und Stockkampf, den sie in einem geschlossenen Raum übten, fand das Bogenschießen am Dorfrand statt. Da es im Freien war, konnte er ohne Probleme die Gabe einsetzen. Er konnte daher das Ziel nicht nur sehen sondern auch fühlen. Irgendwie war es dadurch besonders einfach zu treffen, was ihm jedes Mal ein anerkennendes Nicken von Spartak einbrachte. Da es aber draußen war, fand sich jedes Mal nach einer gewissen Zeit eine immer größer werdende Zuschauermenge ein. Unter anderem versammelten sich die gleichaltrigen Mädchen, die tratschten und jeden Schuss der Jungs kommentierten. Darunter war auch Miria die Nachbarstochter.

Miria war ungefähr einen Kopf kleiner als Hanrek, sie hatte zierliche Glieder. Ihre rotbraunen gelockten Haare, trug sie meist offen. Einen ziemlichen Kontrast zu ihren Haaren bildeten ihre grünen Augen in ihrem braun gebrannten Gesicht. Ein keckes Grübchen verlieh ihrem Gesicht immer den Ausdruck, als ob sie gleich anfangen wollte zu lachen, selbst wenn ihr gar nicht zum Lachen zumute war.

Seit einiger Zeit konnte Hanrek sich immer dann, wenn er sie sah oder auch nur an sie dachte, nicht mehr konzentrieren. Er stammelte, wenn sie sich trafen und sie ihm eine Frage stellte. Er fiel über seine eigenen Füße, wenn sie nur zufällig einmal in seine Richtung schaute. Und natürlich traf er keinen Schuss mehr beim Bogenschießen, sobald er sie unter den Zuschauern bemerkte, was ihm jedes Mal prompt einen tadelnden Blick von Spartak einbrachte.

„Autsch.“

Da war es passiert. Er war nur durch den Gedanken an Miria unkonzentriert gewesen und sein Gegenüber hatte ihm den Stab schmerzhaft aus der Hand geschlagen, sodass er mit lautem Klappern zu Boden fiel.

„Hanrek“, tadelte Spartak ihn aufgebracht, „Das ist für einen Drachentöter nicht würdig. Konzentriere dich gefälligst auf die Übung, die wir machen. Wenn du weiter so träumst, darfst du später den Übungsraum alleine aufräumen.“

Um ihn bei der Ehre zu packen, hatte Spartak absichtlich seinen Spitznamen „Hanrek, der Drachentöter“ verwendet.

„Hanrek, der Drachentöter“ nachdem ihn seine Eltern benannt hatten, war der Held aus einem Märchen. Jeder kannte dieses Märchen und die Geschichte, wie Hanrek den letzten Drachen getötet hatte. Vielleicht hatte es diesen Hanrek ja wirklich gegeben, denn zumindest Drachen gab es keine mehr. Hanrek hatte in seinem fünfzehnjährigen Leben wahrscheinlich schon alle Vor- und Nachteile kennengelernt, die es hatte, wenn man nach einem Helden benannt war. Selbstverständlich war immer nur einer in Frage gekommen, wenn sie als kleine Kinder gespielt hatten und die beliebte Rolle des unschlagbaren Helden zu vergeben war. Leider musste sich ein Held auch immer heldenhaft und vor allem ehren- und tugendhaft verhalten. Dieser Teil hatte ihm meist weniger gefallen, besonders da diese Eigenschaft eines Helden immer dann gefragt war, wenn es ums Teilen einer Leckerei oder die Verrichtung einer ungeliebten Arbeit ging.

Ein Teil des Märchens war ein Gedicht. Mehrere Strophen des Gedichts wurden als Abzählreime oder für Hüpfspiele verwendet. „Erde, Feuer, Wasser, Stein …“ Diese hatte er immer gehasst, weil sie allzu oft als das Hanrek-Hüpfspiel oder als der Hanrek-Reim bezeichnet wurden. Da er aber oft mit seinem Namen und der Bezeichnung Drachentöter aufgezogen worden war, hatte er gelernt, sich dafür ein dickes Fell zuzulegen und statt sich darüber zu ärgern, den Spaß mit zu machen. So reagierte er auch jetzt auf die Provokation von Spartak mit einer Verbeugung vor seinem Übungspartner und gratulierte ihm lächelnd zu seinem Sieg als Drache über den unbesiegbaren Drachentöter. Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite. Als er seinen Stab vom Boden aufhob, hörte er zwar Spartak etwas von „frecher Lümmel“ in seinen Bart murmeln, aber sobald er wieder in Position stand, gingen alle wieder gut gelaunt an die Übungen.

Als die Übungsstunde zu Ende war, ermahnte sie Spartak.

„Euch ist klar, dass ihr wegen des Erdbebens im letzten Jahr ein halbes Jahr hinter dem her hinkt, was ihr eigentlich können müsst. Macht deswegen die Übungen, die ich euch gezeigt habe, so oft ihr könnt. Ihr könnt sie auch alleine machen. Wichtig ist nur, dass ihr die Bewegungen oft macht.“

Hanrek nahm sich das zu Herzen und übte so oft er konnte. Immer dann, wenn er seine Pflichten im Haus, Stall und auf den Feldern erfüllt hatte, nahm er seinen Stab und ging zum Üben auf eine nahe gelegene aber einsame Lichtung im Wald. Im Unterschied zu den gemeinsamen Übungsstunden hatte er bei seinen eigenen Übungseinheiten den Waldboden unter sich und konnte dadurch die Gabe einsetzen. Der Stab, den er dadurch erspüren konnte, wurde damit fast zu einem weiteren Körperteil. Mühelos gingen ihm deshalb die Bewegungen in Fleisch und Blut über. Das Gefühl für Bewegung und Stab ging ihm nach einer Weile auch in den gemeinsamen Übungsstunden auf Stein nicht verloren, sodass er schnell seinen Freunden voraus war. Da er schneller lernte als die anderen, zeigte Spartak ihm früher als den anderen neue schwerere Übungen. Auch diese lernte er sehr schnell.

Immer größer wurde der Abstand zu seinen Freunden und immer schwerere Aufgaben forderte Hanrek von Spartak, sodass dieser am Ende einer Übungsstunde im Sommer Hanrek anerkennend anlächelte und sagte.

„So Hanrek. Ich kann dir jetzt nichts Neues mehr beibringen. Du kannst alles, was ich kann und mehr. Und ich halte mich für einen guten Stockkämpfer.“

Das Urteil des Ausbilders wurde auch an den Tischen in der Dorfschenke diskutiert. Mehr als einmal kam Pirion abends mit stolz geschwellter Brust nach einem Bier aus der Schenke nach Hause, nachdem ihm seine Freunde anerkennend auf die Schulter geklopft hatten und ihm zu seinem Sohn gratuliert hatten.

Seine Eltern Zaras und Pirion merkten, dass sich Hanrek nach etwas mehr Freiraum und Freiheit sehnte und so entbanden sie ihn, nachdem im Sommer die Last der Arbeit nicht mehr ganz so drückend war, für einzelne halbe Tage von seinen Pflichten, die er immer gewissenhaft und gründlich erledigte. An diesen Tagen stand er morgens noch früher auf und eilte sich bei seinen Aufgaben, sodass er um die Mittagszeit fertig war. Dann packte er sich schnell etwas Proviant ein, schnappte sich seinen Stab und machte sich auf zu langen Wanderungen, in denen er bis zu den Ausläufern des nahen Gebirges kam.

Hanrek merkte, dass sich die Gabe langsam veränderte. Bisher hatte er sie empfunden wie ein Zuhörer, wie ein Aufwachender, der morgens im Halbschlaf den vielstimmigen melodischen Morgengesang der Vögel hört, ihn in seinen Traum einwebt und daraus für den Rest des Tages Kraft tankt. Nun fühlte er sich plötzlich in der Lage, dem harmonischen Gesang der Natur einzelne leise und zarte Töne hinzuzufügen. Leise, zart und vorsichtig mussten die Töne hinzugefügt werden, damit sie die Gesamtharmonie nicht zu stark veränderten oder sie gar für eine gewisse Zeit in einen Missklang verwandelten. Er unterstützte hier einen verkümmerten Grashalm beim Kampf um etwas mehr Licht. Er half dort einem Schmetterling, der es nicht schaffte, beim Schlüpfen seinen Kokon abzustreifen. Hanrek wusste, dass die Natur seiner Hilfe nicht bedurfte, aber, da sie wohl dosiert war, schadete sie auch nicht.

***

Hanrek döste vor sich hin. Er war an der entferntesten Stelle seiner Wanderung angekommen, und bevor er den Rückweg antreten wollte, ruhte er sich an einen Baum gelehnt noch etwas aus. Die Augen hatte er geschlossen und er ließ die Gabe schweifen. Er hatte seine Freude daran, eine Biene zu verfolgen, die an einer Blume eine Blüte nach der anderen anflog und dort nach Nektar saugte. Immer dann, wenn sie eine Blüte verließ und dadurch der Kontakt zu ihr abriss, versucht Hanrek zu erraten, auf welcher Blüte sie als nächstes landen würde. Hanrek war eins mit der Natur und er fokussierte sich ganz auf die nahen Blumen.

Was ihn warnte und hochschrecken ließ, war daher nicht seine Gabe sondern ein Zweig, der in der verträumten Ruhe so laut knackte wie ein Peitschenknall. Momente später hatte sich Hanrek einen Überblick verschafft.

Es handelte sich um eine große Zahl Männer, alle wie Jäger angezogen aber bewaffnet wie Krieger, die im Abstand von fünfzig Schritt zueinander in einer Reihe hintereinander direkt an ihm vorbei gingen. Sie gingen entspannt und doch konzentriert nach allen Seiten Ausschau haltend an ihm vorbei. Die Stelle, an der Hanrek saß, war von ihrer Position eigentlich gut einsehbar. Dass sie ihn noch nicht entdeckt hatten, lag wahrscheinlich einzig und allein daran, dass er sich die ganze Zeit nicht bewegt hatte und das wollte er auch weiterhin nicht tun, solange diese Männer in der Nähe waren.

Hanrek hatte keine Ahnung, wer diese Männer waren, sie sahen irgendwie fremdländisch aus und sehr kriegerisch. Sie machten ihm Angst. Waren dies Räuber, gab es vielleicht doch Räuber hier in der Gegend. Nein, entschied sich Hanrek, wie Räuber sahen sie nicht aus. Dafür waren sie zu gut gekleidet. Räuber stellte sich Hanrek irgendwie zerlumpter vor. Diese Männer sahen sehr diszipliniert aus, wie sie da an ihm vorbeizogen.

Und dann geschah es. Einer der Männer drehte seinen Kopf in seine Richtung und sah ihm direkt ins Gesicht. Der Mann war genauso erschrocken wie Hanrek, aber das währte nur einen kurzen Moment, denn dann stieß er ein lautes Kommando aus. Hanrek wartete nicht darauf, was daraufhin passieren würde, sondern er griff sich sein Bündel und seinen Stab und verschwand in die Büsche.

Er rannte so schnell er konnte. Mithilfe seiner Gabe stellte er fest, dass sie ihn verfolgten. Sie schwärmten aus, einige hatten ihre Schwerter gezogen und andere hatten ihre Bögen bereit gemacht.

Was wollten diese Männer von ihm? Er war ein armer Wanderer. Er hatte kein Geld bei sich, außer seinem Messer und seinem Bogen hatte er keine Waffen, er hatte nicht einmal Essen, das sie ihm abnehmen konnten. Hanrek lief. Es war ihm egal, was sie von ihm wollten. Er wusste nur eines. Er hatte große Angst vor ihnen.

Sie waren gut durchtrainiert und Hanrek schaffte es nicht, sie abzuschütteln. Er versuchte Haken zu schlagen aber wahrscheinlich machte er zu viel Lärm, sodass sie genau wussten, wo das Wild war, dass sie erlegen wollten.

Ranken zerrten an seinen Kleidern, dünne Äste schlugen ihm ins Gesicht und hinterließen dort rote Striemen. Hanrek spürt die Schmerzen nicht, er dachte nur an Flucht, er wusste, er musste diesen Männern entkommen. Er wusste instinktiv, hier ging es um sein Leben.

Sein Atem ging stoßweise, seine Seite stach. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Einer der Männer kam ihm immer näher, andere fielen dagegen zurück, ja es waren sogar die meisten, zu denen er den Abstand erheblich vergrößern konnte. Jetzt blieben sogar einige stehen und gaben die Verfolgung auf, doch der, der ihm am nächsten war, war nicht darunter, dieser holte im Gegenteil immer weiter auf. Die ursprünglichen fünfzig Schritt Vorsprung waren auf zwanzig Schritt geschrumpft. Die Angst und die Verzweiflung gaben Hanrek neue Kraft. Er lief und lief. Wenn er sich umdrehte, konnte er seinen Verfolger sehen. Leichtfüßig und mit federndem Schritt lief dieser und wich dabei elegant den Ästen aus, die durch Hanreks Flucht hin und her schwangen. Hanrek wurde klar, dass er diesem Läufer nicht entkommen würde. Verzweifelt sah er sich nach Rettung um, aber er wusste nicht, nach was er eigentlich suchen sollte. Fieberhaft erkundete er die Gegend vor sich mit der Gabe. Doch was würde ihm helfen.

Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Er musste sich seinem Gegner stellen aber einen offenen Kampf konnte er nicht riskieren. Es gab noch andere Verfolger, die zwar zurückgefallen waren, die aber sehr schnell aufholen würden, wenn er sich zu einem fairen Kampf stellen würde.

Hanrek suchte die Gegend ab, suchte nach einer Stelle, die ihn retten würde und dann entdeckte er sie. Er schlug einen Haken und rannte auf die Stelle zu. Es war eine Hecke aus Schlingpflanzen, die mehrere Bäume überwuchert und die Räume zwischen den Bäumen wie einen Vorhang vollständig ausgefüllt hatte. Die Hecke sah fast aus wie eine grüne Wand, sie war aber durchlässig.

Hanrek brach durch die Hecke hindurch. Wie er gehofft hatte, schwangen die herunterhängenden Äste der Schlingpflanzen zurück und bildeten hinter ihm erneut eine scheinbar undurchdringliche Wand. Hanrek blieb schwer keuchend und mit hoch rotem Kopf stehen und ging direkt hinter der Hecke in Stellung. Die Schlingpflanzen verdeckten ihn vollständig und damit waren sie perfekt für seinen Hinterhalt. Nur Momente später brach der Mann kraftvoll wie ein Wildschwein an fast der gleichen Stelle wie Hanrek durch die Hecke. Die Arme und Hände hielt er zum Schutz vor den Ranken vor sein Gesicht.

Hanrek zögerte nicht. Er packte seinen Stab mit fester Hand und donnerte ihn seinem Verfolger auf den Hinterkopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, ging der Mann ohnmächtig zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Hanrek gönnte sich noch einige erleichterte tiefe Atemzüge, bevor er verdeckt durch die Hecke seine Flucht fortsetzte. Der Vorsprung zu den restlichen Verfolgern war nach wie vor groß und jetzt war es ein Leichtes, die restlichen Verfolger abzuschütteln.

Körperlich und geistig völlig erschöpft kam Hanrek in Hallkel an, und nachdem sich die Nachricht von seinem Abenteuer im Wald herumgesprochen hatte, gab es natürlich im ganzen Dorf kein anderes Gesprächsthema mehr. Hanrek wurde lang und ausführlich befragt und danach wurde die Dorfwehr in Bereitschaft versetzt. Auch die Nachbardörfer wurden informiert. Vierzehn Tage lang wurden Wachen aufgestellt und die Dorfwehr patrouillierte ums Dorf aber nichts geschah und allmählich beruhigte man sich wieder und die Sache geriet langsam in Vergessenheit.

In der Folgezeit unternahm Hanrek keine größeren Wanderungen mehr, davon hatte er erst einmal genug. Er konnte den Vorfall nicht so schnell vergessen. Stattdessen machte er lieber kürzere Ausflüge in den nahen Wald. Meistens suchte er sich eine Waldlichtung und übte dort mit seinem Stab, manchmal war ihm aber auch mehr nach Bogenschießen zumute.

Mehr als einmal hatte er dabei das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Er suchte die ganze Gegend mit seiner Gabe ab, konnte aber niemanden entdecken und trotzdem ließ das Gefühl nicht nach. Es kribbelte ihn am ganzen Körper und ganz besonders an einer Stelle zwischen den Schulterblättern, genau dort, wo die Hand nicht mehr hinreichte, um sich zu kratzen. Hanrek hatte auch das Gefühl verfolgt zu werden, ständig drehte er sich nach Verfolgern um, um dann festzustellen, dass niemand da war, der ihn verfolgte. Dabei konnte er mithilfe der Gabe rundum die Gegend auf mögliche Verfolger prüfen und tat es auch. Und trotzdem.

Er schämte sich davon seinen Eltern zu erzählen und nach einer Weile tat er es als Spinnerei ab, die ihn als eine Folge des Ereignisses mit den fremden Männern im Wald anhing.

Erst nach Monaten war auch für Hanrek so viel Gras über die Sache gewachsen, dass er wieder eine größere Wanderung unternahm. Hanrek schlug dieses Mal eine andere Richtung ein als in seinen früheren Wanderungen. Er orientierte sich mehr in Richtung Fluss und er war dort weit in den Wald vorgedrungen.

Er hatte sich der Gabe weit geöffnet und genoss das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, das sich ergab, wenn ihm die Sonnenstrahlen mal direkt ins Gesicht fielen und mal von den Ästen und dem Blätterwerk der Bäume aufgehalten wurden.

Plötzlich spürte Hanrek über die Gabe eine Präsenz, die er vorher noch nie wahrgenommen hatte. Alarmiert blieb er stehen. Er konzentrierte sich und stellte fest, aus welcher Richtung die Empfindungen kamen. Dann wandte er sich in diese Richtung und ging zielsicher aber langsam und vorsichtig darauf zu. Die Präsenz war stark. Sie vermittelte Hanrek ein Gefühl von väterlicher Kraft und Stärke. Wenn er sie hätte beschreiben müssen, hätte er sie als königlich bezeichnet.

Er kam auf eine Lichtung und da stand er. Ein Heronussbaum. Hanrek hatte schon viel über diese Bäume gehört, aber dies war der erste, den er sah. Der Baum war riesig und seine ausladenden Äste reichten weit bis in die Lichtung hinein. Er wurde von der Sonne beschienen und seine sanft schaukelnden Blätter funkelten wie Gold. Hanrek blieb bewundernd am Rand der Lichtung stehen, genoss den Anblick und gab sich der Ruhe und dem Frieden hin, die der Baum ausstrahlte.

Der Heronussbaum war sehr selten im Königreich. Alles an dem Baum war wertvoll. Aus der harten dicken Rinde, die der Baum alle paar Jahre in Teilen abwarf, konnte man Holzschalen und Teller fertigen. Ihre glatt polierte Oberfläche schimmerte samtig und silbrig.

„Wer einen kompletten Satz Teller und Schüsseln aus Herorinde besitzt, kann auch den König zum Essen einladen.“, lautete ein Sprichwort im Königreich.

Das Holz des Heronussbaums bestand aus zwei Teilen, der äußeren weicheren Schale und dem harten Kernholz. Die Bezeichnung weiche Schale war eigentlich falsch, denn sie vermittelte den Eindruck, dass das Holz weich war. Die weichere Schale war härter als alle anderen Holzarten, die man kannte. Eine Säge oder Axt wurde schon an der weichen Schale sehr schnell stumpf, wenn man versuchte diesen Baum zu fällen. Man konnte einen Heronussbaum nicht fällen. Das Kernholz des Baumes war so hart, dass eine Axt eher zerbrach, als dass sie dem Baum eine merkliche Kerbe zugefügt hätte. Auch Feuer konnten dem Heronussbaum wenig schaden. Die Rinde und die Blätter konnten zwar einfach verbrannt werden. Bei der Schale tat man sich schon schwerer und das harte Kernholz war nicht brennbar. Dabei waren sowohl das Holz der Schale als auch das Kernholz sehr leicht. Wenn man das Holz der Schale zu Pulver zerrieb, war es für Heiler sehr wertvoll. Sie verwendeten es in kleinen Dosen in ihren Heiltränken. Es verbreitete einen unvergleichlichen Wohlgeruch, wenn man nur eine winzige Menge des pulverisierten Holzes verbrannte. Und schließlich war da die Heronuss, die Frucht des Baums. Heronussbäume trugen nur sehr unregelmäßig Früchte und dann auch nie mehr als 10 Früchte auf einmal. Man konnte die Früchte zwar pflücken, aber nur wenn sie vom Baum gefallen waren, waren die Früchte in der Lage zu keimen. Der Baum trug seine Früchte oft bis zu 3 Jahre, bevor sie reif waren und herunter fielen. Auch keimten die Früchte nicht in unmittelbarer Nähe eines anderen Heronussbaums.

„Eine ganze Reihe von Gründen, warum dieser Baum so selten vorkommt.“, hatte Zacharia der Dorfgelehrte gesagt, von dem Hanrek alles erfahren hatte, was er über den Baum wusste.

Was Zacharia ihm aber nicht sagen konnte, war, wie man das harte Kernholz bearbeiten konnte.

„Wenn weder Säge, Axt noch Feuer dem Holz etwas anhaben können, wie kann man dann Gegenstände aus ihm fertigen, eine Schale, ein Schmuckstück oder etwas anderes?“, hatte er im Unterricht gefragt.

„Das mein Junge“, hatte der Dorfgelehrte geantwortet, „ist das Geheimnis der Handwerker von Fissool. Diese Handwerker sind dazu in der Lage, aber sie hüten das Geheimnis wie ihre Augäpfel. Das Geheimnis wird von Generation zu Generation weitergegeben aber es darf nie die Handwerkerzunft in Fissool verlassen.“

Zuletzt hatte Zacharia beschrieben, dass die Nuss ungefähr walnussgroß sei und heruntergefallene Früchte gern von Feldmäusen „gestohlen“ werden.

„Stellt euch vor, was es für den Besitzer eines Heronussbaums heißt, wenn er 3 Jahre lang auf das Herabfallen der Nuss wartet und er dann feststellen muss, dass die Nuss zwar endlich heruntergefallen ist, dass aber eine freche Feldmaus nachts die kostbare Frucht als Wintervorrat in ihren Bau geschleppt hat. Daher werden in der Nähe des Baums immer viele Katzen gehalten.“

An all das musste Hanrek denken, als er verträumt an der Lichtung stand. Langsam und ehrfürchtig ging er auf den Baum zu. Als er nur noch ein paar Schritte vom Stamm entfernt war, sah er, wie auf der anderen Seite des Stamms ein Rabe mit seinem scharfen Schnabel etwas bearbeitete, das er mit seinen Krallen festhielt.

Mit einer Vorahnung eilte Hanrek auf den Vogel zu, der krächzend davon hüpfte und beleidigt seinen Schatz im Stich ließ.

Staunend betrachtete Hanrek, was der Rabe bearbeitete hatte.

Es war tatsächlich eine Heronuss.

Hanrek kramte in seinem Bündel und warf dem Raben einen Bissen von seinem Essen hin. Der Rabe stürzte sich auf den Ersatz für die Nuss und war besänftigt.

Eine Weile bestaunte Hanrek noch den Schatz, bevor er die Heronuss äußerst sorgsam in seinem Bündel verstaute.

Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, da fiel sein Blick auf einen Ast, der unter dem Baum im Gras lag.

„Donnerwetter ...“, entfuhr es Hanrek, „... heute habe ich aber Glück.“

Im Gras lag tatsächlich ein armdicker langer gerader Ast vom Heronussbaum. Die Blätter am Ast waren schon lange verdorrt aber dem Holz selbst merkte man nicht an, wie lange es schon im Gras gelegen hatte. Hanrek vermutete, dass ein Blitz in den Baum eingeschlagen hatte und dabei der Ast abgebrochen war. Er fand das war die einzig logische Erklärung. Er untersuchte den Ast und erkannte an der Bruchstelle tatsächlich eine Art Brandspur.

Als Hanrek nach einer Weile die Lichtung verließ, ließ er die Gabe fließen und versuchte dem Baum seinen Dank für Nuss und Ast zu vermitteln. Fast kam er sich dabei vor, wie ein kleiner Junge, der sich artig bei seinem Großvater für ein kostbares Geschenk bedankt. Zappelig und aufgeregt, weil er das Geschenk am liebsten gleich ausprobieren will und verlegen vor der Präsenz und Autorität des Großvaters. Der Eindruck verstärkte sich noch, als er das Gefühl hatte, dass ihm der Baum huldvoll zusprach.

Erregt kam er spät am Abend nach Hause. Als er seinen Eltern von den gefundenen Schätzen erzählte, übertrug sich die Aufregung auf die ganze Familie. Man beschloss, gleich am nächsten Tag über die weitere Verwendung von Ast und Nuss zu reden.

„Ich könnte die Nuss im Garten einpflanzen.“, schlug Hanrek vor.

Alle stimmten sofort zu.

„Bleibt nur die Frage wo.“, meinte Pirion.

„Am besten direkt in der Mitte, da hat er den meisten Platz.“

Auch dieser Vorschlag von Hanrek wurde angenommen.

Die Frage mit der Nuss war also schnell geklärt. Über den Ast diskutierten sie länger. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie sich vom Dorfschreiner Till Werkzeug leihen wollten. Anschließend wollten sie das Holz der Schale zerkleinern und dann zu Pulver zermahlen. Für das Mahlen wollten sie den Müller Smit um seine Unterstützung bitten. Was sie mit dem harten Kern machen würden, ließen sie sich offen, da sie noch nicht wussten, wie dieser aussehen würde.

Pirion und Hanrek suchten zuerst den Schreiner auf. Der erklärte sich gerne bereit, das gewünschte Werkzeug zur Verfügung zu stellen.

„Wenn ihr beim Schälen Hilfe braucht, ihr wisst ja, wo ich zu finden bin“, bot Till seine Hilfe an.

Es war harte Arbeit. Nach zwei Tagen hatte Hanrek das Holz der Schale vom Kern getrennt. Einen weiteren Tag benötigte er, um das Holz möglichst gut zu zerkleinern.

Für Hanrek war der Kern des Astes eine große Überraschung und eine große Freude. Als er Stück für Stück die Schale abschälte, kam ein langer heller Stab zum Vorschein. Der Stab war an dem einen Ende durch den Blitzschlag ganz gerade. Am anderen Ende, das entsprach der Stelle, wo der Ast in kleinere Äste verzweigt war, war er abgerundet. Der ganze Stab war bis auf eine kleine Erhebung an einer Stelle in der Mitte vollkommen glatt. Es war ein perfekter Stab für den Kampf.

Auch der Müller Smit erklärte sich bereit zu helfen.

„Hm.“, brummte er, als Hanrek mit dem Holz der Schale kam.

„Dann versuchen wir mal unser Glück.“

Diese Arbeit fand Hanrek wesentlich angenehmer. Einen ganzen Tag ließ der Müller die Mühlsteine angetrieben durch den Dorfbach auf dem Holz kreisen. Dann war er mit dem Ergebnis zufrieden.

„Bring mir morgen davon meinen Anteil, was immer ihr für angemessen haltet.“, brummte Smit in seinen Bart, als er ihm den Ledersack mit dem Holzmehl überreichte.

Ehrfürchtig saß die ganze Familie um den Küchentisch, auf den sie den Ledersack gestellt hatten.

„Ein wertvoller Schatz, der da auf dem Tisch steht.“, wiederholte Pirion zum wohl dritten Mal.

„Nun gut.“, holte Zaras tief Luft.

„Wie teilen wir ihn auf?“

Sie verständigten sich darauf, dass die Familie die Hälfte des Holzes behalten sollte. Von der anderen Hälfte zweigten sie etwas für Till, etwas für Smit und etwas für die Heilerin Kissas ab. Den Rest dieser Hälfte durfte Hanrek alleine behalten. Kissas war immer auf der Suche nach Heilkräutern und mit dem Überlassen des Holzes taten sie für das ganze Dorf eine gute Tat.

„So. Und jetzt müssen wir entscheiden, was mit dem Kern passieren soll.“

Pirion deutete auf den Kern des Astes, der fast nachlässig in der Ecke der Kammer an der Wand lehnte.

„Holst du ihn bitte her und legst ihn auf den Tisch, Hanrek.“

Folgsam stand Hanrek von seinem Stuhl auf, griff nach dem Kern und legte ihn behutsam in die Mitte des Tischs.

„Ich glaube mit dem musst du nicht ganz so sorgsam umgehen. Der bekommt nicht mal eine Schramme, wenn Tarpon unser Ackergaul mit seinen schweren Hufeisen darauf herumtrampelt.“, lachte Pirion.

Hanrek hatte vor der Unterredung seine Mutter beiseite genommen und ihr blumig seine Wünsche bezüglich des Kerns erzählt.

Seine Mutter hatte sich alles ruhig angehört und am Ende einfach gesagt.

„Wir werden sehen, Hanrek.“

Hanrek befürchtete das Schlimmste. Eigentlich hatte er doch den Ast gefunden. Seine Eltern mussten doch einsehen, dass ihm der Stab zustand. Er hatte doch schon die kostbare Heronuss und die ebenfalls wertvolle Schale in den Dienst der Familie gestellt.

In einem unbeobachteten Moment hatte er den Kern zärtlich in die Hand genommen und ihn dann ein paar Mal wie einen Kampfstab geschwungen. Er lag herrlich in der Hand, so leicht, so griffig. Sie konnten doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, den Kern für etwas anderes zu verwenden, ihn am Ende in Stücke schneiden zu lassen von diesen Leuten in Fissool. Wie würde er dort überhaupt hinkommen, was würde das kosten? Aber nichts von alledem sagte er nun. Er würde nicht auf seinem Recht bestehen, sondern sich dem Urteil der Eltern beugen. Er vermutete, dass der Stab ein Vermögen wert war. Dieses Geld konnten seine Eltern insbesondere nach dem Erdbeben gut gebrauchen.

Seine Eltern schauten sich lange an. Seine Mutter nickte seinem Vater fast unmerklich zu. Sie hatten lange über den Stab diskutiert und die Entscheidung war ihnen nicht leicht gefallen.

„Hm.“, sagte Pirion nach einer Weile.

„Ich habe Zacharia den Kern gezeigt und er schätzt, …“, Pirion stockte und zögerte das Ganze in die Länge, doch dann grinste er seinen Sohn spitzbübisch an „… dass Hanreks Kampfstab so viel wert sein könnte wie das ganze Dorf zusammen.“

Im ersten Moment wollte es Hanrek nicht gelingen zu verstehen, was sein Vater da gesagt hatte. Dann schlug er eine Hand vor den Mund.

Stonek grinste und sagte altklug.

„Jetzt hat Hanrek der Drachentöter einen legendären Kampfstab.“

So oft er konnte, verfolgte Hanrek in den nächsten Tagen mit seiner Gabe, wie die frisch eingepflanzte Nuss keimte. Schon nach wenigen Tagen zeigte sich der erste zarte Spross, der wie ein sehr kleiner Maulwurf die Erde vor sich herschiebt, einen kleinen Hügel aufwirft und dann den Kopf aus dem Hügel streckt.

Dann plötzlich war die Zeit für eigene Vergnügungen vorbei. Die Zeit der Ernte war da und für alle im Dorf gab es nur noch dieses Thema. Von früh bis spät waren alle verfügbaren Kräfte auf den Feldern. Man hatte vorher im Dorfrat einen Plan ausgearbeitet, in welcher Reihenfolge man die Felder abernten wollte. Und wie jedes Jahr kam immer alles ganz anders. Achsen von großen Karren brachen, Werkzeuge zerbrachen, Kinder wurden krank und mussten von ihren Müttern gepflegt werden, Brände brachen aus und das Wetter tat natürlich nie das, was es nach dem Plan des Dorfrats hätte tun sollen. Die Liste der Katastrophen war endlos. Alles in allem eine ganz normale Ernte.

Aber nicht für Hanrek. Sein Vater hatte ihm ein paar Tage vor der Ernte eine Sense in die Hand gedrückt und ihm gezeigt, wie man damit umgeht. Die erste Erfahrung, die Hanrek dabei gesammelt hatte, war die, dass er beim Sensen die Gabe besser nicht benutzte. Die dauernden gewaltsamen Eingriffe bei Gras und Getreide waren wirklich sehr unangenehm.

Hanrek hatte sich also wie jeder andere Schnitter vor einem Getreidefeld eingereiht und gemeinsam arbeiteten sie sich in das Feld hinein.

Was anfangs wie leichte Arbeit gewirkt hatte, wurde, je länger sie dauerte, zur reinsten Qual. Die Blasen an den Händen wurden erst riesig, dann blutunterlaufen bis sie letztlich zu Stellen an den Händen wurden, in die bei jedem neuen Streich heißes Blei gegossen wurde. Die ständige Drehbewegung sorgte dafür, dass ihm die Wirbelsäule und die ganzen Beine schmerzten. Wenn er sich abends ins Bett legte, konnte er trotz seiner Müdigkeit vor Schmerzen nicht einschlafen. Dann dachte er an Miria.

Durch eine glückliche Fügung war Miria dazu eingeteilt, hinter ihm das geschnittene Getreide zu Garben zu binden. Hanrek hatte sein Hemd abgelegt und arbeitete mit nacktem Oberkörper und kam sich dabei sehr männlich vor. Doch Hanrek tat sich nach wie vor schwer bei der Unterhaltung mit Miria und auch Miria schien nicht ganz unbefangen, daher unterhielten sich die beiden nur einsilbig und verkrampft.

Doch genauso wie die körperlichen Schmerzen eines Morgens bei Hanrek besser waren - die Muskulatur entkrampfte sich, auf den Blasen bildete sich dicker Schorf und schließlich ebenso dicke Schwielen - genauso entspannte sich die Situation zwischen Miria und Hanrek. Ausschlaggebend hierfür war ein Apfel mit dem dazugehörigen Wurm.

Die ganze Gruppe machte eine kurze Pause und Hanrek setzte sich unter den Schatten eines Apfelbaums. In dem Moment, in dem er sich entspannt mit dem Rücken an den Stamm lehnte, fiel ihm von oben ein großer Apfel auf den Kopf. Miria brach daraufhin in schallendes Gelächter aus. Gar kein Halten gab es mehr, als Hanrek ganz verdutzt den Apfel in die Hand genommen hatte und ein Wurm den Kopf aus dem Apfel gestreckt hatte. Er wand sich torkelnd aus dem Fruchtfleisch und machte den Eindruck, als hätte er zu tief ins Bierglas geschaut. Sie lachten beide, bis sie nicht mehr konnten.

Den Apfel zerschnitt Hanrek geschickt mit seinem Messer in drei Teile. Den einen Teil gab er Miria, den zweiten Teil behielt er und den dritten faulen Teil setzte er behutsam mit dem Wurm beiseite. Der Apfel war süß und der Saft lief ihnen an den Seiten der Mundwinkel hinunter. Danach waren sie beide in der Lage, entspannter miteinander umzugehen.

„Halt, nicht“, rief Miria laut.

Hanrek, der mitten in der Bewegung war, fuhr zusammen aber schaffte es, die Bewegung abzubrechen.

Diesmal waren sie beim Heu machen und Miria belud den Heuwagen mit dem Gras, das Hanrek vor ihr mit der Sense schnitt.

„Ich glaube, ich habe einen Hasen im Heu gesehen.“

Hanrek prüfte kurz die Gegend vor sich. Er stoppte den Fluss der Gabe sofort wieder. Miria hatte recht. Da saß unmittelbar vor ihm zusammen geduckt und sehr gut getarnt ein junger Hase im hohen Gras.

Ganz vorsichtig beugte er sich herunter und nahm das Langohr sachte auf den Arm. Das Herz des Häschens raste und es zitterte am ganzen Leib.

„Wenn du nicht gerufen hättest, hätte ich ihn getötet.“, sagte Hanrek bestürzt zu Miria.

„Ich danke dir.“

Einen Moment lang sah Miria Hanrek auf eigentümliche Weise an. So hatte sie ihn noch nie angesehen. Dann sagte sie leise, um den Hasen nicht noch mehr zu ängstigen.

„Setz' ihn da drüben am Waldrand auf den Boden. Dort wird ihm nichts geschehen.“

Zusammen gingen sie eng über das Häschen gebeugt zum Wald. Dort setzte Hanrek das zitternde kleine Häufchen Fell auf den Boden. Wie der Blitz und im Zickzack flitzte der junge Hase davon, sodass er in wenigen Augenblicken verschwunden war. Sie schauten ihm trotzdem noch einige Momente hinterher. Verstohlen schaute Hanrek zu Miria hinüber. Er wollte etwas besonderes sagen und er hätte gerne ihre Hand in seine genommen. Aber seine Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet und als er auf seine Hände hinunter sah, merkte er, dass sie von der Arbeit ganz schmutzig waren. Und dann strich sich Miria eine Strähne ihres Haars nach hinten, seufzte, drehte sich vom Waldrand weg und der vertraute Moment war vorüber.

So schnell, wie die Ernte über das Dorf hereingebrochen war, so schnell war sie auch wieder beendet. Natürlich gab es im Nachgang und als Vorbereitung auf den Winter immer noch sehr viel Arbeit. Die Arbeit in einem Bauerndorf endete nie. Aber zumindest gestanden Pirion und Zaras Hanrek wieder ab und zu einige freie Zeit für sich selbst zu. Es war wenig genug, und da die Tage kürzer wurden, wurde das wenige an Zeit noch einmal verkürzt.

Hanrek nutzte die Zeit, um seinen Stab auf seiner abgelegenen Lichtung gebührend einzuweihen. Der Stab war himmlisch und es war eine Wonne, mit ihm die Übungen zu machen.

Nach einer dieser Übungseinheiten schlenderte Hanrek verschwitzt in Richtung Dorf. Als er die Straße vom Dorf nach Haffkef kreuzte, erspürte er, dass aus Richtung der Stadt noch verborgen durch die nächste Biegung eine Gruppe von drei Reitern kam. Sie ließen ihre Pferde im Schritt gehen. Im ersten Moment dachte Hanrek wieder an sein Erlebnis mit den Männern im Wald. Daher blieb er zunächst verborgen von Büschen am Wegrand stehen und wartete auf die Gruppe.

Als sie näher kamen, erkannte Hanrek, dass einer der Reiter die Abzeichen für den Steuereintreiber des Königs trug. Über die Gabe erspürt Hanrek, dass bei dem Pferd des Mannes vorne rechts ein Stein unter dem Hufeisen eingeklemmt war. Das Tier hatte schon ganz leicht angefangen diesen Fuß zu schonen und in nicht all zu langer Zeit würde es deutliche Beschwerden haben.

Die anderen beiden Reiter waren wohl Gehilfen. Der Steuereintreiber war ein großer breitschultriger Mann, mit markanten Gesichtszügen, die aber nicht unfreundlich wirkten. Sein Haar war glatt nach hinten zu einem Zopf gekämmt.

Der eine seiner Begleiter war lang und dünn und hatte einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck. Sein braunes Haar war fettig und seine Kleider wirkten ungepflegt. Der andere Begleiter war klein und wirkte irgendwie verschlagen. Hanrek konnte nicht sagen, wodurch dieser Eindruck entstand. Vermutlich waren es das fliehende Kinn und die kleinen etwas zu nahe beieinanderstehenden Augen, die wieselflink hin und her gingen.

Hanrek zeigte sich und trat auf den Weg hinaus, die Reiter kamen näher. Als die Drei ihn erreicht hatten, begrüßte er sie mit dem Gruß des Königs.

Der Gruß des Königs war die förmliche Begrüßung im Königreich. Dazu streckte man die rechte Hand mit dem Handrücken nach oben gerade nach vorne aus und drehte dann die Handfläche nach oben. Dies sollte zeigen, dass man unbewaffnet war und nichts Böses im Sinn hatte. Im Dorf nutzte man den Gruß des Königs fast nie, aber wenn man Fremden begegnete, wurde er fast immer verwendet. Es galt dann als unhöflich, wenn man den Gruß nicht anbot.

Nachdem er diese förmliche Geste ausgeführt hatte und die Reiter den Gruß erwidert hatten, sprach Hanrek sie an.

„Guten Abend, mein Herr. Ist euch bewusst, dass euer Pferd lahmt?“

„Hm.“

Der Mann musterte Hanrek von oben bis unten.

„Nein, das habe ich nicht bemerkt. Was denkst du, welcher Fuß es ist?“

„Vorne rechts.“, kam die prompte Antwort Hanreks.

Der etwa fünfundzwanzigjährige Mann stieg vom Pferd, kam auf die andere Seite und fuhr mit der Hand am Bein des Pferdes entlang abwärts zum Huf.

„Geschwollen ist es nicht. Sei so gut und führe es mir ein paar Schritte am Zügel, damit ich mir das ansehen kann.“

Hanrek tat, wie er gebeten wurde.

„Hm.“, sagte der Steuereintreiber nach einer Weile.

„Ich denke, du hast recht.“

„Wenn ihr gestattet.“, sagte Hanrek.

Er nahm sein Messer aus der Tasche, hob den Huf an und begann den Dreck aus dem Huf zu kratzen. Als er an die Stelle kam, wo der Stein saß, ging er behutsamer zu Werk. Ganz vorsichtig, ohne dem Tier weh zu tun, hebelte er den Stein unter dem Hufeisen heraus.

„So mein Alter. Jetzt kannst du wieder schmerzfrei laufen.“

Dabei klopfte er dem Tier aufmunternd den Hals. Der Steuereintreiber hatte die ganze Zeit aufmerksam zugesehen.

„Gut gemacht, mein Junge.“, die beiden Gehilfen tauschten heimlich neidische Blicke.

„Wie ist dein Name?“

„Hanrek, mein Herr.“

„So wie Hanrek, der Drachentöter?“, fragte der Mann.

Die beiden Burschen grinsten sich hämisch an.

Hanrek verbeugte sich.

„So ist es. Zu euren Diensten, mein Herr. Ist euch unterwegs ein Drache begegnet, bei dem ich euch mit einer kleinen Heldentat beistehen soll.“

Der Steuereintreiber lachte.

„Nein, nein.“, sagte er schließlich.

„Nicht nötig. Du hast heute genug Heldentaten vollbracht.“

Dabei klopfte er seinem Tier, als ob er es belohnen wollte, den Hals und es war klar, dass diese Anerkennung für Hanrek bestimmt war.

„Und du brauchst mich nicht mit mein Herr anreden. Ich bin Lucek, der Steuereintreiber aus Haffkef, wie du vielleicht schon festgestellt hast.“

Hanrek nickte.

„Und das sind meine Gehilfen Rannold und Tonnir.“

Bei „Rannold“ deutete er auf den kleineren der beiden und bei „Tonnir“ auf den langen dünnen.

Hanrek schaute die beiden offen an, erntete aber nur abfällige Blicke. Er schätzte, dass die beiden ungefähr drei Jahre älter waren als er selbst.

„Wir sind auf dem Weg nach Hallkel. Kannst du uns sagen, wie weit das noch ist?“, fragte Lucek.

„Es ist nicht weit. Wenn ihr möchtet, kann ich euch begleiten.“, bot Hanrek an.

Lucek nahm dankend an. Rannold und Tonnir blieben auf ihren Pferden sitzen und ließen sie im Schritt hinter Lucek und Hanrek hergehen. Lucek ging neben Hanrek her und führte sein Pferd am Zügel hinter sich her. Dabei stellte er ihm viele Fragen. Wie das Erdbeben letztes Jahr war, wie viele gestorben waren, wie alt er sei, wie weit seine Ausbildung gediehen wäre und viele Fragen mehr. Hanrek beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß, und als sie den Dorfrand erreicht hatten, erklärte er ihm noch, wo die Dorfschenke zu finden war, verabschiedete sich und lief nach Hause.

Sein Vater horchte auf, als Hanrek erzählte, wen er ins Dorf begleitet hatte. Der Steuereintreiber war unerwartet gekommen.

„Stonek. Kannst du bitte bei den elf anderen Dorfratsmitgliedern vorbei laufen. Sag ihnen, ich würde sie bitten, zu uns zu kommen. In einer Stunde wäre gut. Ich möchte wegen des Steuereintreibers hier in unserem Haus ein kurzes Treffen haben. Hanrek, ich möchte, dass du auch dabei bist. Du sollst noch mal kurz berichten, was du mit dem Steuereintreiber gesprochen hast und wie er so ist.“

Stonek sauste los und eine Stunde später saß der ganze Dorfrat sowie Hanrek etwas beengt um den schweren Esstisch. Zaras hatte jedem das gewünschte Getränk in die Hand gedrückt. In kleinen Gruppen unterhielten sich die Frauen und Männer des Dorfrats. Dabei hatten viele eine besorgte Miene aufgesetzt. Da war Hirt der Bauer vom anderen Dorfende, Moreno der Dorfschmied, Zacharia der Dorfgelehrte, Wackes der Wirt von der Dorfschenke, der seinen Posten in der Schenke nur ungern verlassen hatte. Er hatte selbst kurz mit Lucek dem Steuereintreiber gesprochen und ihm ein Zimmer für die Nacht vermietet.

Pirion bat um Aufmerksamkeit.

„Wie ihr ja alle mitbekommen habt, ist heute Abend der Steuereintreiber aufgetaucht. Mein Vorschlag ist, dass vor allem der Dorfrat mit dem Steuereintreiber spricht. Die Gefahr, dass von uns jemand mit etwas prahlt, was der Kerl hinterher besteuern will, ist klein. Wir haben zwar alle nichts zu verbergen, aber solange wir den Mann nicht kennen und einschätzen können, halte ich das für den richtigen Weg.“

Im letzten Jahr war der Steuereintreiber wahrscheinlich wegen des Erdbebens nicht gekommen. Der jetzt aufgetauchte Steuereintreiber war neu und gänzlich unbekannt. Außerdem war er für einen Steuereintreiber sehr jung. Pirion vermutete, dass dieser sich noch profilieren wollte und daher übermotiviert war. Das waren Voraussetzungen, die die Gespräche vielleicht schwieriger machen konnten als nötig.

Hanrek und Wackes berichteten kurz über ihre Begegnungen mit Lucek. Für Hanrek war das eine sehr ungewohnte Situation. Und das eine oder andere Mal geriet er leicht ins Stocken, da er nicht wusste, ob er zu ausführlich berichtete. Immer wenn er stockte, suchte er instinktiv den Blick seiner Mutter, die sich dezent im Hintergrund hielt, da sie ja nicht Teil des Dorfrats war. Sie nickte ihm jedes Mal beruhigend zu und er fuhr dann jedes Mal bestätigt fort. Nachdem noch die eine oder andere Frage von den Dorfratsmitgliedern gestellt worden war, bedankte sich Pirion bei den beiden. Hanrek war dankbar, als es vorbei war und er merkte erst jetzt, dass er ganz durchgeschwitzt war.

Man besprach sich noch eine Weile und am Ende einigte man sich darauf, den Steuereintreiber zum Gespräch in die Schenke zu bitten.

Als alle gegangen waren, fragte Hanrek seinen Vater: „Warum macht ihr euch wegen Lucek so große Sorgen? Ich denke, er ist ganz nett.“

„Nun. Dass er ganz nett ist, wie du sagst, ist eine Sache. Aber wenn er die falschen Steuern erhebt, kann das für den einen oder anderen aus dem Dorf eine große Belastung sein. Wer will schon einen wertvollen Bullen verkaufen müssen, nur damit er die Steuern bezahlen kann. Natürlich unterstützen wir uns im Dorf untereinander, wenn einer in Not ist, so wie wir das ja schon immer getan haben, aber das sollte wenn möglich die Ausnahme bleiben und vor allem sollte es nicht an den Steuern liegen. Oder denk nur mal an die Ledersäckchen mit dem Holzmehl vom Heronussbaum, die wir im Keller vergraben haben oder gar an deinen Stab. Willst du den versteuern, nur weil irgendjemand seinen Mund nicht halten kann?“

„Oh.“

Da hatte Hanrek begriffen. Noch in der Nacht suchte er sich ein sicheres Versteck, in das er seinen geliebten Stab versteckte. Er nahm sich fest vor, seinen Stab bei nächster Gelegenheit so zu präparieren, dass keiner ihn als kostbar erkennen würde.

Am nächsten Vormittag traf sich wie verabredet der Dorfrat mit Lucek in der Schenke. Lucek gefiel die Idee sich mit nur wenigen im Dorf auseinanderzusetzen, da er dann nicht von Haus zu Haus gehen musste.

Der Steuereintreiber begann damit zu erzählen, dass der vorherige Steuereintreiber bei dem Erdbeben gestorben war.

„Er wurde mit zwei seiner Gehilfen in seinem Haus verschüttet. Man konnte alle drei leider nur noch tot bergen. Das ist natürlich auch der Grund, wieso im letzten Jahr niemand zum Eintreiben der Steuern gekommen ist.“

„Aber ihr wollt doch nicht ...“, setzte Pirion an.

Doch Lucek unterbrach ihn.

„Keine Sorge. Die Steuern vom letzten Jahr werden euch erlassen.“

Erleichtert atmeten die Dorfratsmitglieder am Tisch aus. Man unterhielt sich dann eine Weile über das Erdbeben und die Auswirkungen, die es hatte.

„Ich bin erst ein halbes Jahr nach dem Erdbeben nach Haffkef gekommen und natürlich ist viel schon wieder aufgebaut worden aber es gibt in der Stadt noch große Schäden und noch viel zu tun.“

Lucek fuhr fort.

„Der Tef hat mir erzählt, dass ihr um Hilfe ersucht habt, er hatte aber keine Möglichkeit welche zu schicken. Ich soll euch noch mal sein Bedauern mitteilen. Sobald er kann, will er euch selbst einmal besuchen.“

Die Unterredung stellte sich alles in allem als erfolgreich für die Dorfbewohner dar. Der Steuereintreiber war umgänglich und nicht unverschämt in seinen Forderungen und Pirion hatte den Eindruck, dass sie gut mit ihm auskommen würden. Doch dann kamen sie zu einem Punkt, der Pirion im Innersten traf.

„Wie ich ja bereits erzählt habe, sind der letzte Steuereintreiber und zwei seiner fähigen Gehilfen beim Erdbeben gestorben.“

Dabei warf Lucek unbewusst einen kurzen missbilligenden Blick auf die beiden Gehilfen, die an einem weiter entfernten Tisch ebenfalls in der Schenke saßen und dort schon mehrere Gläser Bier getrunken hatten. Pirion war sich fast sicher, dass sie Kirtan, die Tochter des Wirts mit unflätigen Bemerkungen belästigt hätten, wenn nicht ihr Meister in der gleichen Schenke gesessen hätte.

„Ich selbst bin jetzt seit einem halben Jahr in Haffkef. Die normale Anzahl an Gehilfen, die ein Steuereintreiber benötigt, liegt bei vier, ich habe zurzeit aber nur zwei Gehilfen und ich bin auf der Suche nach zwei neuen Jungen, die ich zu Gehilfen ausbilden kann. Heute habe ich einen davon gefunden. Es ist Hanrek.“

Pirion wollte sofort widersprechen. Aber es hatte ihm die Sprache verschlagen. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Als er dann seine Sprache wiedergefunden hatte, klang alles, was er vorbrachte, lahm gegen die selbstbewusst vorgetragene Forderung des Steuereintreibers.

„Ich weiß“, sagte Lucek, „das kommt jetzt sehr überraschend und ist für dich Pirion ein ziemlicher Schlag. Aber ich habe meine Wahl getroffen. Wie du weißt, habe ich heute Nachmittag Hanrek auf dem Weg hierher getroffen. Er hat erkannt, dass mein Pferd lahmt, ehe ich es bemerkt habe. Dann hat er mit einer ausgezeichneten Fingerfertigkeit den Stein aus dem Huf entfernt. Ich habe mich mit ihm unterhalten und habe festgestellt, dass er nicht auf den Kopf gefallen ist. Ich habe mich daraufhin über Hanrek im Dorf erkundigt und nur das Beste über ihn gehört. Sein Ausbilder war voll des Lobes über ihn und seine Fertigkeiten mit dem Stab. All das sind Eigenschaften, die er als Gehilfe eines Steuereintreibers gut gebrauchen kann. Und wer weiß, vielleicht wird er ja selbst einmal Steuereintreiber.“

Lucek fuhr fort.

„Wie du weißt, werden die Eltern des Lehrlings damit entschädigt, dass sie die nächsten beiden Jahre keine Steuern bezahlen müssen. Ich werde Hanrek nicht sofort mitnehmen. Ich mache meine Runde noch über die anderen Dörfer und komme auf dem Rückweg wieder vorbei. Dann nehme ich den Jungen mit.“

Nach einer Weile fügte er noch hinzu.

„Ich komme morgen bei euch vorbei und rede selbst mit Hanrek.“

In Hallkel war es Jahre her, dass ein Steuereintreiber von seinem Recht Gebrauch gemacht hatte, einen jungen Lehrling notfalls gegen den Willen der Eltern und des Lehrlings selbst einfach zu bestimmen.

Pirion ging niedergeschlagen nach Hause und berief trotz später Stunde einen Familienrat ein. Als alle um den Küchentisch versammelt waren, erzählte er die Neuigkeit.

Hanrek war wie vor den Kopf gestoßen. Er sollte das Dorf verlassen. Seine Familie, seine Freunde und die vertraute Umgebung einfach verlassen, um Gehilfe eines Steuereintreibers zu werden. Die Stadt, die ihm zwar immer gefallen hatte, die er aber für zu groß und zu laut empfand, das sollte plötzlich der Ort sein, wo er lebte, aß, arbeitete und wohnte. Er vermisste jetzt schon seine Freunde im Dorf, die Felder, seine Wanderungen im Wald, die Lichtung auf der er mit seinem Stab übte.

Warum war er auch nur Lucek auf dem Weg begegnet und warum war er so dumm gewesen, sich in den Vordergrund zu drängen, indem er seinem Pferd geholfen hatte? Spätestens, wenn das Pferd richtig gelahmt hätte, hätten sogar die beiden anderen Gehilfen des Steuereintreibers bemerkt, dass das Pferd einen Stein unter dem Hufeisen hatte und jeder, der ein bisschen Erfahrung mit Pferden hatte, hätte ihn entfernen können. Auch dann hätte das Pferd keinen Schaden genommen. Der Steuereintreiber hätte einfach etwas länger zu Fuß gehen müssen. Aber nein. Er hatte sich ja mithilfe seiner Gabe einmischen müssen. Und warum hatte er sich nicht dümmer gegeben, als er war, damit so ein blöder Steuereintreiber ein Beamter aus der Stadt nicht auf die Idee kam, ihn als Gehilfen zu wollen? Und warum hatte sein Vater das nicht verhindert? Schließlich brauchte er ihn doch bei der Arbeit.

Immer mehr steigerte Hanrek sich in eine Stimmung hinein, in der er am liebsten das Geschirr aus dem Küchenschrank genommen hätte und jedes Teil einzeln mit einem lauten Knall dem Steuereintreiber an den Kopf geworfen hätte.

Pirion, der seinen Sohn gut kannte, bemerkte seine Stimmung. Er versuchte erst gar nicht, ihn zu besänftigen sondern erzählte weiter von dem, was Lucek ihm in der letzten Stunde erzählt hatte. Er erzählte von der Arbeit, die Hanrek bevorstand, wie die Lehrzeit ablaufen würde, wo er zum Wohnen untergebracht war und dass er die Eltern hin und wieder besuchen könnte.

Ganz allmählich konzentriert sich Hanrek nicht mehr auf seine Wut sondern hörte zu und stellte widerwillig Fragen. Viele dieser Fragen konnte Pirion nicht beantworten und er empfahl Hanrek, dass er diese Lucek am nächsten Morgen stellen sollte. Noch bis spät in die Nacht redete die Familie über das Thema. Und als Hanrek ins Bett ging, lag er lange wach und konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten weiter um seine Zukunft, die er sich so anders vorgestellt hatte.

Am nächsten Morgen kam Lucek wie angekündigt vorbei, um mit Hanrek zu sprechen. Die beiden gingen in den Garten hinters Haus und setzten sich in die Nähe des Heronussbaums.

Beim Anblick des Baums war Hanrek den Tränen nah. Er hatte sich so darauf gefreut, mitzuerleben, wie der Baum wuchs, gedieh und schließlich „erwachsen“ würde. Bis heute vermittelte der junge Baum noch nichts von der königlichen Würde, wie ihn Hanrek bei dem Heronussbaum im Wald kennengelernt hatte. Er nahm sich vor, diesen alten Baum wenn möglich noch mal vor seiner Abreise in die Stadt zu besuchen.

„Hanrek. Ich weiß, ich habe dich gerade in eine Stimmung versetzt, in der du aufgewühlt bist. Du würdest mich am liebsten verprügeln, verfluchen oder sonst etwas mit mir tun. Dafür habe ich Verständnis. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich damals von dem Steuereintreiber in Korref als Lehrling ausgewählt wurde und wie ich mich damals gefühlt habe.“, begann Lucek das Gespräch.

Er erzählte ihm von seiner eigenen Zeit als Lehrling und wie er sich früher seine Zukunft vorgestellt hatte. Er verschwieg nicht, dass ihm seine Lehrzeit oft zuwider gewesen war. Aber er erzählte auch von den Möglichkeiten, die sich ihm durch die neue Aufgabe ergeben hätten. Er hatte mehr von der Welt gesehen, als er sich als Junge hatte vorstellen können. Er war in Kiroloom gewesen und hatte auch sonst einige der Städte des Königs gesehen.

Hanrek war am Ende des Gesprächs fast besänftigt und sah seine Zukunft nun in einem etwas anderen Licht. Lucek gab Hanrek noch einige Tipps, was er mitnehmen sollte, was er besser zu Hause ließ und vieles mehr. Nach zwei Stunden schien alles gesagt zu sein und Lucek verabschiedete sich.

Am übernächsten Tag verließ Lucek mit Rannold und Tonnir Hallkel auf dem Weg in Richtung des Nachbardorfes Hannkel.

In den Tagen nach dem Gespräch mit Lucek begann Hanrek, sich auf seine neue Zukunft vorzubereiten. Dazu gehörte, dass er mit der Vergangenheit abschloss.

Er verbrachte viel Zeit mit seinem Bruder Stonek und er führte lange Gespräche mit seinen Eltern. Sie wollten ihm in dieser Zeit am liebsten schnell noch alle die guten Ratschläge mit auf den Weg geben, die sie ihm zeit seines Lebens vorgelebt hatten. Dabei handelt es sich um die Art Ratschläge, die alle Eltern ihren Kindern geben, in der Hoffnung, dass sie nicht all zu viele Fehler in der großen weiten Welt machen.

Er besuchte, wie er es sich vorgenommen hatte, den alten Heronussbaum im Wald und saß einen ganzen Nachmittag unter seinen weit überhängenden Ästen eingehüllt in seine väterliche Präsenz. Als er sich verabschiedete, hatte er viel neue Kraft gesammelt, die er, da war er sich sicher, in den nächsten Wochen und Monaten brauchen würde.

Es galt außerdem, sich von allen Freunden zu verabschieden und zahlreiche Dinge, die er in der vergangenen Zeit vor sich hergeschoben hatte, wollten noch schnell erledigt werden.

Er versuchte, wie er sich an dem Abend als Lucek das erste Mal nach Hallkel gekommen war, vorgenommen hatte, seinen Stab so zu behandeln, dass niemand ihn als wertvoll erkennen würde. Das stellte sich als nicht einfach heraus. Alle Stoffe, die er probierte, drangen nicht ins Holz ein und konnten einfach wieder abgewischt oder abgewaschen werden. Sie hatten daher keinerlei Effekt.

Es war Zufall, dass er ein Mittel fand, mit dem er seinem Stab einen dunkleren Farbton geben konnte. Er war mit seinem Vater früh morgens in den nahen Wald gegangen, um Holz zu schlagen für den Winter. Seinen Stab hatte er mitgenommen, er konnte sich kaum von ihm trennen, legte ihn aber zum Arbeiten beiseite ins Gras.

Als sie um die Mittagszeit eine Pause machten und etwas aßen, setzte er sich neben seinen Stab ins Gras. Als er ihn in die Hand nahm, stellte er fest, dass er an einer Stelle einen Fleck hatte. Obwohl er sich bemühte, konnte er den Fleck nicht weg reiben. Verwundert versuchte er es mit etwas Wasser. Auch das ging nicht. Jetzt war er hellwach und suchte nach dem Grund für den Fleck. Wo hatte er ihn hingelegt und was hatte diesen Fleck erzeugt. Als er den Boden absuchte, wo der Stab gelegen hatte, fand er einen zerdrückten Pilz.

Es war ein normaler gelbbrauner Nockenröhrling, ein Pilz, der überall im halbhohen Gras wuchs, den man aber nicht essen konnte. Sehr schnell fand er dann heraus, dass es mithilfe des Saftes dieses Pilzes tatsächlich möglich war, das Kernholz des Heronussbaums in einem schönen Braunton zu färben. Den Rest der Pause brachte er damit zu, Pilze zu suchen und am Abend war sein Stab nicht mehr auffällig hell sondern er hatte einen unscheinbaren aber schönen braunen Farbton.

Hanrek wusste nicht, wie er sich von Miria verabschieden sollte. Er hatte ein merkwürdiges Ziehen in der Herzgegend, wenn er daran dachte, dass er die Nachbarstochter für sehr lange Zeit nicht mehr sehen würde. Seit der Ernte fiel es ihm leichter sich mit ihr zu unterhalten, aber trotzdem benötigte er immer noch einen Anlass, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Eines Nachmittags passte er sie ab, als sie auf dem Weg zum Brunnen war. Er bot sich an, ihr auf dem Rückweg die schweren Wassereimer zu tragen.

„Ja, da hätte ich auch die großen Eimer nehmen können, wenn ich gewusst hätte, dass mir unterwegs ein Held begegnet, der die Eimer für mich trägt.“, zog sie ihn auf.

Hanrek blieb dabei ungewöhnlich ernst.

„Miria, ich möchte mich von dir verabschieden. Vielleicht hast du ja mitbekommen, dass ich in ein paar Tagen eine Lehre beim Steuereintreiber beginnen soll. Er nimmt mich mit in die Stadt, sobald er auf seiner Rundreise wieder durch Hallkel kommt.“

Miria blieb wie angewurzelt stehen.

„Was?“ fragte sie überrascht, „du gehst auch in die Stadt. Nein, das habe ich noch nicht gehört.“

„Was heißt auch? Wer geht denn noch?“, fragte Hanrek verwirrt.

„Ja ich, du Dummkopf.“

Jetzt war es an Hanrek, überrascht zu sein.

„Was? Aber wieso du?“

„Meine Mutter kann mir als Schneiderin nichts mehr beibringen. Wenn ich mehr lernen will, muss ich in die Stadt gehen. Meine Tante wohnt dort und ist auch Schneiderin. Sie stellt aber zusätzlich auch Teppiche her, außerdem kennt sie sehr viele und ausgefallene Webmuster. Meine Mutter ist der Meinung ich soll das alles lernen. Das Dorf kann zudem keine zweite Schneiderin ernähren. Ich müsste sowieso über kurz oder lang entweder in ein anderes Dorf gehen oder in die Stadt ziehen.“, erklärte Miria.

„Wann gehst du in die Stadt?“, fragte Hanrek.

„Angekündigt bin ich meiner Tante schon. Wir haben bisher nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Vielleicht kann ich sogar mit dir in die Stadt gehen.“, überlegte Miria. „Das wäre eine dieser günstigen Gelegenheiten, auf die wir gewartet haben.“

Plötzlich sah die Welt für Hanrek ganz anders aus. Jetzt auf einmal fand er Gefallen an dem Gedanken, nach Haffkef zu gehen.

Die Bruderschaft des Baums

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