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Die Bruderschaft des Baums
ОглавлениеEs war eine größere Gruppe Menschen, die da am Dorfplatz stand und Miria und Hanrek verabschiedeten, als es schließlich Zeit war nach Haffkef aufzubrechen. Der Weg in die Stadt war nicht weit und sowohl Miria als auch Hanrek waren schon mehrfach dort gewesen. Diesmal hatte die Reise in die Stadt etwas Neues und Endgültiges.
Drei Tage vorher war Lucek mit seinen beiden Gehilfen wieder nach Hallkel gekommen. Er hatte die letzten beiden Tage die Geschäfte eines Steuereintreibers abgewickelt und für den heutigen Morgen hatte er zum Aufbruch gemahnt.
Er war sofort einverstanden gewesen, als Klaudia gefragt hatte, ob Lucek ihre Tochter Miria in die Stadt mitnehmen könnte.
Hanrek hatte sein Bündel geschnürt und seinen Stab in der Hand. Er hatte in sein Bündel einen kleinen Vorrat an Holzmehl vom Heronussbaum eingepackt, quasi als Geldersatz, da ihm seine Eltern nicht viel an Münzen mitgeben konnten. Den Rest des Mehls hatte er, wie es auch seine Eltern getan hatten, im Vorratskeller sicher vergraben.
Er lehnte ab, als Lucek ihm anbot, dass einer der beiden Gehilfen sein Bündel aufs Pferd nehmen könnte. Lieber hatte er sein Bündel selbst zur Hand und all zu schwer war es auch nicht. Außerdem war er das Wandern gewöhnt. Es war auch nur ungefähr ein Tagesmarsch bis Haffkef. Wenn sie sich also anstrengen würden, würden sie es bis heute Abend schaffen und die kommende Nacht schon in Haffkef verbringen. Miria hatte ihr Bündel dankbar abgegeben. Es war jetzt hinter dem Sattel von Rannold festgeschnallt.
Nicht ohne Tränen der beiden Mütter verabschiedeten sich Miria und Hanrek von ihren Familien und Freunden, ehe sie sich in der kleinen Gruppe auf den Weg machten.
Das Wetter war angenehm für eine Wanderung. Die Luft war, obwohl der Winter vor der Tür stand, ungewöhnlich mild, sodass Hanrek schon bald sein Wams auszog und auf sein Bündel band und den Kragen seines Hemds aufschnürte. Miria ging neben ihm und plapperte auf ihn ein. Man merkte ihr die Aufregung deutlich an.
Ihre drei Reisebegleiter waren, da sie ihre Pferde in einem starken Schritt gehen ließen, ein gutes Stück voraus. Das war Hanrek nur recht so. Er mochte die beiden Gehilfen Rannold und Tonnir nicht. Sein Gefühl riet ihm, mit den beiden vorsichtig zu sein. Im Dorf hatte er sie die letzten beiden Tage fast nicht gesehen, aber jedes Mal, wenn er ihnen begegnet war, hatten sie gleich begonnen, ihn hämisch aufzuziehen.
„Ach, da kommt ja Hanrek, der Drachentöter unser neuer Lehrlingsdiener ...“, „Wo ist denn deine Drachenlanze, Drachentöter“, „Hast du heute schon genug vom Drachentöten-Spielen“, „Erde, Feuer, Wasser, Stein ...“, und einige Sprüche mehr bekam er zu hören.
Hanrek war solcherlei Sprüche ja gewohnt. Was ihn bei den Sprüchen der beiden Gehilfen störte, war die Häme, die man darin hörte. Es wurde Hanrek klar, dass er mit diesen beiden noch seine Freude haben würde.
Was Hanrek auch nicht gefallen hatte, waren die Blicke gewesen, die sie Miria zugeworfen hatten. Rannold hatte als Miria vorbeigegangen war, Tonnir angestoßen, eine anzügliche Geste hinter ihrem Rücken gemacht und schamlos gegrinst. Bei ihr hatten sie keine Bemerkungen gemacht aber das lag wahrscheinlich eher daran, dass Lucek in Hörweite war.
Um die Mittagszeit, Hanreks Magen hatte schon vernehmlich geknurrt, sah er, wie Lucek, sein Pferd in einen leichten Trab versetzte und schnell um die nächste Biegung des Weges verschwand. Die beiden anderen hielten ihre Pferde an. Hanrek und Miria hatten die beiden schnell eingeholt.
Hanrek spürte die Spannung in der Luft. Seine Gabe benötigte er nicht, um festzustellen, dass die beiden Unruhestifter etwas ausgeheckt hatten. Und wie erwartet fing Rannold sofort an, als sie in Reichweite waren.
Er schnappte sich Mirias Bündel, das hinter seinem Sattel befestigt gewesen war.
„Wollen mal sehen, was so ein Bauernmädchen so mit nimmt, wenn sie einen Ausflug in die große Stadt macht.“, und begann es zu durchwühlen.
Miria stürzte auf ihn los.
„Du Bastard. Nimm deine dreckigen Hände von meinen Sachen.“
Darauf hatte Tonnir nur gewartet. Er trieb sein Pferd an und lenkte es hinter Miria, sodass diese zwischen den beiden Pferden eingeklemmt war. Er umklammerte sie von hinten und zog die um sich tretende Miria hoch, sodass sie vor ihm auf dem Pferd zum Sitzen kam. Während er sie weiter fest umklammerte, Miria hatte keine Chance sich aus dem Griff zu befreien, versuchte er ihr mit den Händen unter die Bluse zu fahren, was Miria verzweifelt versuchte zu verhindern. Das Ganze war so schnell gegangen, dass Hanrek keine Möglichkeit gehabt hatte, Miria zu helfen.
Hanrek preschte vor, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten und ging damit Rannold in die gestellte Falle.
Rannold hatte sein Pferd in der Zwischenzeit um Tonnirs Pferd herumgelenkt und als Hanrek, der ganz auf Tonnir konzentriert war, an Rannold vorbei wollte, ließ der seinen Kampfstab, den er hinter seinem Pferd verborgen gehalten hatte, nach oben schnellen. Er erwischte Hanrek voll am Kinn. Als Hanrek einige Augenblicke später wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Rücken liegend im Gras wieder.
Rannold war in der Zwischenzeit abgestiegen und grinste ihn hämisch an.
„Bist du müde, weil du es dir im Gras gemütlich gemacht hast? Dabei ist Lucek doch extra vorausgeritten, um für uns ein schönes Plätzchen zum Ausruhen zu suchen.“
Dann lachte er über seinen Witz.
Hanrek tastete, ob er seinen Stab noch hatte und als er ihn neben sich bemerkte, packte er ihn so fest, dass ihm die Hand weh tat. Er ließ seine Gabe fließen und Kämpfer und Stab waren eine Einheit. Er begann noch im Liegen seine erste Attacke auf Rannold. Mit dieser schnellen Attacke hatte Rannold zwar nicht gerechnet, aber seine Reflexe waren gut genug, um Hanreks Attacke mühelos abzuwehren. Für seine unbeherrschte Attacke bekam Hanrek prompt die Quittung in Form eines Schlags quer über den Rücken. Ein Schlag, wie ihn Hanrek schon häufig beim Üben abbekommen hatte. Der Schlag schmerzte zwar aber er tat vor allem seiner Ehre weh.
„Ho, ho. Jetzt sehen wir heute sogar noch einen richtigen Drachentöter kämpfen.“, machte er sich weiter über Hanrek lustig.
Auch jetzt verzichtete Hanrek auf ein vorsichtiges Abtasten des Gegners, wie er es bei Spartak gelernt hatte. Die ersten rasend schnell und wild vorgetragenen Schläge von Hanrek wehrte Rannold noch ab, aber dann hatte er keine Chance mehr. Einen klassischen Angriff von oben brach Hanrek ab, ließ den Stab durch seine Finger nach unten durchgleiten und griff stattdessen von unten an. Rannold wehrte im letzten Moment ab, war aber nicht schnell genug, um die sich daraus entwickelnde Schlagfolge zu meistern. Erst brach Hanrek ihm den Zeigefinger der rechten Hand. Rannold ließ seinen Stab fallen. Damit war die Abwehr von Rannold gebrochen. Augenblicke später verpasste ihm Hanrek in spielerisch aussehenden fließenden Bewegungen satte Schläge auf das linke Auge, das rechte Ohr und die beiden Kniescheiben, ehe er ihm schließlich die Beine weg zog. Dort blieb Rannold wahrscheinlich ohnmächtig liegen.
Hanrek nahm sich nicht die Zeit, das zu prüfen, keiner der Schläge war wirklich gefährlich gewesen. Stattdessen spurtete er zu Tonnir, der immer noch mit der um sich schlagenden und tretenden Miria beschäftigt war, und hatte deshalb nicht auf den Kampf zwischen Rannold und Hanrek achten können.
Beim wild um sich Treten traf Miria immer wieder Tonnirs Pferd, das nicht wusste, wie ihm geschah. Um den Tritten zu entgehen, drehte es sich und machte mehrmals große Sätze nach vorne, um dann wieder abrupt zu stoppen, und warf damit die beiden Kämpfenden auf dem Pferd hin und her. Die Bewegungen des Pferds bewirkten, dass Miria immer wieder die Hände frei bekam, die sie dann benutzte, um Tonnir das Gesicht zu zerkratzen und sich in seine Haare zu krallen.
Tonnir hatte alle Hände voll zu tun und versuchte verzweifelt, Herr der Lage zu bleiben. Als Hanrek die beiden endlich erreichte, genügte ein satter präziser Stockschlag Hanreks von hinten auf den Kopf, um Tonnir wie einen Mehlsack nach hinten vom Pferd kippen zu lassen.
Tonnir merkte, da er ohnmächtig war, gar nicht mehr, dass er die schreiende Miria mit sich zog. Das Knacken, als Mirias Sturz von Tonnirs Körper aufgefangen wurde, klang ziemlich scheußlich und deutete auf mindestens eine gebrochene Rippe hin. Einen Moment lang war Miria die Luft weggeblieben, dann schlug sie noch immer von den Armen des Ohnmächtigen umschlungen wild um sich. Sie kämpfte sich aus dessen Armen und im Aufstehen verpasste Miria ihm noch mit einem kräftigen Schwung ihres Ellenbogens einen Schlag aufs linke Auge. Hanrek war sich sicher, dass Tonnir die nächste Zeit immer dann an Miria denken würde, wenn er sich im Spiegel betrachten würde.
Vor Wut kochend kam Miria hoch und fuhr Hanrek an.
„Warum hat das so lange gedauert, bis du diesem dreckigen Bastard eins verpasst hast.“
Hanrek stotterte etwas perplex eine fadenscheinige Entschuldigung von schmerzenden Beulen an Kinn und Hinterkopf. Als er aber kurz darauf mit seiner Gabe nach Miria spürte, merkte er, dass sie zu Tode verängstigt und gedemütigt war und die Wut nur dazu diente, die Angst und die Demütigung zu verbergen.
„Miria,“, sagte er leise, „ich bin mir sicher, diese beiden werden dir nichts mehr tun. Dafür sorge ich.“
Dabei nahm er sie sachte in den Arm und sprach mit leisen tröstenden Worten auf sie ein.
Einen Moment lang befürchtete Hanrek, dass sie auch auf ihn einschlagen würde aber dann merkte er, wie sie begann sich zu entspannen und mit der Entspannung kamen die Tränen. Eine ganze Weile standen sie so, bis sie von einem Stöhnen gestört wurden.
Tonnir kam zu sich, drehte sich zur Seite und erbrach sich.
Hanrek begann, sich die Schäden anzusehen. Er selbst hatte ein dickes Ei am Kinn von Rannolds Stab und sein ganzer Kiefer schmerzte. Eine empfindliche Beule am Hinterkopf hatte er dort, wo er bei dem anschließenden Sturz auf den Rücken aufgekommen war.
Miria schien keine körperlichen Schäden davon getragen zu haben. Ihre Verletzungen waren seelischer Natur. Aber nachdem sie ihre Kleidung wieder in Ordnung gebracht hatte, die Tränen weggewischt hatte und sie ihre Sachen, die aus ihrem von Rannold achtlos weggeworfenen Bündel gefallen waren, eingesammelt hatte, merkte man ihr zumindest körperlich nicht mehr an, dass ihr gerade übel mitgespielt worden war und sie außerdem vom Pferd gefallen war.
Die Pferde waren nirgends zu sehen. Eine kurze Prüfung mit der Gabe sagte ihm, dass sie kurz hinter der nächsten Wegbiegung angehalten hatten und friedlich am Wegrand grasten.
Hanrek bat Miria.
„Kannst du bitte die Pferde zurückholen. Ich bin sicher, dass sie nicht weit den Weg entlang gelaufen sind.“
Er wollte die Gabe nicht dadurch verraten, dass er zu viel wusste.
„Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um unsere beiden Freunde.“
Widerwillig murrend ging Miria los.
„Sollen diese Bastarde sich doch selbst um ihre Pferde kümmern. Sie hätten es nicht besser verdient, wenn sie den ganzen Weg nach Haffkef laufen müssten ...“
Dann war Miria außer Hörweite, aber Hanrek war sich sicher, dass auch die Pferde noch einiges über ihre Reiter zu hören bekämen. Er war sich außerdem sicher, dass keiner der beiden in der Lage sein würde, nach Haffkef zu laufen.
Er wandte sich Rannold zu, der mittlerweile zu sich gekommen war aber zusammengerollt auf der Seite lag. Als er näher kam, schaute der ihn mit einem glasigen Auge an. Das andere Auge war so dick zugeschwollen, dass er wahrscheinlich wochenlang nur mit einem Auge sehen würde. Aus dem getroffenen Ohr floss ein dünner Faden Blut.
Hanrek stieß ihn mit seinem Stab an.
„Kannst du mich hören?“
Rannold nickte langsam und fast nicht wahrnehmbar.
„Gut. Versuch aufzustehen.“
Ohne Widerrede quälte sich Rannold in eine sitzende Position.
„Ich glaube nicht, dass ich stehen kann“, sagte Rannold stockend, „etwas ist mit meinen Knien. Sie tun furchtbar weh.“
Demnach war Rannold nach dem Schlag aufs Ohr schon weggetreten gewesen und er hatte den letzten Schlag auf die Kniescheiben nicht mehr mitbekommen.
Als Miria mit den Pferden zurück war, bat Hanrek sie auf einem Pferd allein vorauszureiten, um Lucek zu holen. Alleine würde er die Spitzbuben nicht auf die Pferde bekommen und auf Miria Hilfe brauchte er dabei nicht zu hoffen. Er selbst hatte dazu auch keine Lust.
Miria nutzte die Zeit, in der sie zusammen mit Lucek zurück ritt, um ihm zu erzählen, was seine beiden Gehilfen getan hatten und wie es ihnen ergangen war. Hanrek hatte das vermutet und erwartete einen zornigen Lucek.
Lucek war nicht zornig. Er bestand nur noch aus Zorn.
„Keine fünf Minuten kann ich euch alleine lassen, ohne dass ihr euch benehmt wie Strauchdiebe. Belästigt ein Mädchen, dass mir ihre Mutter anvertraut hat, in dem Glauben, dass sie so auf dem Weg nach Haffkef sicher ist.“, brüllte er sie an.
Lucek zerrte Rannold mit brutaler Gewalt auf die Beine und achtete dabei nicht auf dessen gebrochenen Finger. Rannold kam wimmernd hoch, um sofort wieder umzufallen. Ausgerechnet auf seine schmerzenden Knie.
Auch Stunden später hatte Lucek seinen Zorn noch nicht überwunden und war kaum ansprechbar.
Trotzdem wagte es Hanrek, während er neben seinem neuen Meister herlief, ihn zaghaft anzusprechen: „Lucek.“
„Hm.“, kam die brummbärige Antwort von Lucek, was wohl soviel heißen sollte wie: „Was gibt's?“
„Wo werde ich denn in deinem Haus untergebracht? Wo werde ich schlafen?“
Lucek drehte sich zu Hanrek um und schaute ihn direkt an. Verstehen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
„Nach dieser Sache sicher nicht in dem gleichen Raum wie die beiden Kranken, die da hinten auf ihren Pferden wimmern. In Hattkel habe ich auf meiner Rundreise noch einen weiteren Lehrling gefunden. Der kommt in ungefähr zwei Wochen nach Haffkef. Sein Vater bringt ihn. Er ist so alt wie du. Ihr werdet euch gut verstehen, da bin ich mir sicher. Vorausgesetzt du schlägst ihn nicht gleich zusammen, wie die beiden Strauchdiebe da.“, Luceks Züge deuteten trotz seiner Wut fast so etwas wie ein Lächeln an.
„Ihr werdet euch ein Zimmer teilen. Das andere Zimmer teilen sich Rannold und Tonnir.“, dabei sprach er die Namen der älteren Gehilfen aus, als ob er Galle im Mund hätte.
„Im Übrigen werde ich dafür sorgen, dass sie dich in Ruhe lassen. Wenn sie die Lektion, die du ihnen beigebracht hast, noch nicht gelernt haben, werde ich sie ihnen noch mal beibringen.“
Obwohl die eigentlich geplante Mittagspause ausgefallen war, kam die Reisegruppe erst sehr spät in Haffkef an. Sie trennten sich. Hanrek begleitete Miria zu ihrer Tante, die überrascht und hoch erfreut war, ihre Nichte zu sehen. Hanrek verabschiedete sich, nachdem er Miria versprochen hatte, sie regelmäßig zu besuchen und machte sich auf den Weg zu seinem neuen Heim.
Er wurde von einem jungen Stallburschen empfangen. Hanrek stellte sich ihm als der neue Lehrling des Steuereintreibers vor. Sie verstanden sich auf Anhieb. Mico, so hieß der Stallbursche, führte ihn zu seinem Zimmer und wünschte ihm eine gute Nacht. Ehe er ihn alleine ließ, richtete er ihm von Lucek aus, dass er morgen früh frei hätte, sich aber nach dem Mittagessen in seinem Arbeitszimmer einfinden sollte. Die Kerze ließ er ihm da.
Obwohl er sehr müde war, dauerte es lange, bis Hanrek Schlaf fand.
Er wachte früh in der ungewohnten Umgebung auf. Er blieb noch eine ganze Weile mit geschlossenen Augen liegen und lauschte den Geräuschen des erwachenden Hauses. Dann stand er auf und ging auf Erkundungstour.
In der Dunkelheit hatte er bei seiner Ankunft nur sehr wenig von dem Haus gesehen. Jetzt stellte er fest, dass es sich bei dem Haus des Steuereintreibers um ein dreistöckiges Gebäude handelte, das als Nebengebäude zusätzlich einen Stall hatte. Im ersten Stock befanden sich die Küche, der Essraum und einige Lagerräume sowie das Arbeitszimmer von Lucek. Über eine Treppe kam man in das nächste Stockwerk. Hier war er selbst untergebracht und glücklicherweise am anderen Ende des Gangs und damit weit entfernt die beiden Gehilfen. Auch der Meister hatte hier seinen Schlafraum. Es gab außerdem einen Wasch- und einen Schwitzraum. Ging man die Treppe weiter hinauf, gab es unter dem Dach einige weitere kleine Kammern für die Bediensteten. Mico war hier untergebracht aber auch der Koch Zollan.
Der Koch war ein altes, kleines, verschrumpeltes Männlein. Seine munteren Augen standen nie still sondern sie waren immer auf der Suche nach etwas Lustigem, über das er lachen konnte. Und das tat er viel und oft.
„So, so.“, begrüßte er Hanrek mit einem verschmitzten Lächeln um den Mund, als dieser die Küche betrat.
„Du bist also Hanrek, der Drachentöter, der neue Lehrling, in den unser Meister so vernarrt ist. Und wie ich mitbekommen habe, hast du deine ersten beiden Drachen schon erlegt.“
Und schon lachte er los.
Ungefragt goss er Hanrek eine große Tasse Sud ein und sich selbst aus einer Kanne vom Herd ein übel riechendes Gebräu in eine ebenso große Tasse. Dann begann er genüsslich, an seiner Tasse zu schlürfen.
„Und welche Variante der Geschichte von gestern hast du gehört?“, fragte Hanrek.
„Oh.“, lachte Zollan keckernd.
„Es hat sich niemand bequemt mir eine Geschichte zu erzählen, auch wenn ich gerne Geschichten höre. Aber man schnappt so dies und das auf. Es wurde gestern Abend noch ein Heiler gerufen, der sich die beiden Tunichtgute angesehen hat. Der Abzugsschacht vom Herd führt genau an dem Raum der beiden vorbei. Nicht dass ich gelauscht hätte, aber einige Brocken des Gesprächs habe ich schon mitbekommen.“
Hanrek war sich sicher, dass Zollan gelauscht hatte, behielt das aber für sich.
Zollan fuhr fort.
„Ganz besonders gut habe ich den Meister verstanden. Er sprach ganz im Gegensatz zu sonst recht laut. Es war sozusagen klar und deutlich zu verstehen, was er sagte und ich bin mir ziemlich sicher, dass Rannold und Tonnir ihn auch verstanden haben.“
Erneut kam eine keckernde Lachsalve als Untermalung des Gesagten.
„Ich würde mich aber freuen, wenn ich die gestrige Geschichte, wie du sie genannt hast, aus erster Hand hören könnte.“, dabei grinste er Hanrek so verschmitzt und drollig an, dass Hanrek sich bereit erklärte, die gestrige Geschichte zu erzählen. Dabei achtete er darauf, dass er nicht zu nah am Abzugsschacht des Herds saß, denn was in die eine Richtung funktionierte, konnte auch in die andere Richtung funktionieren.
Kurz darauf setzte er seinen Rundgang fort und kam in den Hof des Hauses. Dort blieb er erst einmal mit offenem Mund stehen. Der Hof war rechteckig und mit Steinplatten ausgelegt. In einer Ecke war ein Geräteschuppen und in der anderen Ecke ein kleines Kräuterbeet. In der Mitte befand sich ein Brunnen. Der Hof war von einer halbhohen Mauer umgeben, die Hanrek bis zur Brust ging.
Aber es war nichts im Hof gewesen, was Hanrek so überrascht hatte, sondern was dahinter lag. Direkt an den Hof des Steuereintreibers grenzte ein weiterer Hof oder besser gesagt ein Garten. Und in der Mitte des Gartens stand ein Heronussbaum. Das Besondere an diesem Baum war jedoch, und Hanrek prüfte das mit seiner Gabe, nachdem er einen schnellen Schritt ins Kräuterbeet getan hatte, dass er tot war. In dem gegenüberliegenden Garten stand ein riesiges fast weißes Gerippe von einem Heronussbaum.
Tiefe Trauer überkam Hanrek, als er den toten Baum sah. Wie alt musste dieser Baum gewesen sein, bevor er gestorben war? Wie lange stand dieses Gerippe schon so da, wie Hanrek es jetzt sah? Ein Denkmal eines großartigen und langen Baumlebens.
Noch etwas Besonderes gab es an diesem Baum zu sehen. Und das war etwas, was Hanrek nie erwartet hätte, jemals bei einem Heronussbaum zu sehen. Er war von oben bis unten gespalten. Ein Blitzschlag? Eine andere Erklärung bot sich Hanrek nicht. Er nahm sich vor, weitere Erkundigungen über diesen Baum und seine Geschichte einzuholen.
Als er mit der Erkundungstour im Haus fertig war, beschloss er den Kreis etwas zu erweitern und die Stadt zu erkunden. Dafür hatte er noch genügend Zeit bis zum Mittagessen.
Als Hanrek an der Küche vorbei kam, rief ihn Zollan hinein. Zollan hatte vermutet, dass Hanrek in die Stadt gehen wollte, und bat ihn, einige Besorgungen auf dem Markt für ihn zu machen. Da Hanrek einwilligte, gab er ihm eine kleine Geldbörse, die Hanrek sicher in seinen Kleidern verstaute, und erklärte ihm schließlich, an welchem Marktstand er welche Dinge erstehen sollte. Die Liste war nicht sonderlich lang und sie gab Hanrek ein Ziel, das er schon von früheren Besuchen in der Stadt kannte. Früher war er ein paar Mal mit seinem Vater nach Haffkef gefahren, um auf dem Markt verschiedene Lebensmittel zu verkaufen. Daher wusste er, wie die Geschäfte auf dem Markt liefen.
Wie jedes Mal, wenn er bisher in die Stadt Haffkef gekommen war, fand er die Stadt laut und voll, aber es gab auch jede Menge zu sehen. Auf dem Weg zum Markt kam er durch ein Viertel mit vielen Läden und Handwerkern. Er wusste nicht ob es so hieß aber er taufte es für sich das Händlerviertel. Von Uhrenmachern über Schmuckgeschäfte, Stoffmachern, Schneidereien, Waffenmachern, Steinmetzen, Hufschmieden, Bäckereien, Metzgereien, Schreinereien, Barbieren, Steingutbrennereien und vielen anderen Läden mehr, war alles zu finden.
An so mancher Auslage blieb Hanrek stehen und bestaunte Dinge, die er in seinem Heimatdorf selten oder nie zu sehen bekam.
Was er immer erschreckend und doch auch faszinierend fand, war, dass so viele Menschen unterwegs waren und er niemanden kannte. Hanrek kannte in Hallkel jeden. Auch im Nachbardorf Hannkel kannte er die meisten. Er hatte dort sogar einige Verwandte.
An dem Laden eines Instrumentenbauers blieb er lange stehen, schaute sich alle Instrumente an, ließ sich das eine oder andere Instrument erklären und entdeckte schließlich eine kleine Flöte aus ganz hellem Holz. Das Holz hatte fast die gleiche Farbe wie sein Stab, als dieser noch ungefärbt war. Auch diese Flöte ließ er sich vorspielen und der Klang faszinierte ihn.
Er fragte den Verkäufer.
„Ist diese Flöte aus Heronussbaum, weil sie so hell ist?“
Der Verkäufer brach in schallendes Gelächter aus.
„Nein. Wenn ich hier eine Flöte aus Heronussbaum hätte, würde ich sie verkaufen und mir dann ein Haus in Ventef kaufen. Nichts für ungut, mein Junge. Ist nicht böse gemeint, wenn ich lache. Eine Flöte aus Heronuss. Das wäre was. Man sagt einer Flöte aus Heronuss nach, dass sie magische Kräfte hat. Ich selbst habe aber weder eine gehört noch gesehen. Wenn du mal eine hörst, kannst du mir ja dann Bescheid geben.“, und dabei lachte er noch mal ausgiebig.
Das vertrieb Hanrek aus seinem Laden.
Als er an einem Laden mit exotischen Tieren vorbei kam, sprach ihn der Ladenbesitzer an.
„He Junge. Willst du einen Affen kaufen? Er kostet nicht viel.“
Hanrek blieb stehen. In dem Laden gab es mehrere kleine Äffchen, außerdem Vögel und einige Tiere, die Hanrek noch nie gesehen hatte. Es war ein ziemlicher Lärm in dem Laden.
„Was würde denn einer kosten?“, fragte Hanrek.
„5 Kronen.“
Das war eine Menge Geld.
Wenn jemand im Königreich Kronen sagte, meinte er Silberkronen. Eine Silberkrone war so viel wert wie Hundert Kupferlinge und Hundert Silberkronen gaben eine Goldkrone. Aber eine Goldkrone hatte Hanrek noch nie gesehen. In Hallkel war keiner reich, und wenn einer eine Goldkrone besaß, dann zeigt er sie sicher nicht herum.
Zollan hatte Hanrek einen Geldbeutel mit zwanzig Kupferlingen mitgegeben. Damit würde er alle Einkäufe erledigen können und würde noch Geld übrig behalten. Als Hanrek an das Geld und die Einkäufe dachte, die er noch zu erledigen hatte, hatte er es auf einmal eilig. Er hatte zu lange herum getrödelt und jetzt würde er es wahrscheinlich gerade noch so bis zum Mittagessen schaffen, aber nur wenn er sich sehr beeilte. Er ließ ohne ein Wort den Ladenbesitzer stehen und ging schnell in Richtung Markt.
Verärgert rief ihm der Ladenbesitzer nach.
„Du hättest ja wenigstens versuchen können zu handeln, du Bastard.“
Hanrek beachtete sein Rufen nicht und eilte weiter. Er wollte nicht schon beim ersten Mal zu spät sein oder Zollan die versprochenen Dinge nicht mitbringen. Schnell kaufte er die Sachen ein und schaffte es dann gerade noch rechtzeitig, bis zum Mittagessen zurück zu sein.
Nach dem Mittagessen, das aus einem würzigen wohlschmeckenden Eintopf bestand, fand sich Hanrek wie gewünscht im Arbeitszimmer von Lucek ein. Der Raum war funktionell und weitgehend schmucklos eingerichtet. Die Ausstattung bestand aus einem Schreibtisch in der einen Ecke, einigen Stühlen in der anderen Ecke und Büchern und gestapelten Akten in Regalen an den Wänden.
Lucek kam gleich zur Sache, und erläuterte Hanrek, wie sein Tagesablauf in der nächsten Zeit aussehen würde.
„Sobald der andere Lehrling aus Hattkel eingetroffen ist, bekommt ihr morgens zusammen Unterricht bei einem Lehrer, den ich ins Haus bestellt habe. Den genauen Lehr- und Zeitplan bekommt ihr dann vom Lehrer. Bis aber der Lehrling da ist, hilfst du mir morgens im Arbeitszimmer beim Akten Aufräumen und Sortieren. Durch das Erdbeben sind viele Akten komplett verloren gegangen, einige konnten aus den Trümmern gerettet werden. Sauber gemacht haben wir sie schon aber sie müssen neu sortiert werden. Viele Akten sind miteinander vermischt worden. Vielleicht können wir aus den vorhandenen Akten auch Teile der verloren gegangenen Akten rekonstruieren. Wenn nicht, müssen diese neu angelegt werden. Es gibt jede Menge zu tun und jedes Mal, wenn ich mich damit beschäftige, wird der Berg Arbeit größer anstatt kleiner.“
„Nachmittags bekommt ihr dann zweimal in der Woche Kampfunterricht. Für zwei Lehrlinge wollte ich keinen eigenen Ausbilder einstellen. Deshalb habe ich mich mit der Bruderschaft des Baums geeinigt, dass ihr dort mit trainieren dürft.“, fuhr Lucek fort.
„Bruderschaft des Baums. Was ist das?“, fragte Hanrek.
„Wenn du in unseren Hof gehst, siehst du das Gebäude gegenüber. Vielleicht hast du es ja schon gesehen. Dort hat die Bruderschaft des Baums ihren Sitz. Sie verehren den toten Heronussbaum in ihrem Garten oder so etwas Ähnliches. Die Bruderschaft geht auf irgendein altes Gesetz eines lange verstorbenen Königs zurück. Die Bruderschaft bekommt sogar von den Steuergeldern, die wir eintreiben einen gehörigen Batzen ab. Wenn du mich fragst, gehört das Gesetz abgeschafft. Aber wenigstens muss ich für eure Teilnahme an der Kampfausbildung nichts extra bezahlen, da wir die Kerle ja sowieso durchfüttern.“, erklärte Lucek.
Hanrek erinnerte sich seiner Absicht, sich nach dem toten Baum zu erkundigen und er fand das war eine günstige Gelegenheit damit anzufangen.
„Weißt du etwas über diesen toten Baum? Wie lange ist er schon tot? Warum ist er gespalten?“
Lucek schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung, keine Ahnung und keine Ahnung, um deine drei Fragen zu beantworten. Warum interessiert dich der Baum? Willst du dir etwa einen Ast abbrechen? Das vergiss gleich wieder. Sich einen Ast von einem Heronussbaum abbrechen zu wollen ist genauso schwer, wie das goldene Drachenei in Kiroloom stehlen zu wollen.“
Hanrek hatte noch nie von einem goldenen Drachenei in Kiroloom gehört, aber er wollte nicht nachfragen.
„Nun, wo war ich stehen geblieben. Ja, eigentlich war die Kampfausbildung von Rannold und Tonnir schon zu Ende. Aber ich habe mich entschlossen, dass sie, sobald sie dazu wieder in der Lage sind, noch mal mittrainieren sollen. Nachdem sie sich gestern ziemlich blamiert haben und zu zweit keine Chance gegen dich hatten, tut ihnen das sicher gut. Die Bruderschaft zählt ungefähr zwanzig Brüder. Dann seid ihr eine große Gruppe und habt damit viele wechselnde Gegner. Ich weiß nicht viel von der Bruderschaft, aber zumindest so viel weiß ich, dass die interne Hierarchie streng nach Alter geregelt ist. Der älteste Bruder hat bei allem das Sagen. Ist der älteste Bruder nicht da, dann bestimmt der Zweitälteste und so weiter. Übrigens bitte achte bei den Kampfübungen darauf, dass du nicht auf Rannold und Tonnir triffst. Ich will nicht schon wieder Schwerverletzte in meinem Haus.“
„Die anderen vier Tage in der Woche helft ihr mir bei verschiedenen Dingen. Wir haben zweimal in der Woche Sprechstunde hier im Haus. Die wird zwar noch nicht so gut angenommen, wie ich mir das wünsche aber das wird schon werden. Es gibt Tage, an denen ich die Handwerker und Ladenbesitzer in der Stadt besuche. Zweimal im Jahr, aber das hast du ja mitbekommen, statte ich den Dörfern einen Besuch ab. Es muss außerdem das Kassenbuch geführt werden. Um die Weiterleitung der eingetriebenen Steuern müssen wir uns kümmern und vieles mehr.“
Lucek erläuterte noch viele Details, ehe er von seinem Stuhl aufstand und sagte.
„Ich habe jetzt gleich einen Termin beim Tef und muss los. Du beginnst deine Arbeit damit, dass du dir die Akten hier drüben anschaust. Die sind schon sortiert und sollten stimmen.“
Lucek deutete auf einen kleinen Berg Akten in einem der Regale.
„Versuch das System zu begreifen, wie sie geordnet sind. Dort drüben sind die unsortierten Akten.“
Lucek deutete auf einen viel größeren Berg in einem anderen Regal.
„Schau, ob du schon was vorsortieren kannst. Aber vermische bitte die unsortierten nicht mit den sortierten. Wie wir da vorgehen, darüber reden wir noch mal.“
Und damit ging er aus dem Raum und überließ Hanrek seiner Arbeit.
In den nächsten Tagen wühlte sich Hanrek mehr und mehr durch die Akten und beschäftigte sich so intensiv damit, dass er schon nachts anfing, davon zu träumen. Es war keine Arbeit, die wirklich Spaß machte, aber Hanrek arrangierte sich mit ihr.
Von Rannold und Tonnir bekam er fast nichts zu sehen. Diese leckten ihre Wunden, und wenn er einen der beiden traf, gingen sie wortlos aneinander vorbei und warfen sich nur böse Blicke zu.
Was Hanrek richtig Spaß machte, waren die Übungsstunden bei der Bruderschaft. Die Übungsstunden fanden, auch wenn es langsam kalt wurde, im Garten der Bruderschaft auf einem Areal mit festgetretenem Lehm statt, direkt in Reichweite des toten Baums. Die Unterlage aus Lehm kam Hanrek natürlich sehr entgegen, da sie ermöglichte, dass er seine Gabe einsetzen konnte. Das verhalf ihm dazu, dass er mit seinem Können wiederum einen guten Sprung nach vorne tat. Für die Brüder diente der Kampf nicht dazu jemanden anzugreifen oder sich zu verteidigen sondern lediglich als Mittel um die eigene Mitte zu finden, damit sie besser meditieren konnten.
Er freundete sich mit einem gleichaltrigen Jungen namens Jorgen an und dieser erläuterte ihm, was die Bruderschaft tat und warum sie es tat.
„Die Bruderschaft des Baums gibt es aufgrund der Prophezeiung des Baums. Vor ungefähr 800 Jahren hat der damalige König bei einer Reise durchs Land auch die Stadt Haffkef besucht, und als er den Baum sah, machte er eine Prophezeiung.“
Jorgen sprach die folgenden Worte mit feierlicher Miene und fast wie ein Gebet.
„Jahrhunderte wird es dauern, da wird ein junger Mann diesen toten Baum durch seine geistige Stärke wieder zum Wachsen bringen. Dann steht das Schicksal des Königreichs auf des Messers Schneide. Dieser junge Mann wird das Schicksal des Königreichs entweder zum Guten oder zum Schlechten wenden. Er wird Ruhm erlangen und ein Held sein oder zusammen mit dem Königreich namenlos untergehen.“
Dann fuhr er mit seinen Erläuterungen fort.
„Damals wurde die Bruderschaft des Baums gegründet. Es kann ihr nur beitreten, wer mindestens fünfzehn Jahre alt und männlich ist. Und wenn man älter als einundzwanzig Jahre ist, muss man sie wieder verlassen. In diesen Jahren versuchen wir, durch Meditation die Prophezeiung zu erfüllen und den toten Baum wieder zum Wachsen zu bringen. Und derjenige, der es irgendwann schaffen wird, den werden wir als den obersten Bruder ehren und ihm bei seiner schweren Aufgabe mit allen Mitteln unterstützen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Baum wieder wachsen soll, wo er doch schon seit mindestens 800 Jahren tot ist.“, sagte Hanrek.
„So wie du denken viele. Deshalb wird die Zahl der aktiven Brüder auch immer kleiner. Einst waren es Hunderte, heute sind wir gerade mal noch zwanzig.“, antwortete Jorgen.
„Was passiert mit denen, die die Bruderschaft verlassen müssen?“, fragte Hanrek.
„Da ihre Chance vertan ist, den Baum wieder zum Wachsen zu bringen, dürfen sie keine aktiven Brüder mehr sein. Sie werden feierlich verabschiedet, bleiben aber ihr Leben lang der Bruderschaft verpflichtet. Das heißt, sie gehören dann zur Armee der Bruderschaft und die wird dem obersten Bruder für seine Aufgabe ebenfalls zur Verfügung stehen. Wir alle bekommen beim Eintreten in die Bruderschaft auf den Rücken der linken Hand das Symbol des Baums eintätowiert. Und wenn der oberste Bruder ruft, werden alle kommen, egal wo sie sind und was sie gerade tun.“
„Lucek hat mir erzählt, dass es ein Gesetz des Königs gibt, das dafür sorgt, dass ihr mit Geld versorgt werdet.“, bemerkte Hanrek.
„Ja.“, bestätigte Jorgen, „das Gesetz ist schon sehr alt und oft bestand die Gefahr, dass das Gesetz von Königen aufgehoben wird. Aber wir hatten in Kiroloom schon immer einflussreiche Brüder, die es geschafft haben, das zu verhindern. Wir hoffen, dass das Gesetz auch in Zukunft bestehen bleibt.“
Nach zwei Wochen kam wie erwartet der Lehrling aus Hattkel. Er war ein langer Schlacks mit einem freundlichen Gesicht. Sein Name war Binno. Wie Lucek vermutet hatte, verstanden sich die beiden auf Anhieb sehr gut. Hanrek führte Binno herum, zeigte ihm alles, warnte ihn vor den beiden Gehilfen und stellte ihm alle anderen Personen des Haushalts vor. Die Arbeit, die Hanrek bisher schon viel Spaß gemacht hatte, machte jetzt noch mehr Spaß, da er einen Kumpan hatte, mit dem er sie gemeinsam tun konnte. Sie lachten viel und gingen öfter gemeinsam in die Stadt, wenn sie Zeit dazu fanden. Häufig schlossen sich ihnen auch der Stallbursche Mico und der Bruder Jorgen an.
Für eine Gruppe von vier halbwüchsigen jungen Männern bot die Stadt viele Abenteuer. Hanrek stellte fest, dass es Mico faustdick hinter den Ohren hatte. Der Stallbursche kannte sich gut in der Stadt aus und zwar auch in Gegenden, in denen er sich nicht hätte auskennen sollen. Immer dann, wenn Mico die Führung übernahm, kamen sie in so manche düster wirkende Schenke, in denen das Bier billig war aber schal schmeckte und in denen dafür umso kräftiger gespielt wurde. Gerne setzte er dann auch einige Kupferlinge und manchmal gewann er sogar.
Eines Abends hatte Mico wieder einmal die Führung übernommen. Er hatte sie zu einer windschiefen Hütte gebracht und fröhlich mehrere windige Gesellen begrüßt, die ihn alle zu kennen schienen. In einer Ecke war ein munteres Kartenspiel im Gange. Zielsicher ging Mico zu dem Tisch und fragte, ob er mitspielen dürfe. Gerne wurde er in der Runde aufgenommen. Hanrek und die beiden anderen wurden gefragt, ob sie nicht auch mit tun wollten, sie lehnten aber dankend ab. Sie zogen sich stattdessen Stühle heran, bestellten sich jeder ein Bier und begannen sich zu unterhalten. Nur hin und wieder warfen sie einen Blick auf die Kartenspieler. Vor Mico häufte sich so nach und nach ein immer größer werdender Berg Münzen. Man merkte ihm an, dass er in guter Stimmung war. Die drei bestellten sich jeder ein zweites Bier. In der Hütte brummte es vor Geschrei, Lachen und Gesang.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Am Kartentisch wurden Stühle umgestoßen, es flogen Gläser und Münzen auf den Boden und es begann eine wilde Rauferei zwischen einem der Spieler und Mico. Der breitschultrige Gegner Micos war um einiges älter und ein wahrer Hüne, der ihn mindestens um einen Kopf überragte. Er schaffte es Mico in eine Ecke zu drängen und ihn mit beiden Armen zu umklammern, sodass dieser sich nicht mehr rühren konnte. Mico holte kräftig aus und trat ihm mit der Stiefelspitze gegen das Schienbein. Aufheulend knickte der Getroffene ein, verlor das Gleichgewicht und zusammen krachten sie auf den Boden. Der Hüne lockerte dabei seinen Griff und Mico schaffte es fast, sich aus der Umklammerung zu lösen. Er holte Schwung mit dem Kopf und donnerte dem Hünen seine Stirn direkt auf die Nase. Damit hatte er sich genug Raum und Zeit verschafft, um aufzuspringen und etwas Distanz zwischen sich und den Hünen zu bekommen. Dieser kam brüllen vor Wut und aus der Nase blutend wieder auf die Beine, holte aus um Mico einen Kinnhaken zu verpassen. Doch Mico war schneller. Als der Schlag kam, duckte er sich, schlüpfte wieselflink an dem Hünen vorbei und rammte ihm den Ellenbogen mit voller Wucht in die Nieren. Vor Schmerz schrie der Hüne auf und ging zu Boden, wo er sich um Luft ringend wälzte.
Mico ging seelenruhig zum Spielertisch, warf den anderen Spielern einen feindseligen Blick zu, las die Münzen auf, von denen er annahm, dass sie ihm gehörten, warf dem Wirt eine Krone zu, die dieser geschickt mit einer Hand auffing, und nickte dann seinen Freunden zu.
„Lasst uns gehen.“
Die drei machten, dass sie Mico aus der Hütte folgten, bevor jemand auf die Idee kam, sie aufzuhalten.
„Mann, das war aber eine üble Schlägerei.“, sagte Jorgen.
„Na ja. So schlimm war sie nun auch wieder nicht. Ich habe ja noch nicht einmal meine Messer einsetzen müssen.“, sagte Mico und bückte sich, um aus seinem rechten Stiefelschaft ein langes dünnes Messer zu ziehen. Sofort ließ er es wieder zurück gleiten.
„Warum habt ihr euch überhaupt geschlagen?“, fragte Hanrek.
„Er hat behauptet ich spiele falsch.“
„Und hast du?“, fragte Hanrek.
Mico grinste.
„Wenn ich nicht falsch gespielt habe, ist ja wohl klar, dass ich mich schlagen muss, um zu zeigen, dass ich unschuldig bin und er mich mit seiner Frage beleidigt hat. Und wenn ich falsch gespielt habe, kann ich das ja wohl schlecht zugeben, also muss ich so tun, als ob er mich beleidigt hätte. Nach so einer dummen Behauptung muss es also zwangsläufig zu einem Kampf kommen.“
Mit diesen Worten drückte sich Mico um eine ehrliche Antwort, was darauf schließen ließ, dass er tatsächlich falsch gespielt hatte.
Nach diesem Erlebnis gingen sie zwar weiterhin gerne mit Mico in die Stadt, sie achteten aber immer darauf, dass nicht er sondern einer der anderen die Führung übernahm.
Nachdem jetzt Binno angekommen war, hatte auch die Zeit begonnen, in der sie morgens gemeinsam von einem Lehrer Unterricht bekamen. Der Lehrer hatte die Aufgabe ihnen alles beizubringen, was sie als Gehilfen eines Steuereintreibers benötigen würden.
Er hieß Fisilio und war noch recht jung. Er kam aus Kiroloom und hatte sich entschlossen, das ganze Königreich zu bereisen. Auf dieser Reise war er auch in den nördlichen Teil des Königreichs gekommen. Nun brauchte er Geld, um seine Reise fortsetzen zu können.
Er unterrichtete sie auf interessante und natürliche Weise. Beide Lehrlinge hatten große Freude seinem Unterricht zu folgen und lernten spielend.
Neben dem eigentlichen Lernstoff fand Fisilio immer wieder Zeit, ihnen von seinen Reisen zu erzählen. Er erzählte ihnen auch viel über Kiroloom und den König.
„Sag mal Fisilio. Was hat es eigentlich mit dem goldenen Drachenei in Kiroloom auf sich?“, fragte Hanrek in einer Unterrichtsstunde, als Fisilio wieder einmal über seine Heimatstadt Kiroloom berichtete.
„Das Drachenei, das ist eine geheimnisvolle Sache.“, freute sich Fisilio wie immer, wenn einer der Lehrlinge ihm eine interessierte Frage stellte, insbesondere dann, wenn diese Frage ihm daraufhin gestattete, eine interessante Geschichte zu erzählen.
„Ob der Gegenstand, der als Drachenei bezeichnet wird, tatsächlich ein Drachenei ist, oder einfach nur ein eiförmig geformter Goldklumpen, schon das kann oder will einem niemand genau erzählen. Bei dem Drachenei, bezeichnen wir es trotzdem so, handelt es sich wahrscheinlich um den bestbewachten Gegenstand im Königreich.“, begann er seine Erläuterungen.
„Es wird rund um die Uhr von einer ganzen Kringe Soldaten bewacht. Und das sind Elitesoldaten, die normalerweise dazu da sind, den König zu beschützen. Es wird in einem eigens dafür reservierten Raum der Schatzkammer gelagert. Gesehen hat das Drachenei kaum je einer, weil es nicht öffentlich zur Schau gestellt wird. Und ihr wisst, wie das mit solchen Dingen ist, um die viele Geheimnisse gemacht werden. Es ranken sich schnell Legenden um solche Gegenstände und sie sind in den Geschichten doppelt so groß, doppelt so schwer oder doppelt so hoch, wie sie eigentlich in Wirklichkeit sind, da jeder, der die Geschichte hört und weitererzählt, ein Stück dazu dichtet. Was man weiß ist, dass sich das Drachenei in einer Steintruhe befindet. Manche sagen, dass es darin aufbewahrt wird, weil es so hell glänzt, dass man davon blind wird, wenn man es ansieht. Andere sagen, dass es dort aufbewahrt wird, damit es seine Farbe behält und um es vor der Alterung zu schützen, wie man es auch bei anderen Kunstschätzen tut. Was der wirkliche Grund ist, weiß ich nicht, und vielleicht hat man es auch einfach vergessen. Jedenfalls ist das goldene Drachenei sehr sehr alt und von unschätzbarem Wert und so mancher Kunstsammler würde eine riesige Menge Goldkronen dafür bezahlen, um es in seine Sammlung aufnehmen zu können. Aber das Drachenei wird nicht verkauft, sondern es gehört zum Kronschatz. Trotzdem wurde schon oft versucht, das Drachenei zu stehlen. Und ihr wisst, dass auf Bestehlen des Königs die Höchststrafe steht.“
„Aber Hanrek, ich glaube nicht, dass du Angst haben musst, dass aus dem Drachenei tatsächlich einmal ein Drache schlüpft, den du dann töten musst.“, beendete er das Thema mit einem Augenzwinkern in Richtung Hanrek.
Schuldbewusst erinnerte sich Hanrek nach vier Wochen, dass er Miria versprochen hatte, sie regelmäßig zu besuchen. Die ersten vier Wochen waren so arbeits- und erlebnisreich gewesen, dass er es tagsüber nicht geschafft hatte, sie zu besuchen.
Bei der nächsten Gelegenheit, die es ihm ermöglichte, ging er in das Händlerviertel und erstand für einige wenige Kupferlinge ein schönes Paar Ohrringe, das er Miria als kleines Geschenk mitbringen wollte. Dann machte er sich auf den Weg zum Haus von Mirias Tante.
Miria machte ihm sofort Vorhaltungen, dass er sich so lange nicht hatte sehen lassen. Sie freute sich aber sehr über das kleine Geschenk und war sofort besänftigt.
Sie bekam von ihrer Tante ein paar Stunden frei und die beiden zogen los für einen Spaziergang. Miria plapperte munter drauflos und berichtete über ihr neues Zuhause, ihre Arbeit und was sie hier alles Tolles gelernt hatte. Auch Hanrek berichtete, was er die letzten vier Wochen erlebt hatte.
Dann fragte Hanrek sie.
„Miria, hast du manchmal Heimweh nach Hallkel?“
Miria drehte sich um und sah ihn nachdenklich an.
Dann sagte sie leise.
„Ja. Meine Mutter vermisse ich sehr. Ich vermisse auch, die Ruhe, die man in Hallkel manchmal hat. Ich habe einen Lieblingsplatz in unserem Garten hinter dem Haus. Dort konnte ich mich im Sommer abends stundenlang hinsetzen und war ungestört und dort habe ich den Vögeln gelauscht.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.
„Hier haben wir keinen Garten, und wenn ich mich ans Fenster setze, und versuche den Vögeln zu lauschen, dann gibt es einfach keine Ruhe. Ein Karren fährt vorbei, ein Kunde streitet sich mit dem Verkäufer gegenüber, es gibt immer ein Geräusch, das einen ablenkt und stört. Wobei im Moment ist es sowieso zu kalt, um sich ans Fenster zu setzen. Hast du gemerkt, heute Morgen hat es schon geschneit und meine Tante und ich wir haben uns entschlossen noch mehr Holz für den Winter zu kaufen. Wir glauben nämlich, dass es ein sehr kalter Winter wird. Unser Nachbar meint, dass es ein milder Winter wird, weil die Apfelblüte dieses Jahr so spät war. Das halte ich für kompletten Blödsinn.“
Und damit war Miria erneut ins Plappern gekommen. Hanrek schmunzelte in sich hinein. Es war nicht immer so gewesen, dass sie sich so ungezwungen und einfach hatten unterhalten können.
Der Winter kam dieses Jahr zwar spät, aber dann umso heftiger. Es fielen Unmengen von Schnee. Hanrek und Binno, die sich um das Schneeschippen kümmern mussten, konnten die weiße Masse schon nicht mehr sehen. Anders als in ihren Dörfern, in denen das Dorfleben im Winter fast vollständig zum Erliegen kam, ging das Leben in der Stadt weiter. Der Markt fand nicht mehr im Freien sondern in den Markthallen statt und das Angebot war natürlich wesentlich begrenzter.
Das Training in der Bruderschaft fand jetzt doch nicht mehr im Freien statt, da dafür einfach zu viel Schnee lag. Tonnir nahm mittlerweile an den Übungen teil, da seine Rippen geheilt waren, Rannold konnte aber aufgrund seiner Kniebeschwerden weiterhin nicht teilnehmen. Der Heiler äußerte die Vermutung, dass er dauerhaft links ein wenig Humpeln würde.
Die Stimmung zwischen den Lehrlingen und den Gehilfen war eisig. Binno hatte sich natürlich auf die Seite von Hanrek geschlagen. Lucek war über die Situation nicht glücklich, konnte und wollte aber auch nichts tun, solange sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlugen und die Feindschaft sich darauf beschränkte, dass es kleine Wortgefechte und Reibereien gab. Mit ihren Akten kamen sie langsam aber kontinuierlich voran. Mit Miria traf er sich regelmäßig und manchmal nahm er zu den Treffen auch Binno mit. Die abendlichen Touren mit Binno, Jorgen und Mico schliefen in dieser extrem kalten Zeit fast ein. Das Leben hatte sich für Hanrek und Binno eingespielt und wurde fast schon zur Routine.
Irgendwann begann der Schnee zu schmelzen und der Frühling brach an. Lucek nutzte die Gelegenheit, um zu einer seiner Rundreisen auf die Dörfer aufzubrechen. Dazu nahm er Tonnir und Binno mit. Die beiden anderen sollten sich um die Angelegenheiten im Haus kümmern. Rannold um die Sprechstunden und Hanrek um die Akten.
Eines Morgens kam Hanrek in die Küche und fand dort Rannold vor, wie er sich gerade wieder an den Tisch setzte, an dem meist schnell und kurz gefrühstückt wurde. Sonst war niemand im Raum. Rannold schaute nur kurz auf und tat dann betont unbeteiligt. Hanrek wurde stutzig. So kannte er Rannold gar nicht. Dass er nicht grüßte, war normal. Aber sonst hatte er für Hanrek immer einen provozierenden Spruch auf Lager. Gut, heute eben nicht. Nun vielleicht gab er es ja langsam auf ihn immer provozieren zu wollen.
Einen Augenblick später wusste Hanrek, dass er sich getäuscht hatte. Als er die alte eiserne Kanne, die immer mit fertigem Kräutersud auf dem Herd stand, in die Hand nahm, um sich einen Sud einzuschenken, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Mit einem Aufschrei ließ er die Kanne fallen. Der heiße Sud spritzte in alle Richtungen.
Gar nicht überrascht sah Rannold ihn an und fragte unschuldig.
„Hast du dich verbrannt? Du musst das nächste Mal besser aufpassen.“
Als Hanrek laut fluchend die schmerzende Innenfläche seiner Hand betrachtete, sah er, dass die ganze Innenfläche der Hand verbrannt war. Dort wo sich am Griff der alten Sudkanne ein Muster befunden hatte, gruben sich besonders hässliche Brandwunden tief ein. Es roch nach verbranntem Fleisch. Rannolds Werk.
Eilig ging er zu dem Eimer mit Wasser, der immer zum Schutz gegen Feuer neben dem Herd bereitstand, um seine Hand darin zu kühlen. Der Eimer war leer. Auch das war Rannolds Werk, da war sich Hanrek sicher.
Hektisch rannte er auf den Hof, um aus dem Brunnen Wasser zu ziehen. Ungewöhnlicherweise war die Kette von der Kurbel abgerollt, der Eimer hing demzufolge unten im Wasser. Mühsam und unbeholfen drehte Hanrek mit der gesunden Hand an der Kurbel. Das Gewicht des Eimers war ungewöhnlich schwer. Es dauerte endlos, bis der Haken endlich oben am Anschlag blockierte. Doch was an dem Haken hing war nicht der Eimer sondern ein großer Ast von einem Baum. Einen Moment lang starrte Hanrek fassungslos auf das Holz bis er begriff, dass auch dies Rannolds Werk war. Er ließ die Kurbel los und der große Ast rauschte wieder nach unten, wo er mit einem großen Platsch auf die Wasseroberfläche aufschlug. In seiner Not sprang Hanrek schließlich über die Mauer in den Garten der Bruderschaft, um dort irgendwo Kühlung für seine Hand zu finden.
Bei der Bruderschaft störte er die Morgenmeditation der Brüder, was ihm böse Blicke und einige tadelnde Worte einbrachte. Jorgen begriff als erster, was Hanrek mit seinem Gestammel wollte und führte ihn schnell in die Küche. Dort endlich bekam er die benötigte Kühlung.
Rannold hatte die erste Gelegenheit, die sich ergeben hatte, genutzt, um sich hinterhältig an Hanrek zu rächen. Er hatte den Griff der Sudkanne so lange in der Glut erhitzt, bis dieser kurz vor dem Glühen war. Als er hörte, dass Hanrek gleich in die Küche kommen würde, hatte er die Kanne vorsichtig, damit er sich die Finger nicht verbrannte, wieder auf den Herd gestellt, wo sie üblicherweise den ganzen Morgen für das Frühstück stand. Jeder konnte sich dann, wann immer er wollte, einen Sud eingießen. Genau das hatte Hanrek tun wollen und nun saß er mit einer verbrannten Hand in der Küche der Bruderschaft.
Der Koch der Bruderschaft versorgte die hässlichen Wunden mit einem dicken Salbenverband und riet ihm, einen Heiler aufzusuchen.
Der gleiche Heiler, der auch Rannold und Tonnir nach ihrer Auseinandersetzung mit Hanrek versorgt hatte, kümmerte sich noch vor der Mittagszeit um die Hand von Hanrek. Der Heiler war sich sicher, dass Hanrek die Hand wieder würde ganz normal gebrauchen können, aber es würde eine Weile dauern und es würden einige hässliche Narben zurückbleiben. Er machte ihm genau wie der Koch zuvor einen dicken Salbenverband, gab ihm einen Tiegel mit Salbe mit und beschrieb ihm, wie er die Hand behandeln sollte.
Die Folge der Brandwunde war, dass Hanrek die nächsten Wochen nicht arbeiten konnte. Nach seinem Einzelunterricht morgens bei Fisilio, Binno war mit Lucek und Tonnir noch unterwegs, nahm er sich den Nachmittag frei. Er setzte sich in den Hof ins Kräuterbeet und ruhte sich aus. Er nutzte die Zeit, um viele Bücher aus Luceks Bibliothek zu lesen.
Nachdem er jetzt fast schon ein halbes Jahr in Haffkef war, kam er erst jetzt einmal dazu, zu beobachten, wie die Bruderschaft meditierte. Die Brüder kamen in einer langen Schlange feierlich und mit gemessenem Schritt aus dem Haus, umrundeten den toten Baum einige Male und setzten sich dann in Meditationshaltung um den Baum. Mit geschlossenen Augen meditierten sie den ganzen Nachmittag und standen dann plötzlich wie auf ein geheimes Kommando hin gleichzeitig wieder auf. Genauso wie sie gekommen waren, gingen sie auch wieder in einer langen Schlange zurück ins Haus. Dabei wurde die ganze Zeit kein einziges Wort gesprochen. Hanrek war ehrlich beeindruckt.
Beim zweiten Mal, als er die Prozedur sah, fühlte er sich animiert, ebenfalls die Augen zu schließen und zu meditieren, was bei Hanrek hieß, dass er die Gabe fließen ließ und sich ihr ganz hingab.
Er hatte in der Zeit, in der er in Haffkef war, selten Zeit gefunden, sich der Gabe hinzugeben, da der Takt in der Stadt einfach anders schlug als im Dorf. Die Benutzung der Gabe hatte wie immer zur Folge, dass er sich entspannte und Frieden fand. Er begann die Nutzung der Gabe im Kräuterbeet und dehnte sie nach und nach aus bis über den ganzen Garten der Bruderschaft. Auch den toten Baum sparte er nicht aus, sondern erforschte ihn in allen Einzelheiten. Er konnte die glatte Oberfläche des Kerns fühlen, als würde er mit seinen Fingern darüber streichen. Er untersuchte auch die zerfaserten und rauen Stellen, an denen der Baum gespalten war. Jeden einzelnen Zentimeter des Spalts untersuchte er fast zärtlich. Dann fuhr er mit der Gabe die Wurzeln entlang.
Die dünnsten Teile der Wurzeln waren über die Jahrhunderte in der Erde zersetzt worden, aber die etwas gröberen Teile der Wurzeln, die aus Kernholz bestanden, waren erhalten und das seit weit über 800 Jahren. Die Wurzeln reichten sehr tief in die Erde. Er fühlte bis in die kleinsten erhaltenen Fasern hinunter und darüber hinaus.
Doch plötzlich stockte er. Er prüfte noch einmal. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Tief unter dem Wurzelwerk des Baums lagerte eine Heronuss. Er wusste sofort, dass es eine Heronuss war, da er ja im letzten Sommer selbst eine gefunden und eingepflanzt hatte. Ja er hatte sie sogar beim Wachsen unterstützt. Vor hunderten von Jahren musste irgendein längst gestorbenes und vergessenes Tier die Nuss in seinen Bau getragen haben. Der Fund erfüllte Hanrek mit Freude.
In den nächsten Tagen verbrachte Hanrek jede freie Minute im Kräuterbeet. Bis spät in die Nacht saß er dort, wenn möglich.
Die anderen Bewohner des Hauses begannen sich Sorgen zu machen, da sich Hanrek in ihren Augen doch etwas seltsam benahm. Sie vermuteten, dass ihn der Anschlag von Rannold aus der Bahn geworfen hatte und sie hofften, dass Lucek bald zurückkommen würde.
Der Einzige, der sich das natürlich nicht wünschte, war Rannold. Er wusste nicht, dass Hanrek beschlossen hatte, den Vorfall Lucek gegenüber nicht zu erwähnen. Hanrek hatte auch die anderen Bewohner des Hauses beiseite genommen und sie gebeten, Rannolds Hinterhältigkeit unerwähnt zu lassen. Mico hatte über Hanreks heldenhafte Einstellung gelacht, hatte aber versprochen, dass er dicht hielt.
Zollan hatte nur mit der Schulter gezuckt und gesagt. „Wenn du das so willst und für richtig hältst. Bitte.“
Hanrek hatte aber auch mitbekommen, dass Zollan Rannold kurz nach dem Vorfall beiseite genommen hatte und ihm klar gemacht hatte, dass die Küche sein Hoheitsbereich war und er solche Vorfälle in seiner Küche nicht noch einmal dulden würde.
Was Hanrek betraf, war er ganz und gar nicht aus der Bahn geworfen, wenn man davon absah, dass er die rechte Hand noch schonen musste und sie kaum gebrauchen konnte, war er im Gegenteil voller Energie und Tatendrang.
Hanrek hatte, wie er fand, eine äußerst sinnvolle Tätigkeit gefunden, in der er aber keine Hände brauchte.
Wenn er in dem Kräuterbeet saß, ließ er die Gabe fließen und versuchte die Heronuss zum Wachsen zu animieren. Eine schwere Aufgabe, da eine Heronuss bekanntlich nicht in unmittelbarer Nähe eines Heronussbaums keimte. Wieder und wieder versuchte er, den nötigen Wachstumsimpuls auszulösen. Die Nuss wollte jedoch nicht keimen. Es half auch nichts, dass Hanrek vor nicht all zu langer Zeit einer Heronuss beim Keimen und Wachsen geholfen hatte und damit wusste, wie sich das anfühlte und wie er die Nuss unterstützen konnte.
Hanrek hatte natürlich als Erstes geprüft, ob noch Leben in ihr war. Dies war nicht das Problem. Er erwog, die Nuss einfach auszugraben. Diese Idee verwarf er wieder. Erstens hätte er dazu die Bruderschaft bewegen müssen, dass er in ihrem Garten graben durfte und dies in unmittelbarer Nähe und gar unter ihrem heiligen Baum. Das war einfach unvorstellbar. Die Bruderschaft hätte das nie erlaubt. Zweitens hätte das Loch sehr tief sein müssen, und Hanrek wusste nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.
Dann überlegte er, ob er die Wurzel eines anderen Baums dazu bewegen könnte, in die Richtung der Nuss zu wachsen und sie vor sich her an die Oberfläche zu schieben. Auch das verwarf er, da es im Garten und auch in der näheren Umgebung nur Sträucher und keine Bäume gab. Ein neu gepflanzter Baum würde ein ganzes Menschenleben brauchen, um nur annähernd die Größe zu erreichen, die er hier benötigte. Die Nuss lag außerdem nicht frei unter den Wurzeln, sondern war teilweise davon eingeschlossen. Es blieb also nur die Möglichkeit, die Nuss doch zum Keimen zu bringen.
Dann kam Lucek mit Gehilfe und Lehrling von seiner Rundreise zurück und Hanrek hatte erst einmal keine Gelegenheit mehr sich in das Kräuterbeet zu setzen und zu meditieren. Lucek hatte Arbeit mitgebracht. Hanrek schilderte ihm sein Missgeschick mit der Kanne und stellte es so dar, als ob er selbst schuld gewesen wäre.
Lucek nahm natürlich Rücksicht auf seine verbrannte Hand, fand aber haufenweise Arbeit für ihn. Er nahm ihn viel auf Besuche mit in die Stadt und fand auch sonst viele Dinge, die man mit nur einer Hand tun konnte, sodass Hanrek die nächste Zeit kaum einmal dazu kam, sich mit der Nuss zu beschäftigen.
Hanrek erzählte Binno natürlich die Wahrheit über seine verbrannte Hand. Er tat das vor allem, um diesen vor ähnlichen Missgeschicken mit den beiden Gehilfen zu schützen. Er bat aber auch, ihn Lucek gegenüber nichts zu erwähnen. Warum es ihm so wichtig war, dass der Vorfall eine Sache zwischen Rannold und ihm blieb, wusste er nicht. Es fühlte sich einfach richtig an und deshalb tat er es.
Einige Wochen später war seine Hand wieder so weit geheilt, dass er den Verband abnehmen konnte. Die Fingerspitzen waren wieder vollständig geheilt. Die Handinnenfläche hatte dagegen eine tiefe rote Brandnarbe. Das Muster des Griffs der Kanne hatte sich hier tief eingegraben. Nach weiteren zwei Wochen konnte Hanrek die Hand wieder benutzen wie zuvor.
Der Frühling wich dem Sommer und Hanrek, der nun bereits 16 Jahre alt war, beschloss Lucek zu bitten ihm ein paar Tage frei zu geben, damit er seine Familie in Hallkel besuchen konnte. Lucek willigte ein, gab ihm eine Woche frei und daraufhin fragte Hanrek Miria, ob sie mitgehen wollte und könnte. Gewollt hätte sie schon, es gab aber in der Schneiderei zu viel Arbeit, sodass ihre Tante nicht einwilligte. Hanrek versprach Grüße auszurichten und machte sich mit einem kleinen Bündel auf den Weg in sein Heimatdorf.
Als er am späten Nachmittag an seinem Elternhaus ankam, wurde er von seiner Mutter freudestrahlend begrüßt. Sein Vater und sein Bruder waren auf dem Feld. Seine Mutter begann sofort, ihm eine seiner Lieblingsspeisen zu kochen. Sie hatte Mühe, die Freudentränen zurückzuhalten, hieß ihn sich an den Tisch zu setzen und begann ihm eine Frage nach der anderen zu stellen, so schnell hintereinander, dass er mit der Beantwortung nicht nach kam. Als es schon dunkelte, kamen die beiden anderen Familienmitglieder nach Hause, während Hanrek immer noch am Tisch saß und Rede und Antwort stand. Damit wurde es jetzt auch nicht besser. Jetzt musste er zu den Fragen seiner Mutter, zusätzlich noch die Fragen von Vater und Bruder beantworten. Sie stellten die gleichen Fragen noch einmal, die er seiner Mutter bereits beantwortet hatte. Es wurde spät in der Nacht, bis er schließlich ins Bett fiel.
Die nächsten Tage verliefen ereignis- und abwechslungsreich. Er machte Besuche bei Nachbarn und Freunden, richtete Grüße von Miria aus, es wurden Neuigkeiten und Geschichten ausgetauscht und er half natürlich seiner Familie in Haus, Garten und auf dem Feld. Er merkte erst jetzt so richtig, dass ihm diese Arbeit gefehlt hatte.
„Was hast du denn für eine Narbe an der Hand?“, fragte ihn sein Bruder eines Nachmittags, als sie gemeinsam im Stall Werkzeuge putzten.
„Das ist eine eher unerfreuliche Geschichte. Ich habe dir doch erzählt, dass ich mich schon auf dem Weg nach Haffkef mit den beiden Gehilfen geschlagen habe. Die Narbe habe ich als kleines Zeichen dafür bekommen, dass sie das nicht vergessen haben.“
Und dann erzählte Hanrek Stonek die ganze Geschichte mit der Sudkanne.
„Lass mal sehen.“, bat Stonek. Er betrachtete sie eingehend.
„Hm. Sie sieht aus wie ein Baum. Passt zu dir, da du Bäume ja so liebst.“
Hanrek sah erst seinen Bruder und dann seine Hand verblüfft an.
„Du hast recht, wenn man sich das als den Stamm denkt ...“, Hanrek deutete auf die dickste Linie in der Mitte der Handfläche, „... und diese Linien als die Äste ...“, dabei fuhr er mehrere etwas dünnere Linien entlang, die von der dicken Linie abgingen, „... dann kann man darin wirklich einen Baum sehen.“
„Ich habe mir den Griff von der Sudkanne noch gar nicht so genau angesehen. Aber jetzt vermute ich, dass auf dem Griff tatsächlich ein Baum als erhabenes Motiv vorhanden ist. Das hat sich dann viel tiefer in die Haut eingegraben als der Rest des Griffs. Sobald ich wieder in Haffkef bin, werde ich mir die Sudkanne mal genauer ansehen.“
Hanrek vergaß es auch nicht, bei seinem Zögling dem kleinen Heronussbaum im Garten vorbeizugehen. Der kleine Baum war schon kein ganz kleiner Baum mehr sondern er war kräftig gewachsen und überragte Hanrek deutlich. Natürlich begrüßte er ihn auf seine spezielle Art und Weise, mithilfe seiner Gabe. Der kleine Heronussbaum hatte natürlich noch nichts gemeinsam mit der väterlichen Präsenz seines Ahnen im Wald aber auch er hatte schon eine beachtliche Aura. Hanrek saugte diese Aura in sich auf und speicherte das Gefühl, das ihm der junge Baum vermittelte, tief in seinem Inneren ab.
Die Woche war schnell verstrichen und viel zu schnell war es wieder Zeit, nach Haffkef zurückzukehren. Pirion und Stonek versprachen ihm, ihn in Haffkef so bald wie möglich zu besuchen. Sie hatten vor, im Herbst nach der Ernte Lebensmittel in Haffkef auf dem Markt zu verkaufen und wollten ihn dabei besuchen kommen. Hanrek machte sich auf den Weg zurück und kam diesmal ohne Zwischenfälle in Haffkef an.
Zurück von seiner Reise machte sich Hanrek bei der nächsten Gelegenheit daran, den Griff der Sudkanne zu untersuchen. Wie sich jedoch herausstellte, hatte Zollan nach dem Vorfall mit der Kanne den eisernen Griff durch einen Holzgriff ersetzt.
Als Hanrek ihn danach fragte, kam die Antwort. „Den eisernen Griff suchst du. Möchtest du dir mal wieder die Finger wärmen?“, und sofort fing Zollan wieder zu keckern an.
Und erst nach einer Weile war er wieder in der Lage, die Frage von Hanrek zu beantworten.
„Den habe ich, wie du vielleicht bemerkt hast, durch einen Holzgriff ersetzt. Wenn der aus Versehen im Feuer herumliegt, dann kann nur ein Unfall passieren. Er geht in Flammen auf. Habe den Griff in das Zimmer mit dem Gerümpel geworfen, du weist schon ganz unter dem Dach die Kammer am Ende des Gangs. Da irgendwo weit hinten wird er liegen, bis Lucek mal wieder auf die Idee kommt, dass ihr Lehrlinge die Kammer ausräumen sollt und ein paar Sachen auf’m Markt verkauft werden sollen und die restlichen Sachen werden dann ganz weggeworfen.“
Glücklicherweise war Lucek in letzter Zeit nicht auf diese Idee gekommen und nach langem Suchen, einigen leichteren Schnittverletzungen und einigen Niesanfällen, die durch einen alten staubigen Teppich hervorgerufen wurden, fand Hanrek ihn in der dunklen Kammer. Er nahm ihn mit auf sein Zimmer und schaute ihn sich dort genauer an. Wie geahnt, hatte der Griff ein erhabenes Motiv eines Baums. Das Motiv war filigran gearbeitet und eine gute handwerkliche Arbeit. Hanrek beschloss, den Griff als Erinnerungsstück aufzubewahren und steckte ihn in sein Bündel.
Einige Tage später fand er endlich auch mal wieder Gelegenheit, sich daran zu machen, die Heronuss zum Keimen zu bewegen. Sein Plan war, die Aura, die er bei dem jungen Baum im Garten seiner Eltern wahrgenommen hatte, abzurufen und diese der Nuss als ihre eigene Aura zu übermitteln. Gleichzeitig wollte er versuchen, die Nuss von anderen Einflüssen abzuschirmen. Er vermutete, dass der tote Heronussbaum einen Rest an Aura ausstrahlte, die die Nuss wahrnehmen konnte und verhinderte, dass sie sich zum Keimen bewegen ließ. Der Plan klang einfach und logisch, er stellte sich in der Ausführung aber als harte Konzentrationsarbeit heraus.
Mehrere Tage versuchte er verbissen zum Ziel zu gelangen und begann schon langsam daran zu zweifeln, dass der Plan überhaupt durchführbar war. Als es ihm dann tatsächlich gelang, beide Dinge gleichzeitig zu tun, war er überrascht und voller Euphorie. Diese Euphorie wurde schließlich belohnt. Es begann mit einer ganz zarten und sachten Resonanz, die er auf die Übertragung der übermittelten Aura bekam. Es wirkte auf Hanrek fast wie eine Frage, die ihm die Nuss stellte. Er beantwortete die Frage der Nuss mit noch größeren Anstrengungen, in denen er sich bemühte, die Aura zu verstärken. Und schließlich gelang es. Die Nuss keimte.
Hanrek hätte am liebsten Luftsprünge gemacht und wäre in Jubelgeschrei ausgebrochen und er musste sich doch normal verhalten, denn wem hätte er erklären wollen, dass er es geschafft hatte mit der Kraft seiner Gedanken nämlich der Gabe, von der niemand etwas wusste und wissen sollte, über mehrere Schritt Entfernung hinweg eine Heronuss tief in der Erde unter dem toten Gerippe des alten Baums zum Keimen zu bringen.
Er musste lächeln, als ihm die Absurdität der Situation bewusst wurde. Niemand hätte ihm vielleicht mit Ausnahme der Bruderschaft eine solche Geschichte geglaubt.
Nachdem die Nuss endlich gekeimt hatte, begann eine weitere schwere Aufgabe. Der Spross, der noch tief in der Erde war, musste an die Oberfläche geleitet werden. Als Hanrek die möglichen Wege an die Oberfläche ermittelte, wurde ihm Angst und Bang um den kleinen Spross. Der natürlichste Weg nämlich einfach gerade nach oben war versperrt.
Ein Spross des Heronussbaums hatte normalerweise die Kraft, alles was auf seinem Weg lag fort zu räumen, beiseite zu drücken oder bei größeren Hindernissen diese zu sprengen und zwar mit einer Kraft, wie Wasser, das durch kleine Ritze ins Innere eines Felsbrockens eingedrungen ist, durch Gefrieren zu Eis wird, sich dadurch ausdehnt und dabei den Felsbrocken sprengt. Der Spross war in der Lage sich durch ein Felsmassiv zu bohren aber er war eben nicht in der Lage es mit einem an Festigkeit nicht zu überbietenden Heronussbaum aufzunehmen.
Die Gefahr war, dass der Spross geradewegs in eine Sackgasse des Wurzelwerks des Heronussbaums hinein wuchs und in dem Versuch sich durchzukämpfen, verkümmerte und starb.
Die erste Idee Hanreks war, den Spross etwas nach unten und dann an dem Wurzelwerk vorbei zu führen. Hanrek versuchte es, der Spross ließ sich aber nicht dazu bewegen nach unten zu wachsen. Als Hanrek diesen Versuch schließlich aufgab, hatte er wertvolle Zeit verloren. Der Spross war mittlerweile gefährlich nahe an einer Sackgasse angekommen und Hanrek war sich nach seinem vorhergehenden vergeblichen Versuch sicher, dass er ihn da nicht wieder hätte herausführen können. Also suchte er verzweifelt nach weiteren möglichen Wegen. Der einzige Weg, der ihm sicher genug erschien, war der mitten durch den Baum. Am Ende würde der Spross aus dem Spalt herauskommen.
Der Spalt, der durch den Baum verlief, ging im Zickzack und reichte bis hinunter ins Wurzelwerk in der Erde. Allerdings gab es da eine kritische Stelle, die nur eine sehr kleine Lücke bot. Hanrek hoffte, dass der neue Heronussbaum irgendwann stark genug sein würde, um diese Stelle zu erweitern. Sollte er es nicht schaffen, den engen Ring zu sprengen, dann war Hanrek klar, das der junge Baum nicht mit genug Nahrung versorgt werden würde.
Er schob diesen Gedanken beiseite, das würde die Zukunft bringen, daran konnte er heute nichts ändern und deshalb konzentrierte er sich wieder, auf die ohnehin schon schwere Aufgabe, den Spross durch das Labyrinth zu leiten.
In den nächsten Tagen verbrachte er jede freie Minute im Kräuterbeet. Immer dann, wenn er seinen Freund Jorgen besuchte, bat er ihn mit ihm in den Garten zu gehen. Die Übungsstunden fanden ohnehin im Garten statt. Immer dann konnte er direkt aus dem Garten der Bruderschaft seine Gabe fließen lassen. Jedes Mal, wenn er wieder Kontakt mit dem Spross aufnahm, stellte sich ihm die bange Frage, ob der Spross noch auf dem richtigen Weg war oder ob er mittlerweile in eine Sackgasse hineingewachsen war, aus der Hanrek ihn nicht mehr befreien konnte.
Nach einer Woche war schließlich das Werk vollbracht. Der Spross hatte alle gefahrvollen Stellen überwunden und hatte freie Bahn nach oben. Stolz ging Hanrek an diesem Abend zu Bett.
Ein markerschütternder Schrei riss ihn am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Schlaftrunken und alarmiert torkelte er aus dem Bett und suchte nach der Ursache des Schreis.
Das ganze Haus lief zusammen und keiner wusste, wo der Schrei hergekommen war. Erst als aus dem Garten der Bruderschaft weiteres lautes Stimmengewirr kam, vermutete man, dass auch der Schrei dort hergekommen war. Alle liefen in den Hof hinaus. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand aus den aufgeregten Diskussionen der zusammengelaufenen Brüder einen Reim machen konnte.
Einer der Brüder hatte wie jeden Morgen einen kurzen Rundgang im Garten gemacht und hatte dabei den Spross im Heronussbaum entdeckt. Er war es gewesen, der daraufhin den durchdringenden Schrei ausgestoßen hatte. Die Diskussionen der Brüder drehten sich nur um ein Thema: Die Prophezeiung des Baums war in Erfüllung gegangen.