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Kapitel 1: Wie man aus einer schwarzen Null eine rote macht

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Gottlingen hat alles, was eine anständige Gemeinde braucht: Eine Schule, eine Kirche, einen Dorfplatz, eine Beiz, einen Dorfladen, ein Altersheim, einen Sportplatz. Es mangelt den Menschen hier an nichts, vorausgesetzt, sie sind mit dem Minimum zufrieden. Denn natürlich: Die Schule ist veraltet, der Sportplatz bietet nicht allen Vereinen Raum, die ihn gerne benützen würden, im Altersheim muss etappen- und etagenweise geduscht werden. Grosse Sprünge machen kann die Gemeinde nicht, man kommt gerade mal so durch. Der Gemeinderat trifft sich zwar regelmässig zur Sitzung, ist aber in seiner Kreativität ziemlich beschnitten, denn für grosse Visionen fehlt das Geld. Jeder Franken fliesst in das, was ohnehin gerade unumgänglich ist, und so segnet der Rat eben das ab, was zu tun ist.

So auch an diesem Abend. Die Schulkommission hätte gerne einen neuen Belag auf dem verwitterten Tartanplatz, aber die Kostenschätzung, die sie dem Gemeinderat vorlegt, ruft dort nur einen verzweifelten Heiterkeitsanfall und ein deutliches Nein hervor. Dasselbe gilt für die Anfrage des Altersheimverwalters, der eine Sanierung der sanitären Anlagen fordert. Solange die alten Leute fliessend Wasser über dem Gefrierpunkt haben, erklärt Gemeindepräsident Guido Frei seinen Kollegen, muss das reichen, denn für alles andere ist kein Geld in der Kasse. Zumal es Nachbargemeinden gebe, die noch schlimmer dran sind, weil sie regelmässig Bittgänge zum Kanton unternehmen müssen. So gesehen ist Gottlingen schon beinahe ein Musterknabe. Eine Null kann schwarz oder rot sein, und hier ist sie schwarz, Gottlingen kommt aus eigenen Kräften durch, zwar nur gerade mit dem Nötigsten, aber es reicht knapp, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Und die Region ist arm an Unvorhergesehenem.

In aller Regel.

Guido Frei diktiert dem Gemeindeschreiber Erwin Bitterli gerade eine höflich formulierte Absage an den Altersheimverwalter ins Protokoll, während die Gemeinderatskollegen Toni Muff, Liliane Aemisegger, Martin Knorr und Alfredo Pedrutto dem Ende der Sitzung entgegen fiebern, als das Telefon von Erwin Bitterli klingelt. Dem würde es im Grunde nie einfallen, während einer Gemeinderatssitzung einen Anruf entgegen zu nehmen, aber wer auch immer am anderen Ende der Leitung ist – er scheint nicht aufgeben zu wollen. Guido Frei verdreht mitten im Satz die Augen und fordert seinen Gemeindeschreiber auf, den Anruf eben in Gottes Namen anzunehmen, damit man danach wieder mit den ordentlichen Geschäften fortfahren könne. Bitterli zuckt entschuldigend mit den Schultern und klemmt sich das Handy ans Ohr, während er ungerührt das Protokoll weiter führt.

«Bitterli. – Wer? – Wann ist das passiert? – Aber wie… - Alle? Alle zusammen?»

Jetzt hat der Bitterli – beziehungsweise sein unbekanntes Gegenüber – die ungeteilte Aufmerksamkeit des Gemeinderates. Der Gemeindeschreiber ist nicht gerade als nervöse Person bekannt, aber nun ist sein Gesicht weisser als das der Bettlaken im Hotel Rössli in guten Zeiten. Und daran ändert sich auch nichts, als er den Anruf beendet hat und seine Kollegen zunächst einmal anschweigt.

«Erwin. Wer war das? Was stimmt nicht? Ist etwas mit deiner Familie?» Liliane Aemisegger klingt ehrlich mitfühlend – und gleichzeitig um sich selbst besorgt. Sollte etwas sein mit der Familie vom Bitterli, wäre das sicherlich traurig, aber dann betrifft es wenigstens nicht sie.

Der Gemeindeschreiber starrt an die gegenüberliegende Wand, wo es rein gar nichts anzustarren gibt, bis er endlich die Fassung wieder gewinnt.

«Die Sekte. Oben im Schlohwinkel. Mit dem Bus. Ein Unfall. Weiss nicht genau, wie.»

Nun starrt der Gesamt-Gemeinderat den Bitterli an wie einen Geist, was gut zu seiner Gesichtsfarbe passt. Allen ist klar, dass da noch etwas nachkommen muss, alle wissen, dass das noch nicht alles ist, aber keiner wagt es, nachzufragen. Alle warten sie, als liesse sich das Unvermeidliche gewissermassen zu Tode schweigen.

«Es hat keiner überlebt. Die sind alle mausetot. Die ganze Belegschaft. Der Schlohwinkel ist leer. Kein Mensch mehr dort.»

Der Gemeindepräsident schaut auf seine Akten, wo aus der schwarzen Null mit einem Mal eine rote geworden ist – oder schlimmer. Viel schlimmer.



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