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Kapitel 3: Wie man sich eine Absolution holt

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Einen kurzen Moment lang – nur ganz kurz, wirklich, aber eben doch für einen Moment – muss der Pfarrer Nyffenegger darüber nachdenken, wo denn genau der Beichtstuhl in seiner Kirche ist. Wer beichtet denn heute noch? Die letzte Beichte, die er abgenommen hat, dürfte gut und gerne fünf oder sechs Jahre her sein. Deshalb stutzt er für den Bruchteil einer Sekunde, als der späte Gast in der Kirche auftaucht, kurz vor Torschluss.

Abschlagen kann der Nyffenegger die Bitte um eine Beichtgelegenheit schlecht. Zum einen wird ein Pfarrer ja nicht nach Stunden honoriert, sondern hat permanent Bereitschaft. Zum anderen fragt hier nicht irgendeiner nach einer Beichte, sondern der Gemeindepräsident persönlich. Und drittens ist der Pfarrer viel zu neugierig, um Nein zu sagen. Also geleitet er den Guido Frei zum Beichtstuhl, den er schliesslich doch noch findet.

Der Gemeindepräsident wirkt nervös. Aber das ist nicht weiter erstaunlich, denn wenn einer kurz vor dem kirchlichen Feierabend beichten kommt, muss ihm etwas auf der Seele liegen. Der Pfarrer deutet auf die linke Seite des Stuhls, wartet, bis das Gemeindeoberhaupt hinter dem Vorhang verschwunden ist, huscht dann noch einmal kurz in die Sakristei, um sich ein wenig Messwein und einige Hostien als Zwischenmahlzeit zu holen und klettert mit dem Proviant in der Hand in seinen Teil des Stuhls.

Auch wenn er seinen Beruf nun doch einige Jahre ausübt, heute Abend wird der Pfarrer auf dem linken Fuss erwischt. Wie sieht die Prozedur bei der Beichte aus? Wo dieses Wissen sein sollte, wartet nur ein schwarzes Loch auf den Nyffenegger, aber er hat das Gefühl, dass der Gemeindepräsident heute ebenfalls nicht viel Wert legt auf Formalitäten. Also verliert der Geistliche keine unnötige Zeit.

«Was liegt euch auf dem Herzen, Herr Gemeindepräsident?»

Nur schemenhaft kann der Nyffenegger durch das Holzgitter hindurch sein Gegenüber erkennen. Der Frei hat den Blick gesenkt, gelegentlich hebt er den Kopf kurz, um durch den schmalen Schlitz im Vorhang ins Kirchenschiff zu spähen. Was hat denn der ausgefressen, denkt sich der Pfarrer in wohliger Vorfreude und greift zum Messbecher.

«Pfarrer, was sagt Gott, der Herr, über Betrug?»

Der Pfarrer verschluckt sich um ein Haar am Messwein. Ist der Frei gekommen, um zu beichten, dass er die Gemeindekasse geplündert hat? Nur gut, dass er, der Pfarrer, seinen Lohn von der Kirchgemeinde bezieht und nicht von der politischen Gemeinde. Aber darüber kann er sich später Gedanken machen, nun muss er sich um sein Schäfchen kümmern – korrupt oder nicht.

«Der Herr sagt uns unmissverständlich, dass wir nicht begehren sollen, was dem Nächsten gehört. Er hat uns die zehn Gebote geschenkt, in denen er festhält: Du sollst nicht stehlen. Und er sagt uns an vielen Stellen im Buch der Bücher, dass uns das Streben nach irdischen Gütern den Weg zum Himmelreich versperrt.»

So, denkt der Pfarrer, nun, wo er den Beichtstuhl doch noch gefunden hat, wieder ganz in seinem Element, damit sollte es klar sein, was Gott, der Herr, von Betrug hält, nämlich nichts. Der Nyffenegger hofft allerdings insgeheim, dass die deutlichen Worte nicht dazu führen, dass der Gemeindepräsident ohne die Preisgabe weiterer Details die Flucht ergreift.

Daran scheint dieser im Moment nicht zu denken, auch wenn die Worte des Pfarrers ganz offensichtlich nicht zu seiner Beruhigung beigetragen haben. Nun späht er noch ein bisschen gehetzter ins Kirchenschiff, der Guido Frei, bevor er schliesslich doch weiterspricht.

«Wenn aber, mein Hirte, kein Einzelner sich bereichert hat in diebischer Absicht, sondern die ganze Gemeinschaft profitiert? Und wenn keiner mit bösem Willen gelogen und betrogen hat, wenn… wenn der Betrug nur darin liegt, dass einer nichts gesagt hat? Gar nichts?»

Das ist dem Pfarrer Nyffenegger ein bisschen zu hoch. Wie kann man betrügen, ohne etwas zu tun, einfach mit blossem Schweigen? Wieso die ganze Gemeinschaft? Hat der versammelte Gemeinderat die Kasse geplündert und die Beute an die Armen und Kranken verteilt? Und warum hat die Kirche nichts gekriegt? Vor allem aber: Wächst sich das hier zu einer theologischen Moraldebatte aus? Der würde sich der Nyffenegger nun nicht gerade gewachsen fühlen. Andererseits: Endlich eine Herausforderung im tristen Leben eines Dorfpfarrers.

«Manchmal entsteht aus gutem Willen Böses. Dann gilt es, das zu erkennen und einen neuen Weg einzuschlagen, das Geschehene ungeschehen zu machen oder, wenn das nicht möglich ist, es wenigstens zu bereuen.»

Der Gemeindepräsident lässt ein gequältes Stöhnen hören. Offenbar ist das nicht die Antwort, die er hören wollte. Der Pfarrer hat das sichere Gefühl, dass ihm noch einige wesentliche Informationen fehlen, um hier einer armen Seele Erleichterung zu verschaffen – oder sie in die ewige Verdammnis zu schicken, was auch immer.

«Wollt ihr mir nicht sagen, was es ist, das ihr getan habt, Herr Gemeindepräsident?»

Der Frei seufzt, den Blick weiter zum Boden gesenkt, und der Pfarrer hat das Gefühl, es könnte die Situation auflockern, wenn er einen Schluck Messwein nimmt, dass er damit vielleicht eine Art Wirtshausatmosphäre schaffen kann, auch wenn das nicht ganz stimmt, denn der bedauernswerte Frei auf seiner Seite des Beichtstuhls hat ja nichts zu trinken. Aber es wirkt offenbar dennoch, nun spricht er endlich, der Frei, wenn auch zögerlich und mit belegter Stimme.

«Die Leute im Schlohwinkel oben. Die Glaubensgemeinschaft. Sie erinnern sich, Herr Pfarrer?»

Eine recht überflüssige Frage, findet der Pfarrer, denn wenn sich eine Sekte im Dorf niederlässt, so ist das durchaus ein Thema, das einen Geistlichen umtreibt. Etwa zwei Jahre ist es her, als diese seltsame Truppe hier aufgetaucht ist, offenbar eine Art Schweizer Ableger einer finnischen Sekte. Genaueres ist nie klar geworden, denn die Leute haben dort sehr zurückgezogen gelebt. Das war auch ein Grund dafür, dass sich der Pfarrer nach ersten sorgenvollen Gedanken später nicht mehr damit beschäftigt hat – ganz sektenuntypisch gab es keine Missionierungsversuche im Dorf, das Grüppchen von neun Frauen und Männern ist stets für sich geblieben, nur ganz selten hat man einen von ihnen im Dorf gesehen. Hin und wieder hat er sich überlegt, dort oben mal einen Augenschein zu nehmen, der Pfarrer, auch wenn er nie genau gewusst hat, wofür das gut sein sollte. Hin zum Christentum führen lässt sich eine Sekte ja selten, nur weil der Dorfpfarrer die Nase zur Tür herein hält. Aber irgendwie schien es ihm, als wäre es seine Pflicht, es wenigstens zu versuchen. Doch bevor er sich dazu durchringen konnte, war der Schlohwinkel wieder verlassen und die Sektenbrüder zuhause beim Schöpfer – natürlich beim richtigen und nicht bei der Fantasiefigur, die diese Exil-Finnen vermutlich anbeteten. Ein bedauerlicher Unfall, sicher, aber irgendwie auch ein schönes Zeichen von oben, fand der Nyffenegger damals. Und der zweite Gedanke war: Problem gelöst.

«Ich erinnere mich, Frei. Natürlich erinnere ich mich. Was ist damit? Da ist ja jetzt schon einige Zeit keiner mehr oben. Bedrückt euch das tragische Unglück immer noch? Ist es das? Träumt ihr schlecht?»

Der Frei lässt ein Lachen hören, aber kein fröhliches, eher ein verzweifeltes.

«Da habt ihr Recht, Herr Pfarrer, ich schlafe nicht besonders gut. Aber nicht wegen des Unglücks. Ich kann ja nichts dafür, dass diese Leute sich kein anständiges Fahrzeug besorgt haben, das eine Kurve machen kann, wenn eine Kurve kommt. Das ist es nicht, nein. Es ist nur… Wisst ihr, dass wir nicht schlecht gelebt haben von dieser Gemeinschaft?»

Oh ja, das weiss der Pfarrer. Er erinnert sich lebhaft an die Diskussion damals an der Gemeindeversammlung, als es um die Frage ging, ob das grosse Haus mit Umschwung dort oben im Schlohwinkel an eine dubiose finnische Sekte verpachtet werden soll oder nicht. Über eine Stunde lang hatten sich die verschiedenen Redner das Mikrofon weitergereicht und gewettert über den Vorschlag des Gemeinderates, der fand, man solle das tun. Das ganze Dorf war in heller Aufregung gewesen. Dann hatte der Gemeindepräsident einige weitere Argumente zum Besten gegeben, und die Stimmung war gekippt.

Argument Nummer 1: Den Schlohwinkel einfach leer stehen zu lassen, sei schade, das Haus sei soweit eigentlich gut beieinander, und wenn man es nicht verpachte, dann werde früher oder später der Kanton kommen und einem dort eine Meute Flüchtlinge aufs Auge drücken, wie er es eben immer tut, wenn irgendwo auf dem Land ein paar Räume frei sind. Das wiederum war nun auch nicht im Sinn der Leute im Dorf. Und Argument Nummer 2: Diese Finnen hatten den Schlohwinkel besichtigt, waren begeistert und hatten der Gemeinde ein Angebot unterbreitet, das einiges über dem lag, was dieser sich zu fragen getraut hätte. Mit anderen Worten: Die Verpachtung des Schlohwinkels an diese seltsamen Leute war ein sehr willkommener Zustupf in die Gemeindekasse. Sogar eine Art Ankunftsprämie hatte die Sekte in Aussicht gestellt. Diese Details waren es, die an der denkwürdigen Gemeindeversammlung kurz darauf zu einem grossmehrheitlichen Ja zur Verpachtung führten, gegen die Stimmen einiger ewiger Nörgler.

Jedenfalls, der Pfarrer weiss Bescheid, und in seiner Antwort balanciert er geschickt zwischen himmlischen und irdischen Werten.

«Ja, gewiss, und auch wenn ich das Streben nach dem schnöden Mammon als Mann Gottes verurteile, so weiss ich doch, dass ihr als Gemeindepräsident eure Mittel braucht. Es sei euch gegönnt, Frei. Habt ihr das Gefühl, dass ihr euch zu Unrecht bereichert habt? Es war doch ein ordentlicher Pachtvertrag.»

Nun schaut der Frei erstmals auf, sieht dem Pfarrer ins Gesicht, als der gerade wieder zum Messwein greift und eine Hostie in den Wein tunkt und versonnen daran knabbert, bevor ihm auffällt, dass ihn der Frei anschaut.

«Herr Pfarrer, der Pachtvertrag war in Ordnung. Rechtlich ist alles einwandfrei. Und Gott weiss, wir haben das Geld von dieser Glaubensgemeinschaft ordentlich eingesetzt, zum Wohle aller. Es gibt noch viele Projekte, die wir gerne umsetzen wollen im Dorf. Und dank dem Geld der Sekte können wir das auch tun. Weiterhin. Es kommt ja, Monat für Monat.»

Der Pfarrer verschluckt sich ein wenig an den letzten Krümeln der Hostie und hustet. Als er sich wieder erholt hat, rückt er näher ans trennende Holzgitter.

«Wie meint ihr das, Frei? Da oben ist doch seit Monaten kein Mensch mehr. Da gibt es doch keine Pacht mehr zu holen.»

Der Frei verzieht das Gesicht.«Der Pachtvertrag läuft weiter. Das Geld wird aus Finnland überwiesen. Von der Zentrale dieser Leute. Das Geld kommt weiterhin.»

Der Pfarrer schüttelt verständnislos den Kopf.«Haben die zu viel Geld oder was? Pacht für ein leeres Haus? Warum schicken denn die nicht einfach ein paar neue Jünger hierher? Gott sei mir gnädig, mir ist es recht, wenn sie es nicht tun, aber verstehen tue ich es trotzdem nicht. Oder besteht ihr auf den laufenden Pachtvertrag? Das wäre kein feiner Zug, Frei. Nach einem solchen Unglück muss man Grösse zeigen.»

«Wir bestehen auf gar nichts, Herr Pfarrer.» Jetzt späht der Gemeindepräsident wieder ins Kirchenschiff hinaus, und als er weiterspricht, tut er es mit gesenkter Stimme.«Natürlich würden wir die Pacht auflösen, wenn man uns fragt. Sofort würden wir das tun. Aber es hat bisher keiner gefragt. Und ich glaube, das tut so bald auch keiner. Denn Herr Pfarrer, wir haben den Finnen nie gesagt, was hier passiert ist. Und die scheinen von nichts zu wissen. Es hat nie jemand nachgefragt. Wir kassieren, Herr Pfarrer, eine Pacht für eine tote Truppe. Was sagt Gott dazu? Wie schlimm ist es?»

Der Pfarrer starrt den Nyffenegger schweigend an, bevor er zum Messwein greift. Vor seinem inneren Auge tragen die himmlischen und die irdischen Werte gerade einen kleinen Machtkampf aus.



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