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Kapitel 2: Wie man seiner Tochter einen Russen vom Leib hält

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Manchmal starrt der Elias Grunder seine Tochter einfach an und fragt sich, wie er so etwas eigentlich zuwege bringen konnte. Natürlich, seine Frau war attraktiv gewesen, keine Frage, und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte der Elias Grunder das weder gesagt noch halblaut gedacht, denn von den Toten nur Gutes, das hat er schon als Kind gelernt, aber die Schönheit seiner Tochter kann auch das nicht erklären. Manchmal findet der Grunder, das Mädchen sei schon fast von überirdischer Schönheit, aber mit einem solchen Gedanken versündigt man sich ja gewissermassen, und er lässt ihn schnell fallen. Und ausserdem ist sie kein Mädchen mehr, die Franziska, nein, eine junge Frau ist sie inzwischen, was ihre Schönheit nur noch offensichtlicher und in einem gewissen Sinn offiziell macht. Das erlaubt es jedem, sich an dieser Schönheit zu laben, sie anzuschauen, anzustarren trifft es wohl eher. Selbst im Dorf, wo man seine Tochter ja nun wirklich lange genug kennt, fällt so manchem Mann noch die Kinnlade herunter, wenn sie die Einkäufe erledigt. Er hat gelernt, damit zu leben, der Elias Grunder, auch wenn es ihm zuwider ist, es lässt sich ja doch nicht ändern. Aber wenn Franziska hier, in seinem Haus, an seinem Tisch, angestarrt wird, dann ist das etwas ganz anderes, dann ist das ungebührlich und unanständig und er muss ein Machtwort sprechen, er muss diesem Russen nun endlich einmal –

Aber der Russe starrt eben gar nicht. Das ist es ja gerade. Da kann der besorgte Vater noch so geschickt sein, er kann noch so verstohlen auf den Teller schauen und dann urplötzlich den Kopf hochreissen und den Russen fixieren, nicht ein einziges Mal erwischt er diesen dabei, dass er Franziska anstarren würde. Im Gegenteil, schon fast demonstrativ hält dieser Ivan seinen Kopf Richtung Teller gebeugt. Wenn der Bauer Grunder ganz ehrlich ist mit sich selbst, dann ist er schon fast so weit, dass er diesen Russen an den Schultern packen und ihn schütteln und fragen will, was zur Hölle nicht in Ordnung ist mit ihm, er ist doch ein junger Mann, was fällt ihm ein, die wunderschöne Tochter des Hauses mit keinem Blick zu würdigen?

Aber das zu tun, und der Grunder weiss es, wäre sehr seltsam. Der Ivan, dieser Russe, der ihm beim Heuen hilft und bei allen anderen Arbeiten und der eigentlich gar kein Russe ist, sondern von irgendwo sonst aus dieser Ecke stammt, was dem Bauern egal ist, solange er arbeitet, dieser Fast-Russe also ist von so ausgesuchter Höflichkeit und Zurückhaltung, dass es kaum zu fassen ist. Aber wie soll man einem temporären Arbeitsgast solche vorbildlichen Charakterzüge vorwerfen, nur weil sie einem unheimlich vorkommen? Und vor allem: Wie soll er sie ihm vorhalten? Der Ivan spricht kaum ein Wort Deutsch, jedenfalls muss der Bauer das annehmen, denn er sagt so gut wie nie ein Wort. Andererseits versteht er jede Anweisung auf dem Feld, aber das mag daran liegen, dass er zuhause schon auf einem Bauernhof gearbeitet hat, und Heuen ist Heuen, ob nun hier im Appenzellerland oder in Russland oder irgendwo neben diesem Russland.

«Schmeckt es dir, Ivan?»

Der Bauer versucht sein Glück, Ivan schaut kurz auf, schüchtern, fast ängstlich, der Bauer deutet auf seinen Teller und versucht, aufmunternd zu schauen, ein Lächeln bringt er nicht zuwege. Aber das liegt nicht am Ivan, der hat ihm nichts zuleide getan. Im Gegenteil, nur ist es eben so, dass sich der Bauer das Lächeln schon lange abgewöhnt hat, aber Ivan versteht auch so, was gemeint ist, er lächelt und hält einen Daumen hoch, eine Art Kompliment wohl für die Köchin des Hauses, und die lächelt nun ebenfalls. Im Gegensatz zu Ivan starrt sie nicht in die Tiefe des Tellers, sondern schaut Ivan offen an, und der fängt den Blick kurz auf, bevor er sich ohne erkennbare Reaktion wieder hinter die Suppe macht.

Zwei junge Leute unter einem Dach, denkt sich der Bauer, das Natürlichste der Welt wäre es, aber er wüsste es zu verhindern, auf jeden Fall und zum Besten seiner Tochter, denn der Ivan, der wird nach der Saison wieder sein Bündel schnüren und zurück nach Russland oder diese andere Ecke gleich daneben ziehen. Wenn er seiner Tochter eines nicht wünscht, der Bauer, der sonst wenig auf Gefühle gibt, dann ist es ein gebrochenes Herz.

Der Gedanke löscht ihm den Appetit aus wie der Zugwind eine Kerze. Der Bauer lässt den Löffel sinken, schiebt den Stuhl laut knarrend zurück und steht auf, während ihm der Blick der Tochter folgt, nur Ivan löffelt ruhig weiter, ohne den Kopf zu heben. Recht so. Wer arbeitet, soll auch essen. Der Bauer geht zum Fenster, er schaut auf sein Land hinaus, viel ist es nicht. Er kann seinen ganzen Grund mit einem leichten Drehen des Kopfes überblicken, er sieht bis hin zum Strässchen, das sich hoch windet Richtung Schlohwinkel, wo Gemeindeland liegt, darunter ein recht grosses Stück Wiese, das man ruhig auch ihm hätte verpachten können zum Bewirtschaften. Aber nein, die Gemeinde gibt das Land lieber diesen komischen Brüdern, die das Schlohwinkel-Anwesen gepachtet haben, ein bisschen Umschwung sozusagen für die Sekte, und jetzt, wo von denen keiner mehr hier ist, seit eine Busladung voll mit ihnen zum Schöpfer abkommandiert wurde, zum richtigen Schöpfer und nicht zu einem Sektengötzen, sähe es vielleicht anders aus mit dem Land. Der Elias Grunder könnte sicher mal nachfragen bei der Gemeinde, der Boden um das Haus verwittert schon, aber er hat wenig Lust, mit denen von der Verwaltung zu diskutieren, ausserdem kommt er ja durch, wozu also mit diesem Beamtenpack verhandeln. Er hat alles, was er braucht.

Und ein bisschen mehr obendrauf. Der Bauer lächelt still in sich hinein, wie immer, wenn sich Prinz Leopold in seine Gedanken schleicht. Ein Prachtskerl ist das, treu, seit er ihn auf dem Markt gekauft hat, erledigt seine Arbeit ohne zu murren und macht so manchen anderen Züchter neidisch. Die Suppe dürfte inzwischen ohnehin kalt sein, da spricht nichts dagegen, dass er kurz beim Prinzen im Stall nach dem Rechten sieht. Er hat das Gefühl, dass dieser seine Besuche zu schätzen weiss, dass er aufblüht, wenn er nach ihm sieht. Das mag jeder andere Bauer als Spinnerei abtun, aber so viel ist sicher, Prinz Leopold ist kein gewöhnlicher Hahn.

Wie er sich vom Fenster abwendet, um Richtung Stall zu gehen, sieht der Bauer, dass der Ivan nicht mehr länger in die Suppe starrt, sein Kopf ist nicht mehr gesenkt, kerzengerade sitzt er da, dieser Russe oder was auch immer er ist und schaut der Franziska in die Augen, was genau genommen ja nur deshalb möglich ist, weil die Franziska zurück schaut, ebenfalls kerzengerade und mit einem verträumten Blick, den ihr Vater in den über 20 Jahren, in denen sie nun in seinem Haus lebt, so noch nie gesehen hat.

«Franziska. Der Abwasch. Ich schaue nach den Hühnern.» Der Bauer wartet, bis seine Tochter den Blick wieder senkt, sich dann erhebt und mit ihrem Teller Richtung Küche geht.

In ein paar Wochen, denkt Elias Grunder, ist der Spuk vorbei. Dann ist der Russe wieder in Russland oder wo auch immer das Land heisst, aus dem er kommt.



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