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Prolog

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Mirage

"Denn die einzig wirklichen Menschen sind für mich die Verrückten,die verrückt danach sind zu leben, verrückt danach zu sprechen, verrückt danach, erlöst zu werden und nach allem gleichzeitig gieren - jene die niemals gähnen oder etwas Alltägliches sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastisch gelbe Wunderkerzen." - Jack Kerouac

Es ist schon seltsam wohin einen das Leben führt, lässt man sich einfach treiben. Wohl dem, der sein Leben fest im Griff hat, wohl dem, der weiß was er will und kontinuierlich darauf zusteuert. Möglicherweise wusste ich nie genau was ich wollte, vielleicht wollte ich alles auf einmal und hatte mich darum nie festlegen können. Ist eine Entscheidung erst einmal getroffen, schreitet man durch eine bestimmte Tür auf unserem Weg durch das Leben, fallen automatisch viele andere Portale unwiderruflich zu. Unter Donner und Grollen rasten imaginäre stählerne Schlösser ein und versperren für immer eine Passage, gleich wie trickreich man versucht die Verriegelung zu überlisten, egal welch verzweifeltes Bombardement auch auf diese Sperre abgefeuert wird. Nichts kann diese Blockade überwinden, nichts kann eine Entscheidung wieder rückgängig machen. Nun gut, keine Entscheidung zu treffen ist genau genommen auch eine Entscheidung, oft sogar eine ausgesprochen konkrete. Doch hier bietet sich dem Zauderer die Möglichkeit schicksalhaften Kräften, und nicht eigenem Handeln und Tun, die Verantwortung zuzuschreiben. Genauso gut könnte es jedoch auch sein, dass ich mir nie ernsthaft Gedanken über meine Zukunft gemacht hatte, sie war einfach zu abstrakt und zu unwirklich. Also definierte ich meinen Lebenswandel als lateralen Drift, indem ich mich eher seitlich als vorwärts bewegte. So konnte ich die meisten Informationen über das Leben sammeln und gedachte dann irgendwann mich festzuhalten, wenn ich mein Ziel und meinen Bestimmungsort finden würde.

Stattdessen wurde ich von allem Möglichen gefunden, und das wenigste davon war gut für mich. Pech! Das hätte ich mir ja auch gleich denken können, ist es doch weit weniger gefährlich für einen Tropfen Wasser im Schutz der Gemeinschaft eines großen Flusses sich mittreiben zu lassen, können doch so gefährliche Biegungen, Stromschnellen und Sandbänke leichter überwunden werden. Nein, ich zog es vor mich todesverachtend jeden Morgen aufs Neue als Tautropfen von einem Blatt zu stürzen, gespannt darauf wo ich als nächstes unsanft aufschlagen würde.

So kam es dann auch wie es kommen musste. Die Achterbahnfahrt meines Lebens steuerte im rasenden Tempo mitten durch ein lebenstechnisches Gruselkabinett unvorhersehbarer Katastrophen, und immer wenn ich dachte, es könne gar nicht mehr seltsamer und bizarrer werden, ließ sich das Schicksal prompt eine weitere perfide Gemeinheit einfallen, zu toppen was bereits nicht mehr zu überbieten war.

Mein Leben als Johannes Becker, Spinner, Träumer und Tagelöhner war ja eigentlich nicht wirklich außergewöhnlich und nicht wirklich spektakulär verlaufen. Mein Dasein in dem kleinen Saarlouiser Singlehaushalt bot ebenfalls keinen Anlass für besondere Vorkommnisse. Als Ausdruck meines stillen Protestes gegenüber einer mir feindlich gesonnenen Umwelt trug ich alte schwarze, abgewetzte Klamotten, oder weil ich mir nichts Besseres leisten konnte. Denn meine Jobs waren allesamt beschissen und von äußerst kurzer Dauer geprägt.

Es war natürlich Alkohol im Spiel gewesen, als ich die Stimmen meiner Freunde vernahm.

„Lasst uns ein Ding drehen.“

Wer hätte da nicht leichtfertig geantwortet?

„Klar, machen wir!“

Wer hätte denn ernsthaft damit gerechnet kurze Zeit später mit einem vermeidlich perfekten Plan konfrontiert zu werden? Man schlüpft einfach für eine Weile in die Rolle des englischen Künstlers Arthur Daily, der als verschollen gilt. Bei dem hatte nämlich die Stadt Saarbrücken eine Anfrage laufen, für die Errichtung einiger plastischer Skulpturen. Der Plan klang recht einfach, war er aber leider nicht. Alle meine Freunde waren an dem genialen Coup beteiligt gewesen. Joe, der langhaarige, alternative Kunstmaler arbeitete zu dieser Zeit bei der Stadt Saarbrücken und fädelte alles ein. Da niemand genau wusste wie dieser publikumsscheue junge Künstler Arthur Daily aussah, konnte ich mich leicht für ihn ausgeben, denn die wenigen unscharfen Fotos die ausfindig gemacht werden konnten, zeigten durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Das Fax, das besagte, dass dieser englische Künstler in Afrika verschollen ging, wurde eben von meinem Freund Joe abgefangen und kurzerhand durch eine Zusage ersetzt. Einfach und simpel, ganz einfach; dachen wir damals noch. Mein guter Kumpel, der Millionärssohn und berufene Rockmusiker Frank, finanzierte das Vorhaben und mimte meinen Leibwächter. Babs, die schöne Germanistikstudentin aus unserer Gruppe gaben wir als meine Freundin aus, und Peter den kleinen Punk rekrutierten wir als meinen Fahrer. Wir waren schon immer ein verschworener Haufen gewesen, Freunde wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Mit ihnen durchlebte ich eine unbeschwerte Zeit ohne Pflichten und ohne Verantwortungen. Wären uns bloß nicht ein paar kleine Fehler unterlaufen. Der Schwindel flog selbstverständlich auf; der Stellvertretende Bürgermeister der Stadt Saarbrücken hatte uns entlarvt. Aber anstatt uns in den Knast zu werfen, strich er den Löwenanteil der Beute ein, setzte sich in London mit dem echten Manager des echten englischen Künstlers in Verbindung; und ich wurde dazu verdammt fortan die Rolle des Künstlers Arthur Daily zu spielen. Ich verhalf dem Stellvertretenden Bürgermeister zu seiner Wiederwahl und zu einem beträchtlichen Vermögen. James, mein britischer Manager hatte wohl am meisten zu lachen. Er verlor zwar sein goldenes Kalb, gewann aber mich, das arme Rindvieh, als Ersatz. Der Mann wirkt so proper und ehrbar, dass niemand auch nur den geringsten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegt. Er ist ein organisatorisches Genie, und nett ist er eigentlich auch. Anstelle eines zickigen Künstlers verwaltete er fortan einen bescheuerten Gaukler, der seines Erachtens sicherlich einfacher zu leiten war. Für die künstlerischen Ausführungen stellte mir James den kleinen übergewichtigen walisischen Spinner Stanley Smith an die Seite, der damals noch Kunststudent war. Er bevorzugte Whiskey statt des Ruhmes und des Rummels, und ihm machte es nichts aus, dass sich die Presse und die Prominenz stets um mich bemühten, obgleich er die ganze Arbeit hatte. Mein Job war es den Künstler Artur Daily zu repräsentieren, exzentrisch aufzutreten und Unfug zu verzapfen. Und das konnte ich perfekt.

Eigentlich müsste ich ja glücklich sein mit meinem Leben. Herausgerissen aus der Bedeutungslosigkeit, eingetaucht in ein wildes und buntes Leben, von dem die meisten nicht einmal zu träumen wagen würden. An lukrativen Aufträgen mangelte es nie. Den bescheuerten englischen Akzent, mit dem ich hier in Deutschland nur noch rede, bekomme ich wohl nie wieder gerade gebogen. Zum Glück spreche ich ja ganz gut Englisch, und zum Glück hatte dieser Arthur Daily deutsche Vorfahren, was es mir erlaubte in diesem dämlichen gebrochenen Slang meiner Muttersprache wenigstens rudimentär verbunden zu bleiben.

Was will man mehr? Ganz einfach, ...ein eigenes Leben, eine eigene Identität! Mit der Person Arthur Daily wurde ich zu jemandem der ich gar nicht war, und die Existenz Johannes Becker, die ich einst verkörperte, hörte auf zu existieren.

Noch heute halte ich die kleine Wohnung in Saarlouis angemietet. Manchmal kehrte ich dorthin zurück, um mein wirkliches „Ich“ wenigsten für Momentaufnahmen aufleben zu lassen. Doch ist mir dies nie wirklich gelungen. Meine Freunde von damals sind mir zwar größtenteils geblieben, aber es hat sich mittlerweile doch sehr viel verändert. Joe landete im Knast weil er eines Tages durchdreht war, er lebt heute mit seiner Frau Pam irgendwo in Kanada. Zu Babs habe ich jeden Kontakt verloren, Peter der Punk, arbeitet mittlerweile in einer Bankfiliale und verwaltet wohlfrisiert und in einem teuren Anzug von Frankfurt aus meine Konten. Frank lebt wie ich hier in Berlin und schlägt sich als Musiker durch. Er ist mit seiner Band den „Late Experience“ sehr oft auf Achse. Wir telefonieren gelegentlich und wenn wir uns treffen ist es gottlob fast wie früher. Aber der eigentliche Grund, der mich erschaudern ließ, wenn ich diese prähistorische Reliquie einer Wohnung in Saarlouis betrat, war der Verlust von Jenny. Das kleine Mädchen, das ebenfalls in diesem Mietshaus wohnte und das mehr Zeit bei mir verbrachte als bei ihrer Mutter. Sie war ebenfalls in unseren stupiden Plan eingeweiht gewesen, doch wir konnten sie als aktive Verschwörerin aus der Geschichte raushalten. Ich vermisse sie ebenso sehr wie mein verlorenes Leben, weil sie ein bedeutender Bestandteil davon war. Mittlerweile müsste sie Anfang Zwanzig sein. Und sicherlich sieht sie heute noch besser aus als sie es schon damals tat. Trotz ihres Teenageralters war sie immer die Erwachsene von uns beiden, da ich diese Rolle partout abgelehnt hatte. Sie mochte mich so wie ich war. Und sie verschwand, als ich in Sachen Arthur Daily irgendwo zwischen New York und Los Angeles tourte, zwischen einer Schlägerei bei einer Preisverleihung und einem peinlichen Auftritt bei den Oscar Nominierungen.

Ich gab es auf, mich zu martern und zu quälen, indem ich diese Wohnung in Saarlouis besuchte. Sie wirkte kalt und still, steril und leblos. Sie hatte ihren Herzschlag und ihren Puls verloren und blieb nur künstlich durch den bestehenden Mietvertrag am Leben, wie ein hirntoter Komapatient ohne Hoffnung auf erwachen. Aber ich behielt sie dennoch, mein Mausoleum, mein Mahnmal, Johannes Beckers Grabstätte, diese unheimliche Gruft eines verfluchten Zombies.

Mirage

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