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1. Erste Hinweise
ОглавлениеMein schizoides Wesen war stark strapaziert und angeschlagen, komplett aus den Fugen geraten. Das Schicksal schleuderte mich unkontrolliert durch die ersten vier Jahre meines Daseins als Arthur Daily. Wie ein ballistisch abgefeuertes Projektil raste ich voran und nahm alles nur noch sehr verschwommen wahr. Innerlich tobte und brodelte es, ich wusste weder wer ich war, noch was ich mit diesem Leben anfangen sollte. Ich wurde eher unbemerkt dreißig Jahre alt, doch sah ich niemanden mehr im Spiegel. Gut geschlafen hatte ich schon lange nicht mehr, und der morgendliche Blick in den besagten Spiegel ließ mich nur eine seelenlose Hülle erkennen, eine Schablone, ein Zerrbild einer frei erfundenen oder konstruierten Persönlichkeit. Die dunklen Ringe unter meinen trüben Augen wurden zusehends deutlicher sichtbar, die ersten Falten gruben schmerzhaft, und als Ausdruck meiner Unzufriedenheit, tiefe Furchen in mein Gesicht. Mein rotbraunes Haar hing matt und müde an mir herab. Ich hatte jeden Bezug zur Realität verloren. Ich hatte aufgegeben, losgelassen und drohte zu versinken, im Strudel zu vieler Partys und durch den Konsum von zuviel Alkohol, Zigaretten und leichter Drogen.
Doch dann passierte etwas Unerwartetes, und wenn ich auch dachte mein Leben sei schon seltsam und komisch genug gewesen, so sollte dies erst der Anfang einer noch verrückteren Reise werden.
Einer Jagd nach einem Phantom mit einer Geige.
„Wo soll ich denn das Lametta hinhängen?“ frage mich Stanley Smith und blickte mich fragend durch seine flaschenglasdicken Brillengläser fragend an.
„Häng es dir sonst wo hin!“ kam meine freundliche Antwort, die sehr lebhaft meine weihnachtliche Stimmung wiedergab. Fühlt man sich nicht wohl in seiner Haut, dann ist Heilig Abend einfach die Hölle. Erst recht wenn man in der Haut eines anderen steckt.
„Versau uns bloß nicht wieder die Stimmung, so wie im letzten Jahr, Arthur, hörst du!“
„Ja ja, und wie das Jahr davor und auch das Jahr davor. Versucht es doch am besten gar nicht erst. Ihr schafft es ja doch nicht mich aufzumuntern.“ Ich presste meine Nase in die Öffnung meiner Bierflasche und suhlte mich theatralisch in Selbstmitleid. Ein Jahr zuvor war ich nach Berlin gezogen, in eine geräumige Dachwohnung über einer alten Lagerhalle, die ich ebenfalls als Atelier angemietet hatte. Superpraktisch war das schon, ich konnte bis mittags schlafen, und wenn Stanley kam gingen wir hinunter ins Atelier. Stanley war wirklich ein richtiger Künstler. Gib ihm einen Klumpen Ton, und er fängt sofort an zu kneten und zu modellieren. Stell ihm einen Stein vor die Nase und er sieht augenblicklich Formen und Konturen darin, die er unverzüglich wie ein Besessener freilegen muss. Er schweißt und lötet alles zusammen was er finden kann, oft genug zu meinem Leidwesen. Denn mein geliebtes Butterflymesser, mein teures Zippofeuerzeug und etliche andere Dinge fanden sich nicht selten nach intensiver Suche in einer seiner Plastiken wieder.
Dennoch, Berlin war gut für mich und unser Treiben. Hier kannten mich kaum Leute. Pseudoprominenz gab es hier ja eh schon genug, also nahm niemand Notiz von mir, und man ließ mich in Ruhe. Außerdem mochte ich die kleinen abgefahrenen Bars, die günstigen Restaurants und den Flair der Stadt. Hier konnte ich immer gut Dampf ablassen, indem ich mich mit diversen Künstlern und Spinnern stritt und sie beleidigte.
Selbst in der Zeit, als ich nach Berlin zog war ich noch so paranoid, mich könne jemand entlarven, dass ich mich in Unmengen von schützenden Kleidern hüllte und mich regelrecht vermummte, auch wenn es gar nicht so kalt war. Wenn kalte Winde beließen hatte ich stets den Eindruck sie seien bösartige Häscher, die auf der Fahndung nach mir die Straßen durchkämmten. Denn gewiss waren auch die Naturgewalten gegen mich verschworen und mir schon lange nicht mehr wohl gesonnen. Lange Zeit musste es her gewesen sein, als ich noch auf grünen Wiesen tollte und freundlich gestimmten, verträumten Windböen und warmen Brisen dabei zusah, wie sie durch die Gräser wehten und in saftigen Wiesen nach vierblättrigen Kleeblättern suchten. Die Sonnenstrahlen, die mir früher noch sanft die Wangen streichelten und mich wärmten, bohrten und zwickten mich nur noch, und ich konnte förmlich mein verbranntes Fleisch riechen. So gedachte selbst die überlebenswichtige und wärmespendende Sonne mich als Betrüger und Scharlatan zu brandmarken.
James saß auf der Couch und las die Times. Den Engländer konnte wirklich nichts aus der Ruhe bringen. Außerdem kannte er ja meine theatralischen Darbietungen, mit denen ich mein Umfeld terrorisierte.
„Ach Arthur, Weihnachten ist doch nur einmal im Jahr, warum macht du dir das Leben unnötig schwer. Genieß es doch einfach.“ James blickte über den Rand der Times und blinzelte durch seine Brille, während seine gemeißelten Gesichtszüge wie immer versteinert ein verborgenes Geheimnis lieferten.
„Na ihr habt ja gut reden, ihr tut euren Job, und ich muss den Betrüger mimen. Da kommen einfach keine weihnachtlichen Gefühle auf.“
„Warum schreibst du nicht weiter an deinen Memoiren? Du hast doch früher gerne Geschichten geschrieben. Das bringt dich ja vielleicht auf andere Gedanken.“ Das war ja wirklich ein netter Versuch von Stan. Früher hatte ich tatsächlich viel und auch gerne geschrieben, aber irgendwann brachte ich es nicht mehr fertig, mich an den PC zu setzten und geistig hochwertiges Gut zu kreieren.
„Mir fällt nix ein, über das ich schreiben könnte. Ich fühle mich ja so leer.“
Traurig ließ ich den Kopf hängen, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und starrte aus dem Fenster. Emsig tummelten sich die Leute in den Straßen meines Stadtviertels, mit leuchtenden Augen gieriger Vorfreude.
„Trink nicht so viel Arthur, sonst stürzt du mir wieder in den Weihnachtsbaum, so wie in London letztes Jahr.“ Stanley machte ein besorgtes Gesicht und sah ängstlich sein jüngstes Werk an, einen wirklich schön geschmückten Tannenbaum.
„Ich hätte ihn noch viel besser schmücken können“, fügte Stanley noch hinzu, „aber warum hast du denn die hässlichste Tanne kaufen müssen die du finden konntest?“
„Na weil mir die Tanne leidgetan hat, die war so alleine und niemand konnte sie leiden. Und wenn ich sie nicht genommen hätte, dann wäre das arme Tannending bestimmt sehr traurig gewesen, darum!“ Ich fühlte mich überflüssig und gelangweilt. Und das Fernsehprogramm lieferte ebenfalls keine brauchbare Abwechslung. Einzig die Nachrichten erweckten kurzfristig mein Interesse. Es wurde von einem merkwürdigen Vorfall in Saarbrücken berichtet. Ein vermutlich gestörter Mann mit einer Geige hatte für Aufsehen gesorgt, indem er auf dem Dach eines bekannten Kaufhauses wie ein Verrückter gefiedelt und dabei unverständliches Zeug rezitiert hatte. Manche hielten diese für weihnachtliche Ferse, andere wiederum stellten die Behauptung auf, dass es sich dabei um Textzitate von Jack Kerouac gehandelt haben müsste, der Ikone der Beat Generation. Über Kerouac hatte ich so ziemlich alles gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Ebenso über die anderen literarischen Vertreter und Sprachrohre der Beat Generation, wie William Burroughs oder Allan Ginsberg. Ich mochte ihr Leben, das von wilden Reisen, Exzessen und jeder Menge Sex geprägt war. Eine Hand voll Männer, die mit brillantem Verstand und hohem Intellekt praktisch im Alleingang die ganze Nation der Vereinigten Staaten umgekrempelt und den Weg für die bekloppte Hippiebewegung und für modern denkende Menschen geebneten und ermöglicht hatten. Ich hielt große Stücke auf diese Leute, und gerne sah ich es nicht, dass ein Spinner diese tiefsinnigen und wertvollen Aussagen missbraucht haben sollte, also kommentierte ich das soeben vernommene mit einer lyrisch wertvollen Rede.
„Pah!“ Vielleicht war es ja doch keine so fantastische Bemerkung, aber damals konnte ich ja noch nicht ahnen was alles passieren würde. Schon bald sollte wie ein Besessener diesen Geige spielenden Wahnsinnigen suchen und jagen. Hätte ich auch nur im Ansatz vermuten können, wie eng das Schicksal von diesem armen Irren und meiner eigenen Bestimmung miteinander verbunden waren, wäre ich aus dem plappern überhaupt nicht mehr herausgekommen.
„Arthur?“ fragte James, der meine Aussage inhaltlich nicht richtig werten oder zuordnen konnte.
„Also ehrlich, es gibt nur noch vollkommen Bescheuerte auf dieser Welt.“ Angewidert schaltete ich den Fernseher aus, und schnitt Grimassen. Ich wollte herausfinden auf wie viele unterschiedliche Varianten ich es innerhalb einer Minute bringen konnte.
„Arthur, dir ist wirklich nicht mehr zu helfen, du landest noch in der Klapsmühle. Übrigens siehst du sehr komisch aus, mit dem lustigen roten Ring auf der Nase.“
„Was..?“ stammelte ich verwundert und rieb mir die Nasenspitze, auf der sich ein perfekter Abdruck meiner Bierflasche manifestiert hatte. Stanley kicherte listig, wie ein hinterhältiges kleines Wiesel. James, in seiner vornehmen englischen Zurückhaltung, beließ es dabei verächtlich eine Augenbraue zu heben. Was für den Briten schon einer wahren Gefühlsausschüttung gleichkam.
„Macht doch was ihr wollt, ich gehe noch eine Weile spazieren...., und Bier kaufen, wenn ich den Abend mit euch verbringen muss, dann reicht der Vorrat gewiss nicht.“ Beleidigt und wie immer missverstanden verließ ich die Wohnung und trottete eine wahllos ausgesuchte Route entlang. Es war für die Jahreszeit viel zu mild, und ein frischer Wind blies mir freundlich um die Nase. Für gewöhnlich fror ich mir in Berlin den Arsch ab, denn die kalten Ostwinde brachten selten etwas Gutes mit sich. Längst verblasste Erinnerungen an meinen Kumpel Frank holten mich ein. Er studierte hier in einer privaten Sprachenschule. Ich besuchte ihn manchmal, und wir hatten immer richtigen Spaß gemeinsam. Wir schafften es an einem einzigen Tag an fast jeder Sehenswürdigkeit ein Bier zu trinken und diese dann anzupinkeln, eine herausragende Leistung, auf die ich noch heute sehr stolz bin.
Mein Weg führte mich weiter, ich war bereits eine halbe Ewigkeit unterwegs. Ich nahm sogar die U-Bahn, vielleicht wollte ich mir wie üblich die Leute dort anschauen. Oft tingelte ich einfach so durch Berlin und beobachtete dabei die Menschen, wie sie scheinbar programmiert undefinierbare Befehle ausführten, und wie sie maßgeschneidert ihren ganz speziellen Platz in der Gesellschaft einnahmen. Kleine Boote warteten in der Spree ungeduldig auf ihre Besitzer, Lichter mühten sich redlich nach speziellem Granz, um am Heiligabend besonders hell zu strahlen, und auch die gewaltigen Bäume einer Promenade reckten und streckten sich majestätischer, als an anderen, gewöhnlicheren Tagen. Ich bog ab, in einen von Menschen belebteren Innenkern eines Viertels, um mir die weihnachtliche Vorfreude in den Gesichtern der Leute genauer anzuschauen. An einer wenig gepflegten Hausfassade entdeckte ich einen kleinen Riss, der im Zickzack Haken schlug und nervös die Wand entlang lief. Er endete an einer Stelle, wo ein Gemüsehändler mit roten Pausbacken einen guten Kunden, oder einen Freund herzlich umarmte. Ähnliche Schauspiele bemerkte ich öfters, und friedliche Weihnachtsklänge hallten unterschwellig und leise im meinem Kopf. Möglicherweise weil immer irgendwo eine solche Melodie zu hören war, vielleicht aber hatte ich sogar selbst eines dieser Lieder gesummt. Jedenfalls beruhigte ich mich mit jedem Schritt, der mich ein Stück weiter durch Berlin brachte. Am Ende glich mein Gang eher einem fröhlichen Hüpfen und unbeschwertem Tänzeln, nach dem anfänglichen monotonen und tristen Trotten und dem müdem Stampfen, den ich noch zelebriert hatte als ich die Wohnung verließ.
„Zum Teufel, mit meinem Selbstmitleid“, dachte ich und nahm mir sogar vor zu Stanley und James nett zu sein, wenn es am Abend das leckere Essen von Stanley geben sollte. Als mir sogar ein Obdachloser mit einem Flasche Wermut zuprostete, wusste ich dass es mir ja wirklich nicht schlecht ging, und dass die Zukunft durchaus noch Positives zu bieten haben könnte.
„Hallo Leute, da bin ich wieder. Habt ihr mich vermisst?“ grölte ich regelrecht überschwänglich. James und Stanley waren zu diesem Zeitpunkt in der Küche versammelt, und beide sahen sich entgeistert an, ehe sie mich genauer begutachteten. Vorsichtig näherte sich zuerst James, er wirkte sichtlich beunruhigt. Hätte sein ertragreicher Künstler den Verstand verloren, wäre es eine Katastrophe für ihn gewesen. Und auch wenn er keinerlei familiären Verpflichtungen nachkommen musste, so wusste ich nie so genau warum er stets in meiner Nähe weilte. Weil er mich irgendwie mochte, oder weil er lediglich seine Investitionen schützen wollte? Stanley blieb in sicherem Abstand hinter James zurück und wedelte drohend mit dem Kochlöffel in meine Richtung, wobei er den Herd in seinem Rücken zu verteidigen versuchte.
„Bleib bloß weg, du bist bestimmt wieder furchtbar betrunken! Ich hab das letzte Mal für dich gekocht, wenn du wieder besoffen über den Tisch mit dem Braten fällst, so wie vor zwei Jahren an Heiligabend.“
„Ich bin weder betrunken noch wahnsinnig geworden. Ich bin einfach nur gut gelaunt. Ist denn das so schwer zu verstehen.“
„Marihuana?“ fragte James murmelnd nach hinten in Richtung Stanley.
„Koks!“ erwiderte dieser warnend ohne seine abwehrende Haltung aufzugeben.
„Mein Gott seid ihr misstrauisch, lasst uns was trinken und Weihnachten feiern, feiges Gesindel!“
„Na dann ist es ja gut, ich nehme einen Whiskey. Übrigens ist da noch Post für dich gekommen. Zwei Briefe sind es.“ Mit diesen Worten nahm Stanley seine Arbeit wieder auf, ohne mich aus den Augen zu verlieren. Die kleine Ratte traute dem Frieden einfach nicht, während der Duft eines liebevoll zubereiteten Bratens den Raum erfüllte und eine friedvolle Allianz mit dem Aroma eines sehr alten Whiskeys einging.
Der Abend kam, ohne dass ich wie üblich aus der Rolle gefallen wäre. Das Essen wurde friedlich wie unter Freunden eingenommen, ohne dass es mit sarkastischen Bemerkungen meinerseits boykottiert, oder durch meinen mutwilligen Unwillen torpediert wurde. Kurz vor zehn Uhr waren wir brauchbar angetrunken und machten sogar Späße miteinander.
„Du bist der schlimmste Betrüger von uns dreien“, bemerkte ich und kniff James in die Seite, da ich wusste, dass er das nicht ausstehen konnte. „Du stellst ja Rechnungen aus, für das was wir hier machen.“
„Blödsinn, Arthur du bist doch als Hochstapler der bessere Gauner von uns“, erwiderte James leicht lächelnd.
„Und was ist mit unsrem kleinen Stanley, der ist jedenfalls der beste Tiefstapler den ich kenne. Der hat als einziger Ahnung von Kunst und von dem will keiner was wissen.“
„Ist mir ja auch egal, aber ich glaube auch, dass Arthur der bessere Ganove ist. In der Öffentlichkeit alle zu verarschen ist bestimmt der schwerste Part von uns.“
„Genau, unser ehrenwerter Arthur hat gewiss das größte Potential an krimineller Energie.“ James zwickte mir in die Seite, und er wusste genau, dass ich das auf den Tod nicht leiden konnte.“
„Na ja, so würde ich das nicht formulieren. Ich bin nur sehr liberal in der Auslegung gesetzlicher Kleinigkeiten.“
„Ha, ha, ha, der war gut.“ Stanley kringelte sich vor Lachen.
„Unfug, du bist ein schlichter Verbrecher, ein Anarchist, Arthur, finde dich damit ab“, attackierte James weiter und piekst mich mit seinem knochigen Finger in die Brust.
„Was? Ich bin das personifizierte Wohlverhalten, ich habe nur ein leichtes Autoritätsproblem und eine rebellische, freiheitsliebende Ader“, konterte ich empört, und die Stehlampe warf ein fragendes, gedämpftes Licht auf mein Gesicht.
„Stanley rollte sich bereits am Boden und hielt sich den Bauch, so lustig fand er das.
„Ein mieser kleiner Schurke bist du, nur ein kleiner mieser Schurke.“ James blöde englische Art Witze zu machen mochte ich noch nie, und das Zwicken und antippen mochte ich auch nicht.
„Dafür bin ich aber auch tapfer, mutig und sehr angriffslustig.“ Jawohl, der staksige Brite hatte mal wieder eine Lektion verdient. Und auch wenn ich nicht wirklich redlich war, so war ich jedenfalls in absoluter Topform, und geschickt und drahtig war ich auch. Ich griff nach seinem Arm, mitsamt dem doofen, tippenden Finger und setzte zu einem gekonnten Schulterwurf an, der den guten James locker über meine Schulter in die Couch befördert hätte, wäre ich nicht dummerweise ausgerutscht, und wären wir beide nicht scheppernd seitlich auf dem Tisch gelandet. Der Tisch wiederum schreckte schlagartig hoch, wie gejagtes Huhn, und die Glasschale mit der leckeren Bowle verließ mit einem beherzten Sprung den Tisch, der wie die Titanic zu sinken drohte. Das bedauernswerte Gefäß überlebte leider den Aufschlag nicht, der kostbare Inhalt auch nicht. Irgendwann wurde sich James seiner peinlichen Lage bewusst, also stutzte er, straffte auf dem Hosenboden sitzend die Schultern und rückte seinen Schlips zurecht. Er konnte eben nie richtig aus seiner Haut, er vermochte es nie die geißelnden Ketten seiner guten Erziehung zu sprengen. Er war ein Gefangener seiner eigenen Kontenance. Aber genau diesen Zwang halte ich für den eigentlichen Grund, warum er gerne in meiner Nähe war. Mir machte es nie etwas aus mich zum Trottel, oder zum Clown zu machen. James hingegen musste immer die Kontrolle über sein Handeln bewahren. Also durchlebte er seine verborgene und unterdrückte Spontanität und lustigen Aktionen mit, beziehungsweise durch mich. Indem er seine Unbekümmertheit und seinen Unfug passiv an meiner Seite miterlebte, durchbrach er kurzfristig die starren und verkrusteten Regeln der Etikette, und er lebte, wenn auch nur für Momente, richtig auf.
Dies geschah zwar nicht oft, aber er genoss es trotzdem, auch wenn er anschließend einen leicht pikierten und peinlich berührten Eindruck machte. Für ihn war es schon das absolute rebellische und wilde Verhalten, mir bei meinen Späßen zuzusehen. Mich stets aus der Scheiße holen zu müssen machte ihn gar zum Anarchisten, und wenn er selbst einmal aktiv in das Geschehen eingriff, so mutierte er seiner Meinung nach gewiss zu einer materialisierten Form des absolut diabolischen Übels.
„Oje, die schöne Bowle, ...genau wie vor drei Jahren, New York glaube ich.“ Stanley konnte nicht fassen was geschehen war, und betrachtete traurig die große Pfütze, die sich neugierig in der Wohnung verteilte und sich überall in den Ecken und Ritzen umsah. James und ich saßen weiterhin auf dem Boden vor der schönen Bescherung und sahen einander verwundert an.
„Arthur, du bist ein Rüpel“, meinte James noch halb benommen.
„Was? Ich bin eher ein bohemien Hells Angel mit ritterlichen Tendenzen und lyrischer Auslegung“, konterte ich sehr geschickt und war selbst von meiner Wortwahl überwältigt.
„Aha, so nennt man heutzutage einen randalierenden Dummschwätzer.“ Diese Frechheit wurde mit einem freundlichen Schubs von mir geahndet, der den im Aufstehen begriffenen James auf der Pfütze ausrutschen und erneut auf seinem Hinterteil landen ließ. Ich erwartete eine boshafte, oder wenigstens eine gewohnt brüskierte Reaktion auf meine vorbildliche, wenn auch hinterhältige Attacke. Aber James fing zu meiner Überraschung laut an zu lachen, und wenn dieser steife Engländer erst einmal zu lachen anfing, dann gab es kein Halten mehr. Ich verfiel ebenfalls dem ansteckenden Gelächter und musste mir bereits die ersten Tränen von den Backen wischen, als der ebenfalls infizierte Stanley zu einer überaus gewagten Aktion ansetzte und sich mittels eines gekonnten Hechtsprunges, über die Pfütze rutschend zu uns gesellte. Wir waren gewiss ein Anblick zum Brüllen gewesen, aber ich erinnere mich gerne an diese skurrile Situation, in der wir drei völlig unterschiedliche Charaktere, mit verschiedenen Stufen des Erwachsenseins, wie die Kinder dort am Boden saßen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und verspürte seltsamerweise keinerlei Beschwerden, keinen Kater, und den üblichen Schwindel vermisste ich ebenso. Möglicherweise ein himmlisches Geschenk von Oben, eine Art Übelkeitsnachlass zu Weihnachten, dachte ich. Jedenfalls war ich guter Laune, dieses Weihnachtsfest hatte mich durchaus versöhnlich gestimmt, ich war im Einklang mit mir, mit Arthur Daily, und dem Leben das ich führte. Stanley und James waren bereits gegen Mitternacht in ihr Hotel zurückgekehrt, in dem sie üblicherweise residierten, wenn sie bei mir in Berlin lebten. Mein frisch angezogenes Shirt roch sehr gut und war sehr grün. Der Frühstückstisch war sehr schön gedeckt und wie immer sehr wackelig. Ein vereinzelter Sonnenstrahl fiel durch das große Fenster und suchte meine Wohnung nach interessanten Dingen ab, und wurde alsbald auch fündig. Wie ein chirurgischer Laserstahl versuchte er ein Loch in einen der beiden Briefe zu brennen, die auf der Kommode lagen. Es waren ebenjene Briefe die Stanley am Vortag erwähnt, und die er dort abgelegt hatte. Diese Briefe waren natürlich sofort in Vergessenheit geraten, ehe sie von dem morgendlichen Lichtschein wieder aufgestöbert wurden. In aller Ruhe stand ich auf und näherte mich den Umschlägen und wischte mir eine Haferflocke vom Kinn, die sich erfolgreich den beschwerlichen Weg durch meinen Verdauungstrakt entziehen konnte und sich mit ihrem alternativen Schicksal in der Mülltonne durchaus glücklich schätzte.
Der erste Brief war mittlerweile in meiner rechten Hand angelangt, und ich begutachtete ihn äußerst misstrauisch. Einen Brief zu erhalten bedeutete für mich ganz selten etwas Gutes. Meistens bekam ich ja nur Rechnungen, tonnenweise Werbung oder sonstigen Unrat geschickt. Nette Freunde, die mir etwas Freundliches zu Schreiben hatten, gab es kaum noch, Einladungen zu witzigen Feten demnach auch nicht. Abgesehen von den obligatorischen Einladungen die Arthur Daily bei jeder Art von wichtigen und unwichtigen Empfängen erhielt. Dieser Brief hatte etwas amtlich-energisches an sich, das erkannte ich sofort. „Meine Güte, hoffentlich nicht wieder eine Anzeige“, dachte ich laut und versuchte im Kopf die Anzahl meiner fragwürdigen Aktionen der letzten Zeit abzuschätzen und sie in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Man hält es einfach nicht für möglich wie viele unlustige Leute es doch gibt. Ich bekam in kontinuierlichen Abständen und in vollkommener Regelmäßigkeit Anzeigen von allen möglichen Menschen zugesandt. Meine bloße Existenz bewahrte, meiner persönlichen Einschätzung nach, Generationen von Anwälten vor dem Hungertod. Und es ging auch das Gerücht umher, dass Professoren an juristischen Fakultäten, gefragt nach den beruflichen Möglichkeiten ihrer Absolventen, stets diese ermutigende Antwort gaben:
„Solange es Arthur Daily gibt, gibt es auch etwas zu verklagen.“ Noch bösere Zungen vertraten gar die Ansicht, eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Studenten hätte sogar den eingeschlagenen Weg Mediziner oder Ingenieur zu werden abgebrochen, um sich der Jura zu verschreiben. Die Aussicht mich eines Tages verklagen zu können, erschien ihnen angeblich als eine sicherere Lebensgrundlage, als das verarzten körperlicher sowie seelischer Wunden, oder als das Errichten von Brücken, Straßen und Häusern. Ob davon etwas stimmte kann ich nicht sagen, die statistische Anzahl der eingeschriebenen Jurastudenten jedenfalls stieg an, und natürlich machte ich mir neurotisch einen eigenen Reim darauf. Denn verklagt wurde ich tatsächlich laufend. Beleidigungen und Obszönitäten waren wohl die häufigsten Grund dafür weitere Anwälten zu Lohn und Brot zu bringen, dicht gefolgt von Sachbeschädigungen und sonstigem Schabernack. Dazwischen rangierten irgendwo die Anzeigen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, die wiederum stark von meiner Laune abhängig waren. Den Rest stufte ich als harmloses „verklag mal wieder Arthur Daily“ ein.
James musste sogar einen Anwalt einstellen, dessen Aufgabe nur darin bestand gegen diese Verfahren Einspruch zu erheben. Er widersprach häufig, und er versäumte es nie mir zum Geburtstag eine Karte zu schreiben und mir stets viel Erfolg zu wünschen. Ob er damit mein künstlerisches Schaffen meinte, oder den Unfug den ich verzapfte konnte ich jedoch nie genau in Erfahrung bringen. Jedenfalls wurde er einer meiner glühendsten Verehrer, und so ganz nebenbei wurde er auch stolzer Eigentümer einer schönen Villa und Besitzer eines tollen Porsche Carrera.
Der Brief in meiner Hand erntete also einen skeptischen und bösen Blick, repräsentativ für alle bösen Briefe die ich jemals erhalten hatte. Der maschinell aufgedruckte Absender war gänzlich unleserlich, und der Poststempel war ziemlich verschwommen und auch nicht sauber aufgetragen. Doch ich erkannte sofort, dass er aus Deutschland kam, genauer gesagt aus meiner Heimatstadt Saarlouis.
„Hääääh??“ dachte ich und kratzte mich verwundert hinter dem rechten Ohr. Wann war ich eigentlich zuletzt zuhause gewesen, und wem konnte ich dort auf die Füße gestiegen sein? Das war jedenfalls mindestens ein ganzes Jahr her, wenn nicht noch länger. Fragen über Fragen, und es gab nur zwei Möglichkeiten damit fertig zu werden. Entweder ich konnte den Brief mitsamt dem fragwürdigen Inhalt verbrennen und seine Existenz bis hin zur Nichtexistenz ignorieren. Oder ich musste ihn eben öffnen und nachsehen, egal welche Katastrophe er für mich bereithielt. Weil ich ein verantwortungsbewusster Mensch war, oder einfach nur aus weibischer Neugier heraus entschied ich mich für dafür, mich mutig dem Brief zu stellen. Der Inhalt des Briefes brachte zwar keine befürchtete, ultimative Boshaftigkeit zutage, entlockte mir dennoch ein weiteres...
„Hääääh?“ Es war keine Anzeige, das war gut. Es war aber eine Rechnung, das war logischerweise die Alternative und somit war das schlecht. Der Betrag war nicht sehr hoch, das war wiederum gut, doch es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, was wieder schlecht war.
Die Stadtwerke Saarlouis hatten mir geschrieben. Genau genommen wurde der Brief an Johannes Becker, mein früheres „Ich“, geschickt. Eine scheinbar harmlose Rechnung über Strom, über Strom den ich gar nicht verbraten haben konnte, weil ich gar nicht in Saarlouis war. Zwar hatte ich bei den Saarlouiser Stadtwerken und bei dem Postamt meine jeweils aktuelle Nachsendeadresse mitgeteilt, was wenigsten eine Erklärung bot, warum mich diese Rechnung überhaupt erreichen konnte. Aber der Betrag war deutlich höher, als die Grundgebühren, die lediglich zu entrichten sein müssten, und der Zeitpunkt dafür war auch nicht der Richtige. Ich fing an zu grübeln. Möglicherweise hatte ich bei meinem letzten Besuch das Licht brennen lassen, oder der Fernseher lieferte gerade eine rekordverdächtige Marathonsendung ab; ein Jahr bunte Bilder für niemanden. Doch so einfach konnte die Erklärung für diese Rechnung auch nicht sein, sonst wären ja bereits schon früher erhöhte Rechnungen erschienen, aber das war nicht der Fall gewesen.
Meine Verwirrung steigerte sich erheblich, als ich auch den zweiten Brief geöffnet hatte. Auch hier handelte es sich um eine Rechnung, mitsamt einer Lieferscheinkopie aus einem Musikhaus. Und sie stammte ebenfalls aus Saarlouis. Nur konnte ich hier überhaupt keine Zusammenhänge mehr erkennen. Es war eine Rechnung über die Reparatur einer alten Geige, und Johannes Becker war Rechnungsempfänger, sogar meine Adresse in Saarlouis stimmte. Das musste eine Verwechselung sein. Ich kannte den besagten Musiklanden in Saarlouis am großen Markt, den gab es schon eine Ewigkeit. Manchmal schaute ich dort hinein, wenn ich auf dem Weg ins Kino war. Die strahlenden und funkelnden Instrumente ließen mich immer ins Schwärmen geraten. Oft pickte ich mir ein besonders tolles Stück aus der Schaufensterware heraus und sah mich damit als Rockstar auf einer Bühne arbeiten. Meist war es natürlich eine E-Gitarre, manchmal aber auch ein glänzendes Saxophon, mit dem ich eine riesige Schar von Fans in meinen Bann zog. Selbstverständlich waren Tauende davon junge Frauen gewesen, die mir kreischend ihre Unterwäsche zuwarfen. Dennoch hatte ich nie ein eigenes Instrument besessen, auch wenn ich ein wenig Gitarre spielen konnte, weil Frank versucht hatte mir das beizubringen. Es scheiterte logischerweise an meiner Ungeduld, denn nach einer Woche harten Trainings war ich noch immer nicht in der Lage gewesen Eric Clapton Konkurrenz machen zu können. Das waren immer schöne Träume, so wie sie jeder kennt, aber was sollte ich denn bitteschön mit einer Geige anfangen? Wie zum Kuckuck bekommt man denn mit einer Geige ein junges Mädchen ins Bett?
Fakt war aber, dass ein gewisser Herr Becker die Reparatur einer Geige in Auftrag gegeben haben musste, die Unterschrift auf der beigefügten Auftragsbestätigung bestätigte dieses. Möglicherweise ein banales Versehen, aber in der Kundenkartei des Musikladens war ich nicht verzeichnet. Vielleicht war ja ein Betrüger am Werk, der einfach unter falschen Namen und Adresse die Zeche prellen wollte. Name und Adresse waren ja im Telefonbuch eingetragen. Ein klärendes Telefonat sollte Auskunft und Gewissheit. Ich war gerade in Begriff in Saarlouis anzurufen, wurde aber von James und Stanley abgelenkt, die zur Tür hereinkamen. Also legte ich wieder auf, vergaß den versäumten Anruf zu tätigen, und ich vergaß alsbald auch die Briefe mitsamt deren dubiosen Inhalten, die fast wie von selbst den Weg in die Mülltonne fanden und sich sehr darüber wunderten, wieso plötzlich eine einzelne Haferflocke an einem der Kuverts klebte.