Читать книгу Hummer weiß-blau - Stefan Riphaus - Страница 6

Adieu Sylt

Оглавление

„Lars, komm! Wir müssen los“.

„Ja doch. Ich komme ja schon“.

Antje hat es wesentlich eiliger als Lars. Sie steht da mit ihren endlos langen Beinen in der Haustür, verboten schön wie immer, die langen blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, den Schlüssel schon in der Hand, und will es hinter sich bringen. Lars kann sich aber nicht von diesem Ort losreißen. Seine Nase zeigt hinaus auf das Meer, etwas kalt von der salzigen und kühlen Brise, den Blick starr nach Westen gerichtet, während die Vormittagssonne Ende April schon stark genug ist, ihm den Rücken zu wärmen. Ein Gefühl, das er so sehr liebt, wie den Blick auf das offene Meer und die Brise, die diesen unverwechselbaren Meeresduft durch seine blonden, lässig zurückgeworfenen Haare streichen lässt. Seine Gefühlswelt ist völlig durch den Wind. Sprichwörtlich! Dieser Ort ist einfach zu schön, um ihn zu verlassen. Eine leicht verwitterte Holzterrasse auf Pfählen, hoch genug, um über die Düne hinaus zu blicken. Wie viele Stunden stand er hier schon, und nie empfand er auch nur eine Sekunde Langeweile.

Hätte es auf Sylt ein Gefängnis gegeben, er würde hier und jetzt jemanden umbringen, um nicht von hier fort zu müssen. Sein ganzes Leben zieht in Minutenschnelle an ihm vorbei. Nein, das Schicksal meinte es zuletzt nicht gut mit ihm, geht ihm durch den Kopf.

Noch vor einer Stunde saß er mit seiner Frau Antje und seiner Tochter Dörte beim Frühstück. Dabei konnte man die Möwen beim Essen durch die zum Meer hin vollständig verglaste Fassade des kleinen Hauses dabei beobachten, wie sie kleine Fische aus dem Wasser holten, und sogar eine kleine Robbe verlor sich morgens an den um diese Jahreszeit noch einigermaßen leeren Strand. Ja, dieser Strand, an dem er vor fünfzehn Jahren, damals mit jugendlichen neunzehn Jahren noch Dritter der Surfweltmeisterschaften wurde. Damals lernte er die bildhübsche und überaus willensstarke Antje kennen. Sie war gleich alt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Antje wuchs unweit von Sylt im Hinterland auf. Der Weiler ihrer Familie lag einige Meter unter dem Meeresspiegel, und als Kind stellte sie sich immer auf die Zehenspitzen, um über den Deich hinweg die große Wanderdüne im Norden von Sylt zu erspähen. Vergebens! So wünschte sie sich von Klein an, möglichst hoch zu wachsen, um Sylt sehen zu können. Ja, sie war schon immer sehr strebsam und hatte ihre Ziele fest im Blick. Heute ist sie fast einen Meter achtzig groß, nur eine Handbreit kleiner als Lars, und hat sich ihren Wunsch erfüllt.

In ihrem Traumhaus, in dem sich nun alles ändern sollte, kam Dörte zur Welt. Das war vor zehn Jahren. Das Kind verlebte hier eine unbeschwerte Kindheit und sollte nun für zwei Jahre auf ihren Vater verzichten müssen. Jedenfalls bis auf vielleicht ein Wochenende pro Monat. Das Spielen und Baden am Strand direkt vor der Terrasse würde sie wohl kaum über diesen Verlust hinwegtrösten. Nicht einmal der tägliche Ausritt durch die Dünen würde ihr so schnell wieder das kindhaft bezaubernde Lächeln in ihr kleines Gesicht zurückbringen.

Lars würde lieber sterben, als hier weg zu gehen, und zwar auf der Stelle. Das Haus ist gerade groß genug für sie Drei, liegt etwas abseits der Straße, gut geschützt vor neugierigen Nachbarn, und bietet ebenso berauschende Ausblicke wie ungestörte Ruhe. Wenn man von Ruhe sprechen kann, da das Meeresrauschen, der Wind und das Geschrei der Möwen nie wirklich aufhören. Und wenn, dann ist es, als könnte man die Sterne hören.

„Lars, nun komm doch! Es bringt doch nichts“.

„Ja. Eine Minute noch“. Lars wendet den Blick nicht vom Meer.

Sylt kennt er von Kind auf, nachdem er mit sechs Jahren im Schlepptau seiner Eltern von Dithmarschen heraufkam. Er hat jede Düne barfuß überquert, jeden Meter Strand abgelaufen. Selbst im Winter ist er hier fast immer barfuß unterwegs, am liebsten am frühen Morgen. Lars kennt jedes Lokal, alle Wirte der Insel und die meisten Stammgäste mit Namen. Nicht etwa, weil er ein Säufer wäre, sondern aufgrund seines Berufes, der ihn im Sommer in jedes einzelne Lokal auf den Nordfriesischen Inseln führt. Lars war bis vor Kurzem noch Vertriebsleiter von Friesenpils, einer mittelständischen Brauerei in Husum, und sein Gebiet reichte von der Nordspitze Sylts bis zum Westerhever Leuchtturm. Diese vom Inhaber willkürlich gezogene Grenze war ihm immer ein Dorn im Auge, denn er hätte gerne auch noch den Vertrieb in Sankt Peter-Ording übernommen, das seiner Meinung nach von seinem verhassten Kollegen Hein nicht richtig betreut wird. Dabei liegt so viel Potential in SPO, wie es Einheimische und Gäste gerne nennen.

Lars war ein wirklich genialer Vertriebsleiter und wusste, wie man Umsatz macht. In der Saison besuchte er die vollen Lokale von mittags bis spät in die Nacht. Zunächst gab er ein Fünfzigliterfass Friesenpils aus. Er wusste, Stimmung zu machen, und dass es in einer halben Stunde ausgetrunken sein würde. In der Zeit konnte Lars mühelos den ganzen Laden auf Touren bringen. Er schnappte sich einfach das Mikrofon, erzählte Witze und sang Lieder. Er war eine ideale Kombination von Otto Waalkes und Jürgen Drews, jedenfalls zu deren besseren Zeiten.

Sein Erfolgswitz war immer: „Was essen unsere bayerischen Gäste auf Sylt am liebsten? Hummer weiß-blau!“ Nicht dass der Witz genial gewesen wäre – er selbst fand ihn eigentlich eher albern – aber die Leute schrien vor Vergnügen. Und der Wurm muss nun mal dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Wenn die Menge erst mal so richtig tobte und das Fass leer war, wurde stets doppelt so schnell geordert, und zwar „bis der Arzt kommt“ wie Lars seine Zielgruppe aufzufordern pflegte. Seine Auftritte, obwohl nie wirklich lang, hatten die Wirte sehr geschätzt, da sie selbst in der Regel alle Hände voll zu tun hatten und er den Umsatz schlagartig ankurbelte. Er war quasi ein kostenloser Animateur und Entertainer.

Lars war vor allem bei den weiblichen Gästen sehr beliebt. Selten, dass nicht eine Traube von jungen Touristinnen schon nach wenigen Minuten an ihm klebte. Manchmal die ganze Nacht, wenn Lars mit seiner Tagestour am Ende war und nicht gerade auf seiner Heimatinsel gastierte. Hier auf Amrum und den anderen Inseln konnte er ja nachts nicht mehr weg, und er nutzte das nur zu gerne aus. Die Mädchen machten es ihm je nach Standpunkt leicht, sie ins Bett zu bekommen, oder schwer, nein zu sagen. Selbst auf den Inselfähren zog Lars seine Show ab, und mancher Skipper wunderte sich bald nicht mehr, wenn er mit einer schönen Frau kurz in der Bordtoilette verschwand.

Selten hatte er dabei ein schlechtes Gewissen wegen Antje. Sie war daheim bei ihrer gemeinsamen Tochter, ohne etwas zu ahnen. Das meinte er jedenfalls. Vielleicht hatte er es sich aber auch immer nur eingeredet, bewusst oder unbewusst, um seine eigene Freiheit damit nicht zu gefährden. Antje war schließlich nicht dumm und kannte ihren Lars nur zu gut. Aber was er nicht wusste: sie war ebenfalls kein Kind von Traurigkeit! Sie war einfach zu schön, um von den Männern übersehen zu werden. Und sie war vor allem zu anspruchsvoll, um das nicht auszunutzen. Wenn Lars mal wieder über Nacht weg war, und das war im Sommer mindestens zweimal pro Woche der Fall, hatte sie stets eine Ersatzbefriedigung parat. Sie traf sich mit Männern, meistens am Strand, da ihr das Ehebett einerseits heilig war, und sie andererseits keine Spuren zu hinterlassen riskieren wollte. Sie kannte Stellen in den Dünen, die nicht leicht zugänglich waren. So war sie auch nicht zu weit weg vom Haus, in dem ja ihre kleine Tochter seelenruhig schlief. Ebenso phantasie- wie abwechslungsreiche Liebesspiele im warmen Sand, bei einer milden Meeresbrise, die wie ein Tuch aus kühlem Satin über ihren nackten Körper strich, und das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, hatten sie schon immer maximal erregt. Und erst recht die Männer, mit denen sie sich traf. Antje war eben eine echt geile Nummer.

Sie hatte zwar noch nie selbst gearbeitet, war aber sehr anspruchsvoll und, was Lars‘ Karriere anbetrifft, überaus ehrgeizig. Antje genoss es stets in vollen Zügen, als die Frau an Lars‘ Seite Zugang zu allen Partys der Insel zu haben. Keine Tür blieb ihr verschlossen, kein Promi, den sie nicht umarmt und geküsst hätte. Zu Hause hingen hunderte Fotos davon. Und dennoch gehörte sie nicht ganz dazu, zur Haute Voleé. Es fehlte der Porsche vor der Tür, und die wirklich ganz teuren Modelabels konnte ihr Lars von seinem Vertriebsleitergehalt auch nicht kaufen. Auch das Haus konnte er nur bezahlen, weil es dem Chef der Brauerei gehört und seit je her dem Vertriebsleiter für die Inseln günstig überlassen wurde. Sie wollte mehr von ihm, als nur dabei zu sein. Sie wollte wirklich dazu gehören: mittendrin statt nur dabei!

„Lars, du verpasst noch deinen Flug!“

„Na und, wenn schon. Ich will eh nicht weg.“

Nein, er will nicht weg. Das Leben hier hätte noch gut und gerne viele Jahre so bleiben können. Aber das war vorbei, als er vor vierzehn Tagen nach Husum gerufen wurde, um bei Jebsen anzutreten. Jebsen ist Inhaber von Friesenpils, einem Unternehmen, das einst sein Ururgroßvater gründete. Das Pils ist absoluter Lokalmatador und darf in keiner Kneipe und keinem guten Lokal fehlen. Neben der zunehmenden Beliebtheit der nordfriesischen Inseln bei den Gästen machte Lars die Qualität dieses bestens laufenden Produktes den Erfolg nicht schwer. Natürlich lag das auch an seiner Art, Stimmung zu machen und ein Gespür dafür entwickelt zu haben, wie man sich Freunde macht. Wo Lars war, blieben kein Auge und keine Kehle trocken. Und natürlich auch kein wirklich weibliches Wesen.

Lars machte sich Hoffnung, Jebsens Nachfolge an der Spitze von Friesenpils anzutreten, wenn dieser mit 75 aufhört. Jebsen war gerade erst 68 und somit verblieben Lars noch ein paar Jahre, um auf Sylt das Leben zu genießen. Jebsens Sohn Björn war Lars‘ Meinung nach ein Idiot, und eigentlich sah das auch dessen Vater selbst so. Andere Nachfahren hatte er nicht, und Jebsens Frau war seit drei Jahren tot. Jedenfalls war klar, dass Björn das Unternehmen als einziger Sohn zwar erben würde, es aber nie von seinem Vater zur Leitung anvertraut bekäme. Als Björn übergangsweise die Betriebsleitung der Braustätte übernahm, hätte beinahe der Braumeister gekündigt. Auch die anderen Mitarbeiter konnten, trotz ihrer sagenhaften Loyalität, ihren Unmut über den Juniorchef nicht verbergen. Und Lars war schließlich der Held, der den Umsatz seit zehn Jahren immer wieder von Rekord zu Rekord trieb.

(Der Plan)

Nach Husum gerufen zu werden, kam im Sommer praktisch nicht vor, da Lars dann sieben Tage pro Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag im Einsatz war. Doch im Winter, wenn nur ruhige Gäste auf den Inseln sind, hatte er kaum mehr als drei oder vier Tage pro Woche zu tun. Er übernachtete dann auch lieber zu Hause, da die weiblichen Gäste einerseits nicht so auf ihn aufmerksam wurden, und er auch mehr auf junges Gemüse stand, weniger auf betagte Damen, die um diese Jahreszeit den größeren Anteil Alleinreisender stellen. So hatte er sich nicht weiter gewundert, an einem 15. April zu Jebsen gerufen worden zu sein. Nur der Grund, den er nicht kannte, machte ihn etwas nervös. Jebsen, der nicht wie gewohnt seine Sekretärin Jessi anrufen ließ, sondern das selbst übernahm, meinte nur: „Es ist lebenswichtig“. Vielleicht war der Alte krank und musste vorzeitig abtreten? Nein, bloß das nicht! Jetzt noch nicht! Das Leben war einfach zu perfekt so wie es jetzt und hier war.

„Moin Lars! Wie geht es Ihnen?“

„Moin, Herr Jebsen. Danke der Nachfrage. Alles gut!“

„Lars, ich muss mit Ihnen reden.“

Jebsen, hob nicht den Blick von dem altehrwürdigen und trotz zahlloser Fußtritte kaum abgewetzten Teppich in seinem Büro. Beide standen vor dem ausladenden Schreibtisch, hinter dem Jebsen sonst eigentlich sitzen zu bleiben pflegt, wenn Lars das Büro betrat. Das Büro hatte noch Jebsens Großvater selbst eingerichtet. Eigentlich war es mehr dessen Frau Käthe, die das Unternehmen damals eigentlich lenkte. Käthe war die bessere Unternehmerin, resoluter als der Großvater und ausgestattet mit einem Händchen für Leute. Der Großvater verstand sich mehr auf das Brauen des Bieres, das heute noch nach demselben Rezept gebraut und dafür so sehr geschätzt wird. Und in eben diesem Büro, mit den riesigen Ölgemälden von den Ahnen und einer sehr alten aber sehr gepflegten Ledergarnitur, stand nun Lars. Er kam sich etwas klein vor zwischen den mit Holz vertäfelten, dunklen Wänden, denen nur die einfallende Mittagsonne eine schöne rötliche Farbe verlieh. Lars wartete, was kommt, er traute sich nicht, den stummen Jebsen zu drängen, endlich zur Sache zu kommen.

„Lars, hören Sie mir gut zu! Sie sind mein bester Mann. Mein Sohn Björn ist zu blöd, meinen Platz einzunehmen. Ich habe mich vor Kurzem entschlossen, schon mit Siebzig meinen Platz als Geschäftsführer zu räumen und mich in den Beirat zurückzuziehen.“

„Ja, aber …“ Jebsen ließ ihn nicht weiterreden.

„Hören Sie mir zu, Lars. Ich will, dass Sie meinen Platz einnehmen.“

Er klopft Lars kräftig auf die Schultern und nickt ihm anerkennend zu. Lars versucht zu überspielen, dass er das sowieso erwartet hatte, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt.

„Ich weiß“, fährt Jebsen fort, „dass Sie das nicht so sehr überrascht, wie Sie jetzt tun.“

„Aber warum…“, versucht Lars von seinem Ertappt-worden-Sein abzulenken, „warum schon in zwei Jahren? Sie sind gesund und voller Kraft und wollten doch …“. Jebsen unterbricht ihn.

„Hören Sie, Lars!“ So fingen fast alle Sätze von Jebsen an. Er war nicht gut im Zuhören, dafür ein begnadeter und energischer Redner.

„Heute geht es der Brauerei gut. Friesenpils läuft und läuft. Nicht zuletzt dank Ihnen! Aber es liegen Herausforderungen vor uns, die zu meistern ich mir nicht mehr ausreichend zutraue.“

Er blickte mit ernster Miene und richtete den Blick aus dem Fenster heraus. Von hier aus hatte man einen phantastischen Blick auf den Hafen. Es war gerade Ebbe und die Boote lagen in bedenklicher Schräglage mit dem Kiel fest im Schlick. Jebsen holte Luft und fuhr mit noch finsterer Miene fort.

„Nordfriesland ist auf Dauer zu klein, und bald schon steigen unsere Kosten schneller als es der Absatz eigentlich erlaubt. Und wir sind nicht allein. Wir dürfen uns nicht auf unserem Marktanteil von über fünfzig Prozent ausruhen. Immer mehr fremde Biere drängen herein. Die Leute lieben unser Friesenpils. Ja! Aber sie trinken zum Beispiel auch gerne Biere aus Bayern. Ja, diesen Bayern ist ihr Freistaat auf Dauer auch zu klein, deshalb gehen sie nach Norden. Wir haben nur Pils und können vor allem diesem Weißbier nichts entgegensetzen“. Jebsen klang besorgt und legte seine Stirn in tiefe Falten.

„Ich sehe darin keine Gefahr, Herr Jebsen“, erlaubte sich Lars dagegenzuhalten. „Die Leute werden immer am liebsten zu unserem Friesenpils greifen.“

„Sie verkennen die Gefahr, Lars“. Jebsen schaute grimmig und ungeduldig. Sein Ton hatte sich verschärft und seine sonst so behaglich norddeutsche Stimme bedrohlich auf Lars wirken lassen. Selbst die Sonne, die eben noch die Wandtafeln in ein rotbraunes Licht tauchte, wich vor Jebsens Zorn. Doch der verflog binnen Sekunden. Jebsen fuhr fort.

„Hören Sie, Lars! In Holzerding in den bayerischen Voralpen, gibt es eine Brauerei, die ich seit Monaten mit Sorge beobachte. Ratzinger Bräu! Verdammt, ausgerechnet Ratzinger! Dieser verdammte Ratzinger!“ Jebsen atmet lang und tief aus. „Sie kennen das Bier, nehme ich doch an?“

Jebsen schaute Lars geradezu bohrend in die Augen. Lars fühlte sich so gestresst, wie früher in Prüfungssituationen.

„Aber natürlich kenne ich Ratzinger, Herr Jebsen!“

„Sehen Sie“, fuhr Jebsen erneut auf. „Sie kennen es natürlich.“ Das „natürlich“ betonte er fast vorwurfsvoll. „Natürlich kennen Sie es. Jeder kennt es.“ Lars schwieg und blickte Jebsen hilflos an. Was wollte er nun eigentlich damit sagen?

„Schauen Sie nicht so, Lars! Das ist so, weil dieser Ratzinger massiv in unser Gebiet einbricht. Er macht neuerdings sogar aggressiv bei uns Werbung, und nicht nur die Gäste aus Süddeutschland greifen zu diesem Bier, das in diese Gegend gar nicht hingehört.“

„Ja, aber die kommen doch nicht nach Friesland, um bayerisches Bier zu trinken. Die wollen Friesenpils“. Lars fühlte sich, als hätte er den Punkt gegen Jebsen gemacht. Doch der stand nicht auf Widerrede.

„Ach Quatsch!“ herrschte Jebsen Lars an. Der zuckt zusammen. „Dieses elende Weißbier ist sprichwörtlich in aller Munde, zunehmend auch bei den Friesen selbst“. Er macht eine lange Atempause und fuhr mit fester Stimme fort. „Und das ist die Gefahr. Punkt!“ Mehr sagte Jebsen nicht mehr. Lars wartete einen Moment, bevor er antworten konnte.

„Und was wollen Sie dagegen unternehmen, Herr Jebsen? So wie ich Sie kenne, haben Sie doch schon einen Plan, nicht wahr?“ Lars strich sich elegant durch das lose Haar und wollte seiner nachlassenden Anspannung damit gewissermaßen auch körperlich Ausdruck verleihen. Er stand vor Jebsen und versuchte möglichst lässig zu wirken, konnte seinen Inhaber damit aber nicht im Geringsten beruhigen.

„Natürlich! Aber das ist hier trotzdem kein Spaß, Lars. Hören Sie mir zu!“ Er stand wie ein Major vor Lars, und dieser nahm unwillkürlich Haltung ein. Nur das Gewehr fehlte. Die Sonne blendete Lars nun ein wenig, so dass er zur Seite ausweichen musste. Auch um Jebsen, der ihm fast Nase an Nase gegenüberstand, zu entgehen. Jebsen roch manchmal schlecht. Nicht etwa nach Bier, sondern nach Knoblauch. Den aß er täglich „wegen der Arterien“ wie er immer sagte.

„Setzen Sie sich, Lars!“ Da saßen sie nun wieder in derselben Position, in der man sonst üblicherweise redete. Jebsen hinter seinem unglaublich großen Schreibtisch, auf dem alles exakt und ordentlich platziert zu sein hatte. Und bloß nicht zu viel. Und wehe ein Staubkörnchen störte die Lichtreflexion auf dem makellos glänzenden Lack. Ein Umstand, der Jebsens Sekretärin manchen Rüffel einbrachte. Überhaupt, Jebsens Sekretärin: Jessi war eine echte Augenweide. Viel zu jung und zu ansehnlich, um in Jebsens Vorzimmer zu versauern. Das empfand auch sie so und freute sich stets über Lars‘ Besuche, die nicht selten zur Mittagspause auf Jessis Wohnung ausgedehnt wurden. Jessi hatte fast etwas Knabenhaftes, aber trotz ihrer strengen Frisur und ihrer kleinen Oberweite eine ungeheuerlich erotische Ausstrahlung. Jebsen hatte von den Blicken zwischen Lars und Jessi sowie ihren gemeinsamen Pausenaktivitäten nie etwas bemerkt, aber selbst auch kein Auge auf sein Vorzimmerjuwel geworfen. Dafür war er zu sehr Ehrenmann und zu hoch angesehen in Husum, als dass er das für einen jungen Hüpfer aufs Spiel gesetzt hätte. Außerdem hing das Bild von Frieda Jebsen, seiner verstorbenen Frau, im Vorzimmer. So kamen Besucher stets an zwei Empfangsdamen vorbei und konnten sich dabei zwar des netten Lächelns von Jessi erfreuen, mussten sich aber auch dem gestrengen Blick der ehemaligen Seniorchefin stellen.

Lars saß ihm wie üblich gegenüber und achtete dabei auf aufrechten Sitz, da er sonst kaum über die Kante des Riesenmöbels schauen konnte. Er kam sich dabei immer unendlich klein vor.

„Also, Lars, hier ist mein Plan. Hören Sie gut zu, denn Sie sind mein Joker für die Umsetzung.“ Das traf Lars wie ein Schlag mit dem Hammer. Er hatte einen Kloß im Hals und schluckte demonstrativ. Jebsen schaute ihn an und durchbohrte ihn dabei förmlich, als wollte er ihn aufspießen und grillen.

„Ratzinger hat einen Feind direkt vor seiner Nase. Gschwandtner ist Getränkefachgroßhändler und verlegt in der Gegend sämtliche Getränke, quasi wie ein Monopolist. Natürlich auch Ratzinger Bräu! Es ist eine Hassliebe zwischen den Beiden, seit ihren gemeinsamen Kindertagen. Der eine braut das Bier, und der andere beliefert die Gastronomie. Der eine kann nicht ohne den anderen, obwohl sie sich gegenseitig nicht die Butter auf dem Brot gönnen. Gschwandtner fühlt sich gedemütigt, weil Ratzinger die Marke hat und hoch angesehen ist, während er nur den Bierkutscher spielen darf. Und Ratzinger nervt es, die Wirte nicht direkt beliefern zu können, weil die alles aus einer Hand wollen und Gschwandtner es nicht zulässt, dass die Hälfte seines Umsatzes an ihm vorbeigeht“. Jebsen macht nach seinem Redeschwall eine längere Atempause, als wollte er von Lars die Fortsetzung dieses Romans hören. Der stammelt irgendetwas heraus:

„Und dieser Gschwandtner ist der Schlüssel, um Ratzinger weh zu tun?“ Lars rutscht auf seinem Ledersessel hin und her, die Arme auf den etwas zu hohen Seitenlehnen in leicht verkrampfter Haltung ablegend. Jebsen lehnt sich sichtlich zufrieden zurück und grinst breit.

„Gut erkannt, Lars!“ Wieder eine lange Pause, doch diesmal blieb Lars gelassener. Jebsen würde das Geheimnis schon gleich lüften.

„Gschwandtner ist, wie Ratzinger auch, um die Siebzig und hat keinen Nachfolger. Genau wie Ratzinger!“ Jebsen grinst und legt die Miene eines durchtriebenen Schlitzohres auf. „Er will aufhören. Das Geschäft lohnt nicht mehr. Bei einem Verkauf könnte er vielleicht genug herausholen, um an seinem Lebensabend gut versorgt zu sein. Einen Interessenten gibt es auch, aber der weiß noch nichts von Gschwandtners Absicht“. Das Grinsen von Jebsen verzerrt nun fast sein von der immer wehenden Seeluft leicht zerfurchtes Gesicht.

„Ratzinger! Ratzinger würde bestimmt kaufen. Damit hätte er alles in seiner Hand“. Lars‘ Antlitz leuchtet, als hätte er ein Rätsel der Menschheit gelöst.

„Und nun, Lars, raten Sie mal, an wen Gschwandtner garantiert nicht verkauft! Lieber hängt er tot über dem Zaun, als dass er erleben möchte, wie Ratzinger über ihn triumphiert. Nur zu dumm, dass es keinen anderen Interessenten gibt, der Gschwandtner genug bezahlt, um sich zur Ruhe setzen zu können. Und mit Ratzinger legt sich freiwillig ohnehin keiner an“. Jebsen zieht die Schulter hoch, als wäre das die unausweichliche und von Gott gewollte Situation.

„Sie? Doch nicht Sie, oder? Jebsen, Sie wollen Gschwandtner kaufen?“ Lars wusste nicht, ob er geschockt oder begeistert sein sollte. Er fuhr sich nervös durchs Haar und schrie so laut, dass Jessi ihn draußen hören konnte. Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch und freute sich eigentlich auf die Mittagspause. Es war nicht unbedingt Hunger, der sie ungeduldig auf die Unterbrechung ihres Arbeitstages warten ließ. Jedenfalls kein Hunger, wie er aus einem leeren Magen kommen würde, sondern eher eine Begierde, die von ihrem nimmer satten, primären weiblichen Geschlechtsorgan gesteuert zu werden schien. Damit konnte sie Männer regelrecht auffressen, und Lars war ein besonderer Leckerbissen.

„Ja, mein Lieber!“ So hatte Jebsen Lars noch nie genannt. „Mein Lieber!“ So nannte er überhaupt niemanden. Lars ließ sich in seinen Sessel zurückfallen, aus dem er fast heraus gesprungen war, und sortierte seine Haare, die ihm nun etwas unsortiert ins Gesicht hingen. Ein Bild, dass Jessi stets verrückt machte, wenn sie zu zweit waren. Doch an sie konnte Lars in diesem Moment nicht denken. Er war voll bei der Sache, und bei Jebsens Geschichte.

„Hören Sie, Lars!“ Aha, Jebsen war wieder gefasst und fuhr in gewohnter Weise fort, um Lars von seinem Plan zu unterrichten. „Ich habe Gschwandtner gekauft. In vierzehn Tagen übergibt er mir den Schlüssel. Das heißt …“. Er hielt inne.

„Das heißt?“ Lars wiederholt und hätte dabei vor Spannung zerbersten können.

„Er wird Ihnen den Schlüssel übergeben“. Lars saß da wie ein Fleisch gewordenes Fragezeichen. Beide schwiegen sich einige Sekunden an. Sekunden, die sich für Lars wie endlos lange Minuten anfühlten. Jebsen atmete ruhig und tief ein, bevor er fortfuhr. Wieder verschwand die Sonne, die das sich erwärmende Leder des Sessels immer auffällig anders riechen ließ. Warum das Lars gerade jetzt auffiel? Er wusste nicht, wohin mit seinen Gedanken. Zwischendurch ertappte er sich sogar dabei, wie er sich Jessi nackt im Vorzimmer vorstellte.

„Hören Sie, Lars! Organisieren Sie mit Gschwandtners Hilfe in den nächsten zwei Jahren die Belieferung der Wirte so, dass sie ihren Gästen neben Ratzinger Bräu auch Friesenpils anbieten. Machen Sie das so, wie Sie es hier machen! Oder machen Sie es so, wie Sie wollen! Aber machen Sie es, verdammt noch mal!“ Jebsen haut auf den Tisch. „Dann geht Ratzinger in die Knie. Es heißt, es ginge ihm finanziell nicht so gut. Jedenfalls nicht so gut wie uns“. Wieder eine lange Pause und ein breites Grinsen. Jebsen war heute ganz anders als in all den Jahren, die Lars nun schon für ihn arbeitete.

„Sie wollen an Ratzinger heran, nicht wahr? Es geht Ihnen nicht um Gschwandtner, sondern Sie wollen Ratzinger schlucken“. Jetzt hatte Lars tatsächlich zum ersten Mal so etwas wie Durchblick. Erst auf den zweiten Blick durchfährt es ihn. „Und ich soll das tun?“ Jebsens Schweigen ist Antwort genug.

„In vierzehn Tagen geht’s los, Lars. Ihr Ticket liegt bereits hier auf dem Tisch.“ Er schiebt den Umschlag, der rechts vor ihm lag, zu Lars hinüber. Der öffnet wortlos, faltet den Beleg auseinander: „30. April, Flug von HAM nach MUC“. Lars schaut auf zu Jebsen. „Aber …“

„Kein Aber, Lars! Ich biete Ihnen an, in zwei Jahren die Geschäftsleitung von Friesenpils zu übernehmen. Ihr Gehalt verdopple ich ab sofort“. Jebsen schiebt einen zweiten Briefumschlag zu Lars herüber. Er lag die ganz Zeit akkurat spiegelbildlich zu dem Umschlag mit dem Ticket auf der linken Seite. Diesen öffnete er andächtiger als den ersten. Wow! Zweihunderttausend Euro pro Jahr. Plus Erfolgsprämie von nochmal hunderttausend Euro nach zwei Jahren. Zum ersten Mal in Lars‘ Leben bekommt er feuchte Hände. Nein, tropfnasse Finger, wie sonst nur in der Mittagpause mit Jessi.

Lars blickte auf zu Jebsen und antwortete mit fester Stimme. „Danke, Herr Jebsen, aber ich lehne ab“. Jebsen war geschockt und reagierte unbeherrscht. „Dann ist es auch aus mit Ihrem Job bei Friesenpils. Was wollen Sie? Was haben Sie denn für ein Problem mit dieser Riesenchance?“ Ja, was war eigentlich Lars‘ Problem? Gedanken und Bilder zuckten durch seinen Kopf.

„Nun, da ist meine Familie, die nicht von Sylt weg will!“

„Dann lassen Sie sie dort, verdammt noch mal! Sie kommen jeden Monat einmal heim, und Ihre Familie wird von dem Geld mehr als gut leben. Ihre Frau wollte doch schon immer einen Porsche. Ihr war doch Ihr Kombi sowieso stets nur ein Graus“. Jebsen mochte Antjes Art nicht, da sie für seinen Geschmack zu sehr auf ihr Äußeres fixiert war und sehr großzügig mit ihren Reizen umging. Er hatte Antje nur zu gut durchschaut und traf damit bei Lars ins Schwarze.

„Ja, aber …“

„Was aber? Was stört Sie noch an ihrem Glück?“

„Bayern?“ Lars verzieht das Gesicht, als sollte er Haferschleim löffeln. „Doch nicht Bayern! Um Himmels Willen, bitte bloß nicht Bayern!“ Er sucht nach Worten und Bildern: „Da leben Wilde. Unzivilisierte, grobe Riesenkerle. Echte Trolle“. Lars steigerte sich in seine Beschreibung so hinein, dass er aus seinem Sessel aufstieg, obwohl Jebsen noch saß. Etwas, das Jebsen gar nicht mochte. Jemand, der sich vor ihm aufbaute und ihn überragte. Er schaute Lars an, als hätte er einen Verrückten vor sich.

„Bayern! Da gibt es nichts, gar nichts, kein bisschen Meer, keine Weite, keine Luft zum Atmen, nur Berge vor dem Kopf, der vom Fön noch mehr schmerzt als von ihrem Bier. Kein Wunder, dass die Bayern so beschränkt sind. Sie können kein Deutsch, sondern reden ein Kauderwelsch, das kein normaler Mensch versteht. Ja, sie saufen literweise Bier, nicht schlecht eigentlich für unsere Branche. Aber meistens raufen sie und prügeln sich gegenseitig dumm“. Lars Stimme stolperte fast über die vielen Worte. „Die reiten doch auf Ochsen statt auf Pferden“. Lars holt tief Luft, um zu seinem finalen Plädoyer anzusetzen: „Bitte nicht nach Bayern! Nicht in die Fremdenlegion! Nicht nach Afrika! Lieber in den Himalaya! Bitte nicht! Und katholisch bin ich auch nicht. Die werden mich als Ketzer verurteilen und auf Ihre Scheiterhaufen werfen, die sie überall in den Bergen anzünden“.

Lars lässt sich wieder in seinen Sessel fallen und hält sich die Hände vor die Augen, als wollte er die Schande, die ihm zu widerfahren droht, nicht sehen. Er atmete nun wieder etwas langsamer und wartete auf Jebsens Strafgericht.

„Nun machen Sie aber mal einen Punkt, mein Lieber!“ Schon zum zweiten Mal „Mein Lieber!“ dachte Lars und schaute nicht auf. „Ja, es stimmt schon. Diese Bayern sind etwas anders als normale Menschen. Aber den letzten Missionar haben sie schon vor Jahren gefressen“. Jebsen lachte brüllend auf. Ein Witz aus Jebsens Mund. Heute war nichts mehr, wie es bis eben noch gewesen war. Jessi blieb diese Unterhaltung durch die verschlossene Tür hindurch nicht verborgen. Sie machte sich langsam Sorgen, was ihre Agenda für die nächste Stunde anbetraf.

„Sie gehen da hin, machen Ihren Job, und in zwei Jahren sind Sie Geschäftsführer von Friesenpils. Dann verdopple ich Ihr Gehalt nochmal“. Und nach einer kurzen Pause setzte er mit leicht süffisantem Unterton fort: „Wenn Sie Erfolg haben, Lars. Also?“

„Antje bringt mich um“. Soviel war sicher.

„Nein, sie wird Sie küssen. Endlich verdienen Sie so viel, dass sie das ausschweifende Leben führen kann, das sie gerne hätte, nicht wahr? Kaufen Sie ihr den Porsche. In Holzerding brauchen Sie lediglich einen Ochsenkarren“. Und wieder setzte dieses brüllende Lachen ein, das Lars bislang nicht kannte und das er auch nicht mochte. Witze waren gefälligst sein Ding!

(Die Beichte I)

Antje reißt ihn unsanft aus seinen immer wieder davonfliegenden Gedanken. „Was ist denn nun? Dein Flieger!“

Antje! Eigentlich macht er das alles doch nur wegen ihr. Ihm würde das Leben, das er heute führt, eigentlich völlig genügen.

Es war eine unangenehme Erfahrung, als er nach dem Gespräch mit Jebsen, ohne Zwischenstopp in Jessis Wohnung und mit dem Ticket in der Tasche wieder nach Sylt zurückkam und nicht wusste, wie er Antje diese Strafversetzung, dieses Unglück, beichten sollte. Sie saßen beim Abendessen. Antje erzählte und erzählte. Lars hörte gar nicht hin. Dörte spielte mit dem Fingern im Essen und war in ihrer eigenen Welt. Draußen war es längst dunkel geworden. Durch das gekippte Fenster kamen angenehme Geräusche, und das Rauschen der aufgewühlten See übertönte in Lars‘ Wahrnehmung Antjes Redeschwall. Bis sie Lars‘ Abwesenheit bemerkte und innehielt.

„Lars? Lars, hey, ich rede mit dir, was ist los?“ Er zuckte zusammen. Antje spießte ihn mit ihren himmelblauen Augen förmlich auf. Jetzt oder nie! Es musste einfach raus!

„Ich muss weg von hier“.

Mehr fiel ihm erst mal nicht ein. Etwas Blöderes konnte er aber auch kaum sagen, als: „Ich muss weg von hier“. Antje fuhr es durch den Kopf: Will er die Scheidung? Nein, sie waren doch beide glücklich, so wie es war.

„Was ist los, Lars?“ Ihre Stimme war jetzt so wie immer, wenn sie misstrauisch wurde.

„Jebsen hat mich nach Bayern versetzt. Ab 1. Mai. Für zwei Jahre“. Der Kloß in Lars‘ Hals ließ mehr Worte nicht zu.

„Oh mein Gott. Was hast du ausgefressen? Hast du etwas geklaut? Hat Jebsen gemerkt, dass du Dörtes Reitstunden immer mit Bierfässern bezahlst, die eigentlich für die Promotion gedacht waren? Los, was hast du angestellt, dass er dir so etwas antut? Das Schwein, dieses elende!“ Die Abneigung von Jebsen gegenüber Antje war durchaus von Gegenseitigkeit geprägt.

In Gedanken sah Antje Bilder von Lars, wie ihn Kannibalen mit Tirolerhüten in einen Kochtopf stecken und garen bevor sie ihn mit Haut und Gamsbarthaaren fressen. Nein: grillen würden sie ihn lieber und mit ihrem Bier übergießen, damit er schön knusprig würde. Antje sah, wie er fliehen will, aber Horden von Wilden unverständliche Laute ausstoßen und ihn mit Netzen fangen. Sie durchbohren ihn mit Speeren und tanzen im Kreis um ihre Beute. Dann besaufen sie sich nach dem Gelage und prügeln wie Blöde aufeinander ein.

Sie schaute Lars fassungslos an. Wut und Verzweiflung wechselten sich ab. Und er konnte ob dieser Katastrophe nicht reden. Antje sackte auf ihren Stuhl und fing an zu heulen. Und die kleine Dörte saß völlig verstört zwischen den Beiden, die Augen voller lautloser Tränen.

„Nein mein Schatz“, versuchte Lars Dörte zu beruhigen. „Es ist nicht so schlimm, und ich komme ja jeden Monat zu Besuch. Es ist nur für zwei Jahre, und Jebsen hat mein Gehalt verdoppelt“. Antje weinte plötzlich merklich leiser, vergrub aber ihr hübsches Gesicht immer noch in einem Ellenbogen. „Ich soll die Geschäfte in Bayern leiten. Jebsen hat dort eine Firma übernommen und will so nach Süden expandieren. Und in zwei Jahren werde ich Geschäftsführer von Friesenpils“, lächelt er Dörte an, obwohl er Antje meint. „Dann bekommst du dein eigenes Pferd“.

„Und ich einen Porsche?“ Antje schaute verheult nach oben. Ihr Make-up hatte durch die Sturmflut arg gelitten. Aber zum ersten Mal fand Lars sie wieder so richtig süß. Fast wie vor fünfzehn Jahren bei der Surfweltmeisterschaft. Die Stimmung hellte sich bei beiden Mädchen auf. Ein Pferd und ein Porsche. Das war‘s!

„Ja, aber wie willst du das denn überleben?“ Die Skepsis war wieder zurück. „Denk dir nur mal! Hamburg wäre ja schon eine Katastrophe. Oder stell dir vor, noch schlimmer, Du müsstest sogar südlich der Elbe leben. Und Bayern ist noch weiter weg. Da lebt ein animalisches Bergvolk. Können die überhaupt Deutsch? Was werden Sie dir antun? Nicht mal die Frauen werden dir gefallen. Die laufen oberdrein noch in mittelalterlichen Klamotten rum“. Aber vielleicht ist das ja gar nicht so verkehrt, schoss es ihr noch durch den Kopf, denn Lars hatte ein geschultes Auge für Schönes und würde einer Bayerin bestimmt nicht hinterher schauen. Sie kam langsam wieder zu Sinnen. Der Reiz des plötzlichen Wohlstandes setzte sich in Antje durch und verdrängte binnen weniger Minuten ihre Sorge um Lars. Schließlich fiel sie ihm um den Hals und Lars war erleichtert.

Und heute? Zwei Wochen sind seitdem vergangen, und Antje kann es kaum abwarten, ihn loszuwerden. Sie steht in der Tür, den Autoschlüssel um den Zeigefinger wirbelnd, die andere Hand in die Hüfte gestützt, als wollte sie sagen: „Na los, an die Arbeit!“ Ihre Beine verlassen den engen Minirock nach unten und enden in ihren knallroten Highheels. Lars mag es eigentlich nicht, wenn sie damit Auto fährt, aber sie sieht darin sündig gut aus.

Ein letzter Blick auf das Meer. Lars‘ Augen nehmen noch einmal wehmütig die Wohnung war, als würde er sie nie wieder sehen: Hier die Designerküche, fast neu. Er ist ein guter Koch. Da das zerwühlte Schlafzimmer, seine Werkstatt, wie Lars es gerne nannte. Er ist nämlich nicht nur ein guter Koch! Man sieht noch die Spuren der Nacht. Das Liebespaar hatte seine vorerst letzte Gelegenheit noch einmal voll ausgekostet. Lars ließ Antje wieder „Rollbraten“ spielen. Dabei rotiert sie langsam an seinem Fleischspieß, und er betrachtet von allen Seiten ihre makellose, knusprig braune Haut, auf der sich erst einige wenige, dann überall Schweißperlen bilden. Antje legte stets Wert darauf, dass nicht eine einzige Borste Lars würde kratzen können und jeder einzige Quadratmillimeter ihres Körpers gleichmäßig gebräunt wurde. Lars stellte sich gelegentlich gerne vor, wie akrobatisch sie sich in der Sonne positionieren muss, um auch an den Stellen braun zu werden, wo die Sonne sonst nie hin scheint.

Dörtes Spielecke ist verwaist, denn sie ging schon früh zum Reiten. Um ihr den Abschied nicht so schwer zu machen, hatte Antje die Kleine gleich nach dem Frühstück weggeschickt. Lars schaut wie drei Tage Regenwetter, als ginge er auf das Schafott. Nein: Bayern ist schlimmer als der Tod. Er lässt den Kopf hängen, als er an Antje vorbei das Haus verlässt und ins Auto steigt. Dieser verdammte Kombi, geht es ihm durch den Kopf. Er hätte Antje den Wunsch nach einem Porsche nur zu gern schon früher erfüllt. Antje schließt die Haustür ab und springt so beschwingt zum Auto, als ginge sie zur Tennisstunde. Den Tennislehrer fand sie nämlich sehr attraktiv, und am liebsten war es ihr, wenn seine Bälle nachts zwischen den Dünen in ihrem Netz zappelten. Er verfügte über einen mächtigen Schläger, der besonders gut in Antjes Hand lag. Sein Aufschlag war hart, und so endete ein Match üblicherweise mit Spiel, Satz und Sieg durch ein Ass.

Als Antje den Zündschlüssel herumdreht, wird Lars schlecht. Er öffnet das Fenster, um nach Seeluft zu schnappen, so als würde er im Smog einer chinesischen Großstadt zu ersticken drohen. Sie lässt den Motor aufheulen. Lars konnte das noch nie leiden. Es ist eben ein Kombi und kein Porsche. Mit quietschenden Reifen schießt Antje rückwärts in Richtung Straße. Auf dem Weg zum Autozug grüßt Lars jede Düne und verabschiedet sich im Rückspiegel mit Tränen von jedem Nachbarn. Den Zug aufs Festland erreichen sie trotz Antjes Raserei nur knapp. Aber leider erreichen sie ihn. Lars hätte nichts dagegen gehabt, den Flug zu verpassen.

Die Fahrt nach Hamburg verläuft ereignislos und zügig. Antje und Lars reden kaum ein Wort. Lars starrt aus dem Fenster und sieht sich auf dem Weg in die Verbannung, wie Napoleon auf Elba. Warum konnte es nicht Dänemark sein? Er hatte Jebsen immer wieder vorgeschlagen, nach Norden zu expandieren. Aber wenn dieser ihn fragte, ob er das übernehmen und die nordfriesischen Inseln an seinen Kollegen Hein abgeben wollte, war das Thema immer gleich im Keim erstickt. Dänen, die ja auch gerne Zeit auf Sylt verbringen, hatten sein Friesenpils schließlich gesoffen, wie die Bayern ihr schlecht gezapftes Bier auf dem Oktoberfest. Nein: er hatte Jebsen nie verstanden, und Dänemark hätte ja selbst dieser unfähige Hein übernehmen können. Selbst der hätte das geschafft.

Antje hat die Sonnenbrille aufgesetzt, da die Mittagssonne genau von vorne kommt und noch nicht so hoch steht, wie im Sommer. Ihre langen Haare wirbeln herum, da das Fenster halb offen steht. Ihr gehen ganz andere Gedanken durch den Kopf. Heute Abend würde der gut aussehende und stinkreiche Hans sie besuchen. Er ist von Beruf Sohn und Lebemann. Für die Dünen ist es natürlich zu kalt, und Antje kann nicht weit genug weg vom Haus, um einen Hausbesuch in Hans‘ Luxuswohnung zu machen. Nein: Hans würde mit seinem Haus einfach zu Antje kommen. Er hat ein luxuriöses Wohnmobil, das nah genug am Haus parken konnte, ohne aufzufallen. Und das Babyphone hat immer noch Kontakt zu Dörte. Wie praktisch! Lars ahnt nicht, dass Antjes erotische Ausstrahlung in diesem Moment stark von ihren Gedanken an Hans herrührt. Dessen bestes Stück nennt sie immer den „Blanken Hans“. Stürmisch wie die Nordsee im Winter! Und stürmisch ging es auch üblicherweise zwischen den beiden zu, wenn sie sich in wellenartigen Bewegungen auf hohe See begaben.

(HAM)

Am Flughafen angekommen weiß Antje sehr gut, was sie Lars jetzt schuldet. Kein kurzer, flüchtiger Abschiedskuss, sondern eine wilde Knutscherei. Lars ist aber heute irgendwie nicht dazu aufgelegt. „Antje! Der Parkplatzaufseher schaut schon“.

„Na, das hat dich doch bislang nie gestört, mein kleiner Friesenbazi“. Sie kann ja so neckisch sein. Ihre Hand an seiner Hose macht Lars zwar ziemlich nervös, aber er will jetzt einfach nur schnell raus aus dem Wagen. Sie sind zwar früh dran, da der erwartete Stau ausfiel, aber er kann Antjes Umarmungen jetzt einfach nicht gebrauchen. Die zwei Koffer wollen kaum aus dem Auto heraus. Das Übergewicht würde ein Vermögen kosten. Na ja, Jebsens Vermögen! Antje zieht Lars‘ Gesicht zwischen ihren Krallen noch einmal zu sich ins Auto. Für diesen Kuss würde der Parkplatzaufseher gerne sterben.

Die Reifen quietschen als Antje losbraust, und ihr linker Arm reckt sich weit aus dem Fenster, um noch einmal zu winken. Das war’s dann wohl. Lars steht da wie der einsamste Mensch der Welt und trauert seinem Kombi hinterher, mit dem sein schönes Leben soeben davonfährt.

Die Koffer die paar Meter ins das Terminalgebäude zu schleppen, macht Lars erschöpft. Er steht mitten in der großen neuen Halle. Es ist ordentlich Betrieb. Viele wirken gehetzt. Typischerweise tragen sie Anzug und Krawatte. Andere wirken völlig gelöst und sehen aus, als würden sie heute Abend noch Party auf Ibiza machen. Mann! War das ein Abend, mit Antje damals während ihres Honeymoons auf Ibiza. Er stand auf, ging zur Bühne, als die Musik Pause machte, und peitschte die Menge auf. Diese wollte ihn gar nicht mehr runterlassen, und die Musiker hatten Mühe, die Hoheit über das Programm wieder an sich zu reißen. Das war eben sein Metier, und Antje war sein Mädchen. Letzteres wollten ein paar junge Draufgänger nicht akzeptieren und mischten den Laden auf.

Jetzt ist Antje auf dem Weg nach Hause. Und er? Er kann die Menschen um ihn herum heute nicht ertragen. Alles dreht sich um ihn herum. Ihm wird schwindelig, und Lars reißt die Hände von den Koffern los, schließt fest seine Augen und vergräbt sein Gesicht hinter seinen Händen. „Nein!“ ruft er so laut, dass die Menschen in seiner Nähe zu ihm hinschauen. „Neiiin!“ Er schreit nochmal und zieht das „Nein“ so in die Länge, dass es überall in der großen Halle gut zu hören ist. „Ich will noch nicht sterben. Nicht so! Nicht heute!“ Lars hebt seine Arme langsam zum Himmel, so als ob er gleich dort hinauf schweben wollte. Die Koffer stehen neben ihm, einer rechts, der andere links. Einige Passagiere bleiben ob seiner Darbietung erstarrt stehen. Sie blicken zu Lars, dann zu seinen Koffern. Sterben? Hier und heute? Was ist mit den Koffern? Oh Gott, Sprengstoff, ein Selbstmordattentäter! Eine Passagierin schreit hysterisch auf: „Achtung, er hat zwei Bomben!“ Wie schnell man eine Menschenmenge in Panik versetzen kann, hätte Lars nie gedacht. Innerhalb von Sekunden rennen Dutzende Menschen auseinander und schreien panisch „Achtung Bombe! Er hat eine Bombe“. Das Geschrei steckt blitzschnell alle Passagiere im Terminal an, und der Raum um Lars wird weit. Menschen stolpern über Gepäck, und das Personal geht hinter den Schaltern in Deckung. Lars steht da, wie bei der versteckten Kamera. Er dreht sich um seine eigene Achse und flüstert nur „Quatsch, das sind keine Bomben. Ich habe doch keine Bomben. Kommt zurück, das ist doch alles Blödsinn!“ Doch es kommen ganz andere Typen. Mit Helmen und schusssicheren Westen. Die Maschinengewehre im Anschlag. Es sind Dutzende.

„Die Arme nach oben!“ schreit einer. „Los die Arme hoch! Ich will sehen, was du in der Hand hast“. Das Brüllen dieses Kriegers schüchtert Lars gewaltig ein. Und die Waffen, die auf ihn gerichtet sind, lassen ihn verzweifeln.

„Aber ich hab doch gar nichts …“.

„Die Arme oben lassen und langsam weg von den Koffern!“ Wow, eine Stimme wie in einem Militärfilm, wenn ein Schleifer von den US Marines die neuen Rekruten zusammenschreit.

„Ja ja. Aber ich habe nichts da drin“. Der Schweiß auf seiner Stirn fängt an, in seine Augen zu rinnen, und Lars ist versucht, sich die Stirn abzuwischen.

„Mann, die Arme hoch!“ Der Schrei muss bis München zu hören sein. Die Augen des Typen sind wie blutunterlaufen, und das Gewehr zeigt genau zwischen Lars‘ Augen. Hoffentlich ist der Zeigefinger dieses Typen nicht so aggressiv wie seine Stimme, geht es Lars durch den Kopf, der zu zerplatzen droht, als sei die Bombe zwischen seinen Ohren deponiert. Ein Hundeführer schickt seinen Schäferhund zu den Koffern, die vielleicht zwei oder drei Meter von Lars entfernt stehen. Er schnüffelt aufgeregt an ihnen. Mehrmals an denselben Stellen und läuft zurück zu seinem Herrchen. Lars fragt sich, ob so ein Polizist auch so etwas wie ein „Herrchen“ ist. Man führt ihn unsanft ab und bringt ihn in einen Raum, der so verstörend auf Lars wirkt, als hätten Gestapo und KGB hier Folterverhöre durchgeführt. Während er sich sämtlicher Kleidung entledigen muss, bleiben mehrere furchteinflößende Gewehre auf ihn gerichtet. Er wird mit Geräten durchsucht, die aber keinen Mucks von sich geben. Ein weiterer Polizist kommt herein, und flüstert dem Mann, der offensichtlich Chef der Gruppe ist, etwas ins Ohr. Lars kann die Entspannung der Situation in jeder Körperzelle spüren.

„Was sollte das werden, Mann?“ Das Brüllen des Polizisten war immer noch unangenehm, aber Lars merkte, dass die Spannung langsam von ihnen wich.

„Was habe ich denn getan?“ stammelt Lars verschüchtert.

„Sie haben den ganzen Flughafen aufgemischt. Sprengstoffalarm! Was haben Sie sich dabei gedacht?“ Lars wünscht sich, Jebsen stünde jetzt vor ihn, anstatt dieses Typen, der ihn mit seinen Fragen und seinem Ton förmlich durchbohrt. Er schwitzt jetzt noch mehr, als ihm der Beamte die Kleidung vor die Füße wirft.

„Ich bin doch nur auf dem Weg nach Bayern“, stammelt Lars mit einer weinerlichen Stimme, die ihn fast wie einen kleinen Jungen klingen lässt.

„Wie bitte?“ Der Beamte wirkt fassungslos. „Nach Bayern?“

„Ja, wissen Sie, ich bin Vertriebsleiter von Friesenpils und der Inhaber hat mich von Sylt nach Holzerding versetzt. Ich musste meine Familie auf Sylt zurücklassen, meine Koffer, die Sie gerade untersucht haben, packen und für zwei Jahre nach Bayern ziehen, um dort eine neue Firma zu leiten“. Lars fühlt sich erleichtert, wie nach einer Beichte. Natürlich war er noch nie bei einer Beichte, aber so muss es sich wohl anfühlen. Den Beamten stehen die Münder offen. Sie nehmen die Helme vom Kopf und ziehen die schusssicheren Westen aus. Kopfschüttelnd wendet sich der eine angewidert ab, der andere stützt sich niedergeschlagen auf den Tisch, der vor Lars steht, und wieder ein anderer lacht laut auf.

„Bay-ern! Bay-ern!“ Der Mann betont die zwei Silben auffällig, und es klingt fast, als wollte er ein Spottlied singen. Die Beamten schauen sich an und beginnen zu lachen. Lars kommt sich vor, wie im falschen Film und weiß nicht, ob er mitlachen soll, oder ob die Typen jetzt gleich durchdrehen und ihm an die Gurgel gehen. Der Anführer wischt sich die Tränen aus den Augen, beugt sich leicht zu Lars hinab, der unruhig auf dem glatten Stuhl herumrutscht und dabei so weit nach vorne gleitet, dass er beinahe den Halt verliert. „Mann, Sie können einem echt leidtun. Nach Bayern, das ist in der Tat eine Tragödie“. Er schüttelt voller Mitgefühl seinen Kopf und klopft Lars mit einer Hand fest auf seine Schulter. „Tragen Sie es mit Fassung, Sie schaffen das schon! Aber es tut mir wirklich sehr, sehr leid für Sie. Das muss ein harter Schicksalsschlag für Sie sein“. Im Hintergrund fallen sich zwei Beamte in die Arme und schluchzen. „Ach Herrje, der arme Mann. Wie kann Gott so etwas zulassen? Nach Bayern!“ Sie greifen sich an die Köpfe und lassen sich auf ihre Stühle sinken. Lars starrt einen nach dem anderen an. Seine Blicke springen förmlich, wartend auf das, was noch alles kommen mag. Er ist mittlerweile fast wieder angezogen und hat wohl vergessen, wie man Schnürsenkel bindet. Er versucht es zwei, dreimal, bevor seine zittrigen Finger es fertigbringen, diese verdammten Schuhe an seinen Füßen zu befestigen.

„Na ja“, sagt Lars mit wieder ruhiger Stimme und ohne dabei zu schwitzen: „Das mit Bayern wird ja heute wohl nichts mehr. Sie werden mich ja nun wohl ins Gefängnis stecken, oder?“ Es ist sein voller Ernst. Dieser Tag wird im Gefängnis enden, morgen würde er dem Richter vorgeführt, und übermorgen feuert ihn Jebsen. Antje wird sich von so einem Versager trennen, und Dörte wird sich Zeit ihres Lebens für ihren peinlichen Vater schämen müssen. Er stülpt seine Unterlippe gegen die Oberlippe, so dass der Mund sich vorwölbt zu einem wortlosen: „ Tja, das war’s dann wohl!“

Der Beamte dreht sich zu seinen Kollegen und schreit urplötzlich los. „Den Flieger schafft er noch!“ Die anderen schauen ihn an und verstehen wohl nicht gleich. Noch weniger versteht Lars, was jetzt gerade geschieht. Der vorgewölbte Mund entspannt sich schlagartig und sein Kinn sinkt so weit hinunter, dass der Mund weit offen steht. „Auf geht’s! Nehmt seine Koffer und ab nach München! Harry, lass schon mal den Wagen an!“ Die Beamten lachen herzhaft. „Was soll jetzt auf einmal diese ausgelassene Stimmung?“ geht es Lars durch den Kopf. Die müssen doch verrückt sein. Der Gruppenführer packt Lars am Arm und zerrt ihn vor die Tür. Nicht vor die Tür, durch die sie ihn hineingeführt haben, sondern durch eine andere, nach draußen auf die Straße, wo ein gepanzertes Fahrzeug wartet. Einer wuchtet tatsächlich Lars‘ bleischwere Koffer in den Wagen, als wären nur federleichte Kissen darin. „Los, kommen Sie! Sie kriegen Ihren Flieger. Zur Strafe für die Panik, die Sie hier ausgelöst haben, müssen Sie nun gefälligst pünktlich nach Bayern. Daheimbleiben gilt nicht!“ Der Mann lacht, und sein Gesichtsausdruck hat sich von dem eines Schleifers zu dem eines Freundes gewandelt. „Zur Strafe“ hat er gesagt, blitzt es in Lars auf. Ja, das ist eine Strafe! Schlimm genug, heute noch dort hingeschickt zu werden. Und nun auch noch auf so eine lächerliche Weise: eskortiert von bis an die Zähne bewaffneten Polizisten, und jeder auf dem Vorfeld schaut zu, wie dieser Spinner nach Bayern abgeschoben wird. Gibt es denn kein Asyl hier für ihn? Kann man nicht gegen seine Abschiebung klagen? Hat man denn als Friese in Hamburg überhaupt keine Rechte?

Der Fahrer dieses Panzers haut auf das Lenkrad und lacht. „Mann! Wenn ich das heute Abend zu Hause erzähle“. Der Eskortierte fragt sich, wie und wem er, Lars der Depp, das wohl heute Abend erzählen sollte. Der Wagen hält direkt neben dem Flieger. Die Gangway wurde bereits zurückgezogen, die Tür vorne steht aber noch offen. Eine Treppe wird auf Rollen herbeigeschafft, und ein Mann mir knallroter Weste verstaut unter lautem Stöhnen Lars‘ Koffer hinter einer Klappe unter den Fenstern. Lars stolpert die Treppe hinauf und schaut nach hinten. Die Beamten winken ihm zu und rufen hinterher: „Halt den Kopf hoch! Es geht ja vorbei. Und denk dran, Ouagadougou wäre noch schlimmer gewesen“. Sie lachen und Lars fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Mann! Was hat er da für einen Spott auf sich gezogen.

Und nun muss er auch noch mutterseelenallein durch den ganzen Flieger hasten. Von ganz vorne, vorbei an den schon sitzenden Passagieren, die ihn anstarren. Einige klatschen, andere jubeln „Bravo!“ Er sitzt in der letzten Reihe auf dem letzten freien Platz. „Was für ein Pech aber auch“ ist sein letzter Gedanke, bevor Lars über den Schoß seinen Sitznachbarn auf seinen Platz in der Mitte zwischen zwei dicken Männern plumpst. „All doors in park“, klingt eine irgendwie schwul klingende Stimme aus dem Bordlautsprecher, während die Turbinen anlaufen.

Eingeklemmt zwischen diesen zwei schwitzenden Dicken, beginnt Lars‘ Körpertemperatur wieder zu steigen. Vor ein paar Stunden noch frische Nordseeluft, nun diese Mischung aus Kerosin und Schweiß. Er lässt den Kopf nach hinten fallen und fühlt eine unendlich tiefe Ohnmacht, die ihn ergreift. Kommt jetzt der Tod, um ihn endlich zu erlösen?


Hummer weiß-blau

Подняться наверх