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Servus Bayern

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„Sehr verehrte Gäste. Wir haben jetzt unsere Reiseflughöhe erreicht und beginnen in wenigen Minuten mit dem Bordservice. Wir hoffen, dass Sie sich wohl fühlen bei uns an Bord und wünschen Ihnen noch einen guten Flug nach München“. Da war wieder diese Stimme, hach!

Lars wird von der Durchsage geweckt und kommt langsam wieder zu sich. Er nuschelt halblaut „Sind wir schon da? Ich dachte, ich hätte das alles nur geträumt.“

„Wos is?“ bellt es vom Fensterplatz herüber.

„Was ist?“ Lars muss sich konzentrieren, um deutlich zu sprechen.

„Wos is, hob i frogt”. ,Es‘ spricht zwar, das Wesen neben Lars, aber was sagt es?

„Was ist denn?“ gibt Lars zurück.

„Mei1, des frog i di, wos is. Wos wuist dann?“ ,Es‘ spricht weiter.

„Was wollen Sie denn von mir?“ fragt Lars etwas ungeduldig.

„Ja Himmiherrgottsakrament! Des frog i doch di, du host do ofanga mit dera Fragerei“. ,Es‘ klingt zunehmend unfreundlich.

Lars schwant etwas. Das wird doch nicht etwa …? Nein, bitte bloß nicht, lass es nicht Bairisch sein, lieber Gott! „Sind Sie Bayer?“. Lars klingt, als wäre ihm die Frage etwas peinlich. Er wollte ja schließlich niemanden beleidigen.

„Jaaa-woi, des bin i!“ ,Es‘ musste wohl niesen, aber in seiner Sprache klang es nicht wie Haa-tschi, sondern wie Jaa-woi.

„Ich meinte, ob Sie Bayer sind, oder sowas?“

„Ja wuist mi verorscha, oder? Du redst vielleicht a saubläds Zeig.“ ,Es‘ wendet sich ab und schaut stur aus dem Fenster. Konversation Ende!

Oje, das kann ja heiter werden. Wenn die alle so reden, na gute Nacht. Lars legt den Kopf in den Nacken und verdreht die weit nach oben gerichteten Augen, um sein inneres Stoßgebet gen Himmel zu schicken. Dann wendet er sich seinem rechten Sitznachbarn zu und fragt „und wo wollen Sie hin?“

„Na Minga! Wohin dann sonst?“ murmelt es von dort zurück.

„Aha, nach Minga! Ist das weit weg von München?“ Endlich Konversation, denkt sich Lars.

Der Mann lacht und lacht, anstatt zu antworten. War wohl eine blöde Frage, denkt Lars. Scheinbar kennt jeder dieses Minga, nur er nicht.

„Hören Sie!“ tönt es sonor und deutlich betont zurück. Und überhaupt, Hören Sie!, wie bei Jebsen. Lars hört also zu.

„Minga und München is des selbe. Nur sagts Ihr da ohm München und mir Bayern song Minga. Weil mir meng koan Umlaut ned“. Der Mann spricht immerhin halb verständlich und ist jedenfalls freundlich bemüht, sich einigermaßen zu artikulieren.

„Na das geht ja gut los. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo es hingeht. Und aus mir soll ein Bayer werden.“ Lars hält die Hände vor sein Gesicht, um die Schande zu verbergen. Und seine Verzweiflung.

„Na des werd scho“. Der Mann lächelt wohlwollend und reicht Lars die Hand. „I bin da Woida – Pardon: der Wal-terr! Walter Ramsauer“.

„Ich heiße Lars. Lars Fischer. Ich komme von Sylt und bin auf dem Weg nach Holzerding. Kenne Bayern nur von Postkarten.“ Lars ist erleichtert, dass er nicht gleich gebissen wurde nach seinem Fauxpas.

„Dann bleibst am bestn wo’d hiegherst, Du Breznsoizer!2“. Es grunzt wieder von der Fensterseite herüber, den Blick aber weiter ins Himmelblau gerichtet. ,Es‘ verschränkt die Arme demonstrativ vor dem dicken Bauch, in dem man leicht ein Bierfass hätte schmuggeln können. Lars muss sich beherrschen, um keine Platzangst zu bekommen.

„Mogst ah?“ Walter stupst Lars leicht in die Seite, um ihn von dem Wesen an seiner anderen Seite abzulenken. Er hält Lars eine kleine Dose hin und fordert diesen mit einer Geste auf, zuzugreifen. „Is guad!“

„Was ist das?“ Lars rätselt und betrachtet das Döschen von allen Seiten, so dass ein dunkelbraunes Pulver herausrieselt. „Puh, das riecht aber streng.“

Walter lacht dezent. „Schmoizla, des is a Schmoizla. Schnupftabak! Mir sang Schmalz-lerr.” Er nimmt die Dose, lässt ein kirschkerngroßes Häuflein auf seinen Handrücken rieseln und zieht das Zeug in die Nase. „Mei, wie guad!“ Er reicht die Dose zu Lars rüber, stupst ihn an, weil der nicht gleich zugreift und sagt „Jedzad Du!“

Lars stellt sich etwas ungeschickt an und bringt dabei ungeschickterweise die doppelte Menge Pulver heraus. Zurück in die Dose will das Zeug aber nicht. Walter lacht. „Obacht!“

„Wie bitte?“

„Obacht! Aufgepasst!“ Walters rechter Zeigefinger ist wie ein riesiges Mahnmal nach oben ausgestreckt. „Vorsicht! Ned ois auf amoi“.

Lars versteht nur, dass er in Gefahr ist. Aber der Geist war aus der Flasche und das Zeug nun mal auf der Hand, und so schlimm wird es schon nicht sein. Ist ja auch nur Tabak. Mutig zieht er den Haufen in die Nase. Die rechte Hand krallt sich binnen Sekundenbruchteilen so stark in die Armlehne, dass die Fingernägel wohl Spuren im Lederbezug hinterlassen werden. Die andere Hand reißt an den Haaren. Lars‘ Gesicht ist verzerrt vor Schmerz. „Hilfe!“ Lars‘ Lunge füllt sich mit ungeheuren Mengen Luft und Unheil kündigt sich an. Die rechte Hand entkrampft sich und tastet nach irgendetwas, bis sie ein Taschentuch zu fassen bekommt, dass Walter eilig herüberreicht. Er hatte es schon parat, als Lars Anlauf nahm, die Prise zu inhalieren.

„Da, zum Schnelzen3,“ beeilt sich Walter, Lars aus seiner Notsituation zu erretten.

Der Nieser ist bis ins Cockpit zu hören, und Lars‘ Kopf knallt beim Niesen an den Vordersitz. Dann noch ein Nieser, und noch einer. Beim fünften geht Lars die Luft aus, und die Augen tränen heftig. Langsam beruhigt sich Lars‘ Atem und er schaut, glücklich noch zu leben, zu Walter herüber. Er sagt nur noch: „Na vielen Dank!“

Beide lachen und schauen zu dem Wesen am Fenster herüber, das nur „so was Bläds!“ grunzt. Das Taschentuch hatte beim Niesen übrigens nicht ganz dicht gehalten. Nur gut, dass ‚Es‘ den braunen Fleck am rechten Ellenbogen nicht bemerkt hat. Lars und Walter schauen sich an und lachen noch lauter. „Bläd sans! Beide!“ Es braucht keine Übersetzung. Lars ist schon klar, dass das kein Kompliment sein kann.

„So so, nach Holzer-Ding willst. Wo ist denn bitte dieses Holzer-Ding?“ Walter überbetont die erste Silbe des Ortsnamens auffällig.

„Na, da wo das Bier herkommt. Ratzinger Bräu!“ antwortet Lars.

„Mei, des hob i mir scho denkt. Du moanst Holz-Erding, ned Holzer-Ding. Aufgemerkt!“ Wieder Walters ausgestreckter Zeigefinger. Achtung Lektion!

„Ja ja. Holz-Erding also. Genau, das meine ich. Holz-Erding, ja.“ Lars gibt deutlich zu verstehen, dass er ein guter Schüler sein will und nach der Sache mit dem Schnupftabak - wie hieß der doch gleich wieder auf Bairisch? - seine zweite Lektion begriffen hat.

„Holzerding kenn i guad, sehr guad. Und wie lang fahrst da hi?“ fragt Walter.

„Weiß nicht, ich werde abgeholt“. Lars zuckt mit den Schultern.

Walter lacht und klopft sich mit den Händen auf die Oberschenkel. „Meiomei, wie soll des nur werden mit dir? I moan – pardon! – ich meine, wie lange bleibst Du dort in Holzerding?“ Walter spricht langsam und betont und nimmt dabei sogar die Hände zu Hilfe, wie bei der Gebärdensprache.

„Ach so! Zwei Jahre, also vierundzwanzig Monate“ erklärt Lars.

„Also bläd sammer ned, da in Bayern!“ Walter zieht eine von seinen buschigen Augenbrauen nach unten und die andere hoch.

„Äh, bitte? Was heißt blädsammaned?“ Lars weiß: Achtung nächste Lektion!

„Mir Bayern san ned bläd. Nicht blöd! Bei uns gehen die Uhren zwar langsamer, aber auch da hat das Jahr zwölf Monate“. Da war er wieder, der Zeigefinger.

„Tschuldigung!“ peitscht es aus Lars heraus, und er räuspert sich respektvoll.

„Passt scho!“

„Was?“ fragt Lars verwundert. Wie kommt der jetzt darauf?

„Wie moanst?“

„Was passt wem wie, gewissermaßen?“ stammelt Lars.

„Ach so!“ lacht Walter und verdreht die Augen etwas. „Des kannst ja ned wissen. Passt scho! hoaßt so vui wie: Is scho guad!“ Walter grinst, weil er weiß, dass er Lars damit erneut überfordert. Er fährt dann aber gleich fort. „Passt scho, also passt schon, heißt so viel wie Ist-schon-gut. Host mi?“

Lars wirft den Kopf ans Nackenpolster und hält sich beide Hände vors Gesicht, so dass sein Stöhnen nur stark gedämpft durch die Finger dringt. „Wie bitte?“ Er atmet tief ein und fährt fort. „Also, passt schon heißt, ist schon gut. Und dann, wie weiter?“

„Host mi?“

„Ja, genau. Hostmi!“

„Und? Host mi oder host mi immer noch ned?“ Walter lacht laut, und von links kommt nur wieder ein Bellen.

„Hoit’s Mei, Depp dammischer!4

Walter fährt ungerührt fort und bedeutet Lars „ach, loss do den oiden Bazi!“5

‚Es‘ dreht sich nun zu Lars und Walter herum, steckt die Hände in die unsichtbaren Hüften, so dass Lars noch mehr eingequetscht wird, atmet bedrohlich tief ein und öffnet langsam den Mund. „Wer is do a Bazi, bittschee, hä?“ Lars überlegt, lieber schnell unter den beiden hindurch zu verschwinden, denn es liegt plötzlich etwas in der Luft.

„Ah gäh, schleich di!“6 raunt Walter und winkt abfällig zu dem Wesen auf der anderen Seite.

,Es‘ wendet sich wieder dem Fenster zu und murmelt „ ja leck mi doch am Oarsch, Lackl, bläda!“.

„Also Lars“ fährt Walter fort „mir warn bei Host mi“.

„Äh ja, genau, Hostmi!“.

„Host mi, bedeutet Hast-Du-mich?“ Walter weiß, was jetzt kommen muss.

„Nein, ich hasse dich nicht. Warum sollte ich?“ Lars versteht nur noch Bahnhof. Was sollte diese Frage?

Walter lacht und klopft sich wieder auf die Schenkel. „Mei, was für a Gaudi“. Er wischt sich die Tränen aus den Augen und amüsiert sich offensichtlich besser als Lars. Walter setzt fort. „Na! Host mi? - also, Hast-Du-mich? - is die Kurzform von Hast-Du-mich-verstanden?“

Lars muss nun selbst lachen, laut genug, um das Wesen links wieder zu wecken. Aber ,Es‘ sagt diesmal nichts. Er wiederholt: „Host mi, Hast-du-mich-verstanden? Host mi?“ Und nach einer kurzen Denkpause: „Ja, jetzt hob i di!“ Lars war so stolz auf sich. Sein erster Ausspruch auf Bairisch. Beide lachen und versuchen, sich zu umarmen. Das wirkt aber etwas unbeholfen, da die Sitze nicht viel Platz dafür lassen.

„Meine Herren, was möschten Sie trinken?“ Da war wieder diese Stimme, nur diesmal kam sie von ganz nah. Lars schaut erschreckt nach oben und denkt leise für sich: „Klar doch, wusste ich es doch. Warum sehen eigentlich alle männlichen Flugbegleiter so aus?“

„Ähäm, ich möchte bitte ein Friesenpils“ antwortet er gefasst.

„Das hapen wir leiter nischt. Aber isch hätte ein frisches Ratzinger für Sie.“ Der Typ blickt fragend hinunter und wartet auf Lars‘ Antwort.

„Nein danke. Alles nur kein Ratzinger. Dann also einen, äh, Tomatensaft.“

„Mit Salz und Pfeffer nähme isch an? Da bitte schöön!“

Beim Herüberreichen des Bechers legt Lars Wert darauf, dass seine Hand keinen Kontakt zur Hand des Flugbegleiters bekommt. Irgendwie steht Lars auf etwas anderes. Er denkt plötzlich an Antje.

Die hat schon das Abendessen für Dörte gemacht und sich mit ihr ans Fenster gesetzt. Draußen ist es am Dämmern, und abends scheint die Sonne direkt in den Essbereich des großen Wohnzimmers. Antje legte stets Wert darauf, dass beim Essen der Fernseher ausblieb, damit er nicht ablenkt. Dörte würde sonst glatt das Abbeißen und Kauen vergessen und schließlich keinen Bissen herunterbringen. So bekommt Antje auch nichts von den Neunzehn-Uhr-Nachrichten mit. Man berichtet von einem Zwischenfall auf dem Hamburger Flughafen, einem falschen Terroralarm, und zeigt ein Amateurvideo, aufgenommen mit einer Handykamera. Lars wäre leicht zu erkennen gewesen, wie er dasteht, die Arme in die Höhe gestreckt, umzingelt von bis an die Zähne bewaffneten Grenzschützern.

Aber Antje ist mit ihren Gedanken schon längst draußen in den Dünen. Dort auf dem kleinen Parkplatz, auf dem man gut und unauffällig ein Wohnmobil abstellen konnte. Das Würstchen auf ihrem Teller vergleicht sie in Gedanken mit dem ‚Blanken Hans‘ und ist froh, dass Hans diesbezüglich viel besser ausgestattet ist. Sie schiebt sich das Würstchen langsam und lustvoll in den Mund, zieht es mehrmals langsam wieder heraus und verspeist es schließlich mit sichtlichem Vergnügen. Sie schaut Dörte an und beide lächeln sich zufrieden an, bis Dörte fragt “Wo ist Papa jetzt?“

„Tja, der ist noch in der Luft. Aber bald landet er in München, und morgen ruft er dich bestimmt an. Aber für heute ist es zu spät. Ab ins Bett! Schlaf gut!“ Antje gibt Dörte einen Kuss auf die Nase und einen Klaps auf den Po. „Zähne putzen nicht vergessen!“ ruft sie der Kleinen hinterher, die etwas traurig zum Bad hinüber geht und in die Luft haucht „Papa! Schlaf Du auch gut!“

„Verehrte Gäste, bitte klappen Sie jetzt Ihre Sitzlehnen und die Tische vor sich hoch, schalten Sie elektronische Geräte vollständig aus, und legen Sie die Sitzgurte wieder an. Wir landen in wenigen Minuten in München Franz-Josef-Strauß.“ Lars wird von der Stimme aus seinen Gedanken an Antje und Dörte gerissen. Er tut wie gefordert und schaut rüber zu Walter. „Tja, mir san bald da“ sagt er etwas wehmütig und versucht dabei wenigstens etwas bairisch zu klingen.

Und Walter nickt anerkennend zurück. „Ja, und dahoam is eben doch am scheenstn” freut der sich.

Beim Aussteigen lassen sich Walter und Lars reichlich Zeit und bleiben ruhig sitzen, als die ersten schon vor dem Erreichen der ‚endgültigen Parkposition‘ trotz Mahnung der Stimme aus dem Lautsprecher aufspringen, als wären sie nun schneller ‚dahoam‘. Das geht dem Wesen am Fenster aber alles prompt zu langsam. „Hätt mer‘s dann vielleicht amoi? Wos hockts da noch auf eire Ärsch? Auf geht’s, pack mer‘s!“.

Lars ist fasziniert von dem Wesen. Ein Bayer wie Walter, und wenn ‚Es‘ ihn jetzt fragen würde „Host mi?“ würde Lars einfach antworten: „Nein, kein Wort! Was wollen Sie bitte? Können Sie auch Deutsch?“ Aber Lars lässt ihn murmeln und überlässt Walter eine Antwort. Der braucht dafür auch nicht lange.

„Oida Grantla7, oida.“

Walter hat nur Handgepäck dabei und verschwindet kurz nachdem die Türen sich öffnen. Aber nicht ohne Lars noch einmal herzlich zu umarmen. „Ois guade, Lars! Machs guad und pfiät Di Gott!“8

Lars hätte gerne nachgefragt, was Walter damit sagen wollte, aber irgendwie versteht er es auch so. Er ruft Walter noch hinterher: „Danke! Danke für alles. Auf Wiedersehen!“

Da ist sie wieder, diese Einsamkeit, die Lars am Hamburger Flughafen verspürte, nachdem Antje ihn dort einfach zurückließ. Aber diesmal war er zumindest eine Station weiter. Er hatte schon zwei Bayern kennengelernt. Einer, der genauso war, wie er sich Bayern vorgestellt hatte. Nur den Namen des Wesens hat er nicht erfahren. Und da war Walter, ein unerwartet netter Typ. Na vielleicht gibt es ja noch mehr davon. Lars atmet tief durch und geht zu den Gepäckbändern. Nach einer Weile der Warterei in dem hektischen Gedränge kommen seine Koffer auf dem Band vorbei. Er kann sie kaum herunter wuchten, ohne sich die Bandscheiben zu stauchen. Punkt zwanzig Uhr lässt Lars den Zollbereich hinter sich und betritt nun offiziell zum ersten Mal in seinem Leben bayerischen Boden.

(Auf nach Holzerding!)

Herr Lars Fischer, Fa. Gschwandtner. So steht es auf einem Schild, das ein baumgroßer Kerl in Tracht hoch über seinen Kopf hält. Lars bekommt einen Schreck. Er wusste, dass ein gewisser Herr Meier ihn abholen wollte, hatte aber keinen Bodyguard erwartet. Der Typ ist einen halben Kopf größer als er selbst und misst wohl leicht zwei Meter in der Höhe und wohl genau so viel in der Breite. Sein Hut beeindruckt Lars, denn ein riesengroßer Rasierpinsel schmückt ihn. Wozu er den wohl braucht? Denn der Vollbart lässt vermuten, dass er sich seit Jahren nicht rasiert hat. Und wie hält überhaupt der Schnurrbart seine ausladende Position?

Der Kerl steht breitbeinig da und schaut grimmig auf die ankommenden Fluggäste. Seine Beine sind zu drei Vierteln, bis unter die Knie, mit Lederhosen bedeckt, und sein Waden sind im Durchmesser keinen Millimeter dünner als Lars‘ Oberschenkel. Mein Gott, was für ein brutaler Typ. Gut dass er mich nicht kennt, denkt sich Lars, so kann ich vielleicht an ihm vorbei und mit dem Taxi nach Holzer-Ding – Pardon: Holz-Erding! – fahren. Morgen sage ich, dass ich ihn im Eifer des Gefechtes übersehen habe. Lars ist so fasziniert von dieser Naturgewalt, dass er ihn einen Moment zu lange fixiert und dessen Blick einfängt. Der Troll lächelt prompt zurück, nimmt das Schild herunter und läuft wie in Siebenmeilenstiefeln mit gewaltigen Schritten auf Lars zu. Der glaubt, die erdbebenartigen Bodenschwingungen mit seinem ganzen Körper wahrnehmen zu können. Der Riese streckt seine rechte Pranke schon von weitem aus. Zu spät, jetzt gibt es kein Entkommen mehr, geht es Lars durch den Kopf.

„Mayr! Mayrsepp. I bin der Mayrsepp, un Sie san bestimmt der Herr Fischer aus Hamburg.“ Die Stimme dieses Menschen passt perfekt zu seiner Furcht einflößenden Statur. Der bräuchte ganz bestimmt keinen Lautsprecher, um im Terminal eine Durchsage machen zu können, die man noch auf dem Vorfeld würde hören können.

„Fischer. Ja, Lars Fischer. In der Tat, ja, das bin ich. Aber nicht aus Hamburg bitte. Sylt! Ich lebe, äh, lebte auf Sylt, nicht Hamburg, bloß nicht Hamburg.“ Lars hat einen Frosch im Hals. Jetzt bloß nichts Falsches sagen. Er hatte bestimmt schon jetzt ein Wort zu viel gesagt. Lars reicht dem Meiersepp vorsichtig die Hand, in der Hoffnung, dass der sie ihm nicht zerquetschen würde. Er könnte sie bestimmt leicht zermalmen, ohne es überhaupt zu bemerken. Doch der Händedruck erweist sich als durchaus gefühlvoll. Die Spannung löst sich etwas, und beide schauen sich mit einem sympathischen Lächeln in die Augen.

„Schee, dass Sie da san, und pinktli ah no. Derf i eana Gepäck nehma?“ Lars versteht kein Wort, aber der Meiersepp greift mit seinen Pratzen nach Lars‘ Koffern und klärt die Situation, bevor der überhaupt nachfragen kann.

„Ja, gerne. Danke schön, Herr Meier!“ bedankt sich Lars, der froh ist, das Gewicht nicht selbst schleppen zu müssen.

„Mei, san die leicht, ham‘s goar nix drin, oda? A Badehosn vielleicht.“ Der Meiersepp lacht und geht voran. Lars folgt seinem Sherpa wortlos. „Wie war eana Flug, Herr Fischer?“ Der Mann macht trotz der Koffer so große Schritte, dass Lars rennen muss und fast etwas außer Atem gerät.

„Danke der Nachfrage. Der Flug war, äh, sehr interessant und lehrreich. Nur der Abflug war etwas kompliziert. Es gab Schwierigkeiten am Hamburger Flughafen. Irgend so ein falscher Alarm.“ Die peinliche Situation in Hamburg geht Lars in Sekundenbruchteilen noch einmal in allen Details durch den Kopf. Oh Mann, dass er jetzt überhaupt hier ist. Das sah vor wenigen Stunden noch nach einem ganz anderen Tagesablauf aus.

„Ajo, i hob‘s gseng, in die Nachrichten. Die Buidl von dem Deppn hat mer iberoi im Törminal auf‘d Buidschirm gseng. So a Depp, so a saubläda!“ Der Meiersepp schüttelt den Kopf, so dass ihm beinahe sein Rasierpinselhut vom Hopf fliegt. Lars versteht nur „Depp und saublöder“, mehr will er auch gar nicht wissen. Er ist einfach nur froh, dass dieser Bayer ihn nicht wiedererkannt hat.

„Ja, wirklich unglaublich, nicht wahr? Wie saublöd Menschen doch sein können.“ Um von dem Thema möglichst schnell abzulenken, setzt er nach: „Wie lange werden wir nach Holzerding fahren?“ Er ist heilfroh, dass er jetzt weiß, wie der Ort korrekt ausgesprochen wird, um schon mal den ersten Fauxpas zu vermeiden.

„Mei, wemma a Gas gehm, vielleicht oanahoib Stundn. Jedzad is koa Stau ned9, da is guad fahrn.“

„Aha“ sagt Lars halblaut, obwohl er kein Wort versteht. Meine Güte, denkt er, dieser Unhold hat keine Ahnung, dass normale Menschen ihn vielleicht nicht verstehen könnten. Aber er fasst Mut und traut sich, nachzufragen.

„Äh, entschuldigen Sie, Herr Meier, aber mein Bairisch ist noch verbesserungsbedürftig. Wenn ich Sie bitten dürfte, äh, Sie täten mir einen Gefallen, wenn Sie ...“ Lars zögert weiterzureden, da er den Burschen nicht irgendwie beleidigen will. Wer weiß, wie der reagieren würde. Denn eigentlich redet der doch auch Deutsch, oder? Ist Bairisch10 eigentlich ein Dialekt, oder eine fremde Sprache? denkt sich Lars.

„Ajo! Stimmt ja. Mei, i bin ja bläd. Sie san ja ned von do, äh, ich meine, Sie-sind-ja-nicht-von-da“. Der Mann gibt sich wenigstens Mühe, sagt sich Lars unhörbar leise. Mal schauen, wie lange der das durchhält. „Also, i denk, mir brauchen so etwa eineinhalb Stunden. Jedzad is kein Stau nicht, und mer kummt ganz guad durrch“. Das letzte Wort geht Lars im wahrsten Sinne des Wortes durrch und durrch.

„Das ist gut, denn ich habe Hunger und Durst, und müde bin ich auch“ antwortet Lars erleichtert über die nun flüssiger laufende Konversation mit diesem Alien.

„Mei, da san‘s bei uns grad recht. Mir ham a guads Bier, a bairischs, und guad essen is eh bei uns. Ajo, scho wieda vergessen,“ murmelt der Bayer, „‘tschuldigen‘s, ich meine, mir ham ein gutes Bier und ein gutes Essen, da in Bayern. Mir griang‘s scho satt, keine Sorge nicht“. Er schaut Lars an, verständnisvoll, wohlwollend und mit dem beruhigenden Lächeln eines gütigen Vaters.

„Ja, auf Ihr Bier bin ich schon gespannt. Habe schon viel davon gehört. Sowohl was das Bier, als auch, was die Trinkgefäße anbetrifft.“

Der Riese lacht, dass der Boden zu beben scheint und setzt nach. „Ajo, Sie moana die Masskriagerl. Masskrüge11, wollte ich sagen. Ihr da oben habts ja nur soichana Finkennapferl. Des schnupf mer hier einfach so auf,“ spottet es aus dem Bayern nur so heraus während er weiterrennt.

„So, da steht mei Automobil.“ Der Riese stellt die Koffer hinter ein Gefährt, das mehr an einen Unimog erinnert, als an ein normales Auto. Es beeindruckt Lars mächtig, wie der Mann mit einer Hand die bleischweren Koffer mit einem lässigen Schwung über die Ladekante auf ihren Platz wuchtet und den Deckel des Kofferraums zuknallt, während Lars die großen Reifen und deren Profil betrachtet. Ob das nicht doch eher ein Traktor ist?

„Allrad, nicht wahr?“ sagt Lars, um etwas zu sagen.

„Mei, sonst kummst ja ned die Berg auffa. Da liagt a Schnee bis weit in den Mai hinei“, erklärt der Meiersepp, und sein Zeigefinger erinnert Lars an den von Walter. Aus den Wortfetzen Berg, Schnee und Mai reimt er sich den Sinn der Lektion zusammen und gibt mit einem deutlichen Nicken zu verstehen, dass er kapiert hat.

„Na dann kann uns ja nichts passieren. Also los, auf nach Holzerding!“ Lars klatscht in die Hände, öffnet die Beifahrertür und schwingt sich, zu allem entschlossen, auf seinen Platz. Ob sich Ludwig der Sechzehnte auch so gefühlt hat, als er vom Mob auf die Guillotine geführt wurde?

Nachdem der Riese am Lenkrad, der so groß ist, dass er selbst in diesem Unimogtraktorfahrzeug den Hut abnehmen muss, um nicht oben anzustoßen, den knorrigen Boliden startet, dreht er sich zu Lars herum, reicht ihm nochmal seine Pratze und sagt: „Übrigens, bitte sang‘s doch Sepp. I bin da Sepp. Mayr sagt eh koana. I bin schon zwanzg Jahr beim Gschwandtner und koana sagt Mayr. Mayr ohne Eh, ibrings.“ Er lächelt, so dass sich seine Schnurrbartspitzen nach oben biegen.

Lars zögert erst eine Schrecksekunde lang, bevor er reagieren kann, und denkt darüber nach, wie man Meier ohne „E“ schreiben soll. „Äh, ja gerne. Und ich bin der Lars. Freut mich, Sepp Meier ohne E,“ stottert es aus ihm heraus. „Äh, wie geht das denn eigentlich?“

„Wos?“ wundert sich Sepp und vergisst dabei ganz, Lars‘ Hand loszulassen, die er immer noch herzhaft schüttelt.

„Ich meine Meier ohne E. Da bleibt doch nur noch Mir übrig.“

„Also,“ sagt Sepp mit dem anscheinend typisch bairischen Zeigefinger, „Es gibt da bei uns vor allem den Mayer mit Em-A-Ypsilon-E-Rr und den Meyer mit Em-E-Ypsilon-E-Rr und eben den Mayr mit Em-A-Ypsilon-Rr. Außadem hammer no andere mit ohne Ypsilon und so. Und i bin eben oana mit Em-A-Ypsilon-Rr. Also ohne E. Host mi?“ Nach dieser Buchstabierarie holt er erst mal tief Luft und zieht dabei seine buschigen Augenbrauen hoch bis zum Haaransatz. Lars ist froh, jetzt nicht nachfragen zu müssen, was Hostmi heißt. Danke Walter! Lars nickt, „alles klar, Sepp Mayr!“ Dafür ist er zufrieden, dass sein Einstieg bei diesem Riesenburschen, vor dem er sich vor einer Viertelstunde noch fast gefürchtet hatte, doch irgendwie ganz gut zu gelingen scheint.

Sepp legt den Gang ein und greift mit beiden Händen das Lenkrad, als wollte er es abreißen. „Pack mer‘s, dass noch was zum Essen giabt. I ruaf bessa den Randlwirt an, dass er die Kichn ned zua mocht.“ Zu Lars‘ Verwunderung steckt Sepp ein topmodernes I-Phone 6 in die Halterung der Freisprechanlage und nach ein paar Wischern fängt es auch schon an zu klingeln.

„Servus, Du oida Bazi! Wos giabt‘s?“ raunt es aus dem Lautsprecher.

„Selba Bazi, oida! Hör zu, i kum heid Ohmd no mit eam Gast, der an Hunger hat un an Durscht. Der neie Chef von Gschwandtner. Hob i dir do verzählt. Mir san so geng Zehne bei dir. Haust no was Guads aus der Kichn naussa!“ Lars ist einigermaßen ratlos und verzweifelt. Wie soll er sich nur mit diesen Einheimischen verständigen. Kein Wort hat er mitbekommen. Na ja, vielleicht Hunger und Durscht. Das reicht erst mal für den Moment.

„Is guad, aba schaugst das beikimmst, spat is scho. Hau eini! Servus!“

„Bis glei, Servus!“ Sepp legt auf. Lars fragt sich, wieso man eigentlich immer noch ‚Auflegen‘ sagt, wo man doch eigentlich nur noch über die Oberfläche dieser kleinen elektronischen Helfer wischt. ‚Aufwischen‘ müsste es eigentlich besser heißen. Lars muss über seinen eigenen Witzgedanken lachen.

„Schau amoi da, Lars” sagt Sepp und zeigt mit der Hand auf ein rotes Raumschiff neben der Autobahn.

„Wow, die Allianzarena! Mann, die sieht ja noch geiler aus als im Fernsehen. Wenn mal Außerirdische kommen, dann landen sie bestimmt hier.“ Lars steht der Mund offen, und er dreht den Kopf bis über die Schultern nach hinten, um den Anblick dieses leuchtenden Ufos so lange es geht auszukosten.

„Na woaßt, da FC Bayern spuit ja a außerirdisch“ setzt Sepp nach und amüsiert sich prächtig über seinen Gag.

„Also Lars, hör amoi zua! I verzähl dir mo wie’s jedzad weidageht, heid und moing, äh morgen, bevor dass es dann übermorgen losgeht im Betrieb.“ Er schaut zu Lars rüber und wartet dessen zustimmendes Nicken ab.

Der ist sich aber nicht so ganz sicher, ob er den Tagesordnungspunkt richtig versteht, aber aus Heit, Morgen und Übermorgen lässt sich wieder einigermaßen Sinn herleiten, so dass er nicht weiter nachfragt. „Okay, ich höre“ antwortet Lars und setzt sich aufrecht, wie zum Apell. „Aber bitte, Sepp, auf Deutsch!“ legt er nach und zeigt den bairischen Zeigefinger, um besser verstanden zu werden. Danach rutscht er wieder in eine gemütlichere Sitzposition, so dass seine Knie fast am Armaturenbrett anstoßen und er den Kopf entspannt hinten ablegen kann.

„Schau mer mal, wie‘s geht,“ legt Sepp los und versucht sich so gut es geht auf eine für Wikinger verständliche Aussprache zu konzentrieren. „Also, nach dem Essen, schaust dir deine Wohnung an. In am scheena Haus, des dir gfoin weard12. Da hast an sehr netten Nachbarn.“ Sepp schaut herüber zu Lars und setzt nach: „Da Schorsch! Des is a guada Spezi von mir. Der wohnt da mit seiner Frau Vreni und den Buam. Da Waschtl und da Seppi. Der Kloane is nach mir benannt, un i bin da Taufpate.“ Er dreht seinen Kopf zu Lars und versichert sich, dass Lars folgen kann: „Host mi, bis do?“

„Kein Problem. Ich kann folgen. Der Schorsch trinkt mit seiner Frau und seinen Jungs deine Spezi. Macht zwar noch keinen Sinn für mich, aber ich blick schon noch durch,“ fasst Lars zusammen, was er bis jetzt mitbekommen hat.

„Na, a Spezi is a guada Freind,” korrigiert Sepp verständnisvoll und geduldig, „und a Limonade fei13 ah!“ muss er konzedieren.

„Ach so, Okay, kapiert!“ Achtung Lektion! Lars fügt mit andeutungsweise bewegten Lippen tonlos hinzu „Scheiß Fremdsprachen!“ und fährt sich mit der rechten Hand durchs Haar während er den Blick zum Beifahrerfenster hinaus lenkt.

„Morgen is koa Zeit ned zum Ausschlaffa. I hol di um Punkt Neine ob, weil …“ und er macht eine Pause, als würde jetzt etwas sehr wichtiges folgen. Lars spitzt die Ohren.

„Weil?“

„Weil morgen der neie Maibaum aufgstellt wird. Da kummt ois un a jeda.“

„Wer kommt wohin?“ fragt Lars nach.

„Na, der ganze Ort und eben alle, die Du kenna lerna musst. Verstegst?“

„Wieso verstecken, was denn?“ Lars kommt einfach nicht mit und zweifelt an seinem Verstand.

„Wieso vastecka? Was moanst dann damit?“ Jetzt ist Sepp aufgeschmissen.

„Na, Du hast doch gesagt ‚versteckst‘. Aber was?“

Sepp fast sich an die Stirn und schmunzelt. „Verstegst hoaßt: Verstehst. Genauer gsagt: Verstehst Du! Das Verb lautet: Versteng. Verstegst mi jedzad?“

„Verstang!“ Lars ist sich sicher, das Partizip Perfekt von ‚Versteng‘ damit perfekt hergeleitet zu haben, erntet damit aber nur ein Kopfschütteln.

„Guad, verstandn hast oiso.“ Sepp fährt mit der morgigen Agenda fort. „Oiso, wer kummt? Der Herr Bürgermeister Stoiber, der Herr Prälat Huaba, der Herr Schützenmeister Stangl, der Randlwirt, denst heit no kenna lerna wirst, der Gschwandtner Karl, der Feierwehrhauptmann Schober, der Schuidirektor Gwaltinger und …“ – Sepp macht eine Pause, als komme jetzt eine Überraschung – „und der Ratzinger.“ Sepp zieht wie zu seiner Rechtfertigung die Schultern hoch und spricht weiter. „Ohne den Ratzinger geht in Holzerding gar nix. Da musst di dro gwehna.“

Lars wiederholt, um zu signalisieren, dass er folgen kann, und um sich die Namen besser einzuprägen: „Der Bürgermeister heißt Stoiber, der Prä-was?“ unterbricht er sich selbst und zieht dabei die Stirn in Falten.

„Der Prälat. Des is, ja wie soll i song, a Pfarrer hoid“ klärt Sepp ihn auf.

„Nur heute?“ fragt Lars irritiert nach.

„Na. Immer! Wieso?“ Jetzt kommt Sepp nicht mehr mit.

„Du hast doch gesagt: Heut!“

„Ach so!“ Sepp kann aufklaren. „Hoid hoaßt ned heut, sondern halt“. Er schaut Lars keck an und komplettiert die Lektion mit: „Ein Pfarrer, halt“.

„Okay, also der Pfarrer heißt Hu-A-Ba, der Schützenmeister ist der Stangl, und der Wirt heißt Randl. Verstang!“ Sepp verdreht die Augen und lässt Lars fortfahren: „Der Feuerwehrmann heißt Schober und der Direktor der Schule Gwaltinger. Okay. Und die sind alle wichtig, auch verstang!“ Es ist spät, und Lars muss sich ziemlich zusammenreißen, um sich alles zu merken. „Und was tun die morgen schon so früh?“ Lars klingt ein wenig genervt von dieser Informationsarie und kann seine Müdigkeit nicht länger verbergen, als er dem Drang, herzhaft zu gähnen, nachgibt.

„Na, morgen is der erschte Mai. Da stelln ma an Maibaum auf.“ Sepp fragt sich innerlich, ob man so etwas woanders vielleicht gar nicht kennt, und murmelt leise hinterher „außa s’ham ean wiada gstoin.“14

„Äh … Gestein?“ Lars traut sich kaum, den Zusammenhang zu ermitteln, aber dieser Satz macht einfach keinen Sinn für ihn.

„Gstoin hoaßt ned Gestein, sondern ge-stoh-len!“ Nie hatte Sepp einen begriffsstutzigeren Touristen vor sich.

Lars schaut ihn nur ungläubig an, fragt aber nicht, wer einen Baum stehlen sollte. Aber vielleicht hat er das auch wieder nur falsch verstanden. Er lässt es gut sein.

„Des is des wichtigste Fest im Ort. Da musst di zeing als der neie Chef von Gschwandtner. Alle Kunden wern do sein, verstegst?“

„Na klar. Versteckt.“ Lars grinst Sepp an, denn er hat schon kapiert, dass es nicht ‚verstang‘ heißt. Bairisch kann sogar ein ganz kleines bisschen Spaß machen. „Morgen früh geht’s also los!“ Lars hatte sich eigentlich auf einen freien Maifeiertag gefreut, bevor es in der Firma los geht, und es graut ihm reichlich davor, unausgeschlafen und schutzlos diesen Bayern ausgesetzt zu sein.

„Da schau! Die Berg, da rechts!“ Sepp zeigt rechts aus dem Beifahrerfenster heraus.

„Ich sehe nichts. Es ist dunkel.“ Lars drückt die Nase an die Scheibe, sieht aber nur schemenhafte Umrisse am finsteren Himmel.

„Aber i sog dir, die Berg san trotzdem da.“ Er grinst und fährt fort. „Na, moing siehst’s bessa.“

Die beiden sitzen nun eine Weile wortlos nebeneinander und Lars gehen Bilder vom nächsten Tag durch den Kopf. Klar wie ein Film in HD-Qualität. Sepp und der Pfarrer reißen irgendwo einen Baum aus, und der Bürgermeister rammt ihn mit dem Wirt in den Boden. Und der Feuerwehrhauptmann gießt ihn, angeleitet vom Schuldirektor mit seinem C-Strahl, damit er wieder gut anwächst. Das ganze Dorf jodelt bei dem Anblick, wirft die Rasierpinselhüte in die Luft, stößt mit zig Litern Bier von Ratzinger immer und immer wieder darauf an, bis eine Rauferei losgeht. Und er mittendrin, „versteckt“ überhaupt nichts, kriegt schließlich eins auf die Nase und geht zu Boden. In seiner Ohnmacht träumt er von Antje, die traurig allein zu Hause sitzt und auf seinen Anruf wartet.

Dass sie in diesem Moment gar nicht traurig ist, sondern sich in einem schicken Wohnmobil neben dem Haus intensiv mit dem ‚Blanken Hans‘ beschäftigt, Maß nimmt und mit dem armseligen Würstchen vom Abendessen mit Dörte vergleicht, muss Lars ja nicht erfahren. Antje ist im besten Sinne des Wortes gut in Form. Gut, dass das Mövengeschrei die Laute aus dem Wohnmobil übertönt, und der Wind wegbläst, was davon übrigbleibt. Während sie, stabil auf beide Arme gestützt, aus dem Fenster auf das Meer blickt, stellt sie sich vor, dass der Lover, der sich hinter ihr alle Mühe gibt und sich dabei mit den Händen auf ihren Rücken stützt, so ein animalischer Barbar aus Bayern wäre. Die Vorstellung von einem wilden Rindviech bleibt nicht ohne Reiz auf Antje, die anfängt wie wild ihre Euter zu schütteln. Als ihr auch noch ein lautes „Muh“ entfährt, versteht Hans die Aufforderung und macht ihr so richtig den Stier.

Als Lars wieder die Augen aufmacht, hört er die Worte „So, mir san da. Mahlzeit!“ Lars sammelt sich und klatscht sich mit beiden Händen auf die Wangen, um wieder ganz wach zu werden. „Gut, ich habe Hunger und Durst, Pardon! Durscht.“ Er lächelt und macht sich Mut für das was kommt.

Ein Mann stürmt aus dem Lokal. Über der Eingangstür steht in verschnörkelten Buchstaben der Name „Randlwirt“. Ein kleines rundes Etwas bleibt im Lichtschein des Unimogtraktorfahrzeugs stehen, stemmt die Fäuste in die Hüften, und wartet darauf, dass Lars und sein Chauffeur endlich aussteigen. Das Gesicht des Mannes lässt eine freundliche Begrüßung nicht unbedingt erwarten. Lars holt Luft und öffnet die Tür. Er achtet darauf, nicht vor Sepp auszusteigen. Wer weiß schon, was dieser Fiesling ihm tun würde.

(Mahlzeit I)

„Jo Himmiherrgottherrschaftszeitnkruzitürkenzefix15. Schaugts amoi auf‘d Uhr! Es san scho Zehne un da Koch is scho weg. Da leckts mi do am Oarsch, Ihr Saubazis!“ Das Gewittergrollen hat sich zuvor nicht wie üblich durch einen Blitz angekündigt, es kann sich aber nur um ein Gewitter handeln. Die sind in den Bergen wohl gewaltiger als an der Küste, denkt sich Lars.

„Jedzad reg di mal wieder ab, Randl! I hab dir den Neien vom Gschwandtner brocht“ beruhigt Sepp den Bergtroll und zieht Lars am Ärmel aus seinem Windschatten heraus, um ihn vor den Donnerwirt zu führen. Achtung, der beißt garantiert, denkt sich Lars. Und das wohl so laut, dass Sepp es hören kann. Der setzt prompt einen drauf: „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Wenn’s passt, dann passt’s eben! Lars ist beruhigt und stellt sich brav vor.

„Guten Abend, Herr Randl, mein Name ist Lars Fischer von der Firma Fries … äh … Gschwandtner.“ Das ging ja gerade nochmal gut, fährt es Lars durchs Hirn. Denn hier ist er ohnehin ein Exot, da muss man sich ja nicht gleich als vermeintlich feindlich gesonnenen Eroberer aus Friesland outen. In der Tat kann ja der Bayer bekanntlich nicht zwischen Friesen, Wikingern und Eskimos unterscheiden.

„Hmm …“ brummt es aus dem schrotigen Wirt heraus. „Dann kimmst hoid eini, Du Kniabiesler!“16 Lars ist zwar nicht in der Lage, diese Laute zu dechiffrieren, aber die eindeutige, wegweisende Armbewegung der rundlichen Kreatur lässt keinen Auslegungsspielraum zu. Das war keine Einladung, eine freundliche schon gar nicht, sondern ein Befehl.

„Danke!“

„Hmm …“

Sepp geht Lars voraus. Der Fleischklops folgt hinten, und Lars glaubt, dessen übelriechenden Atem in seinem Nacken spüren zu können. Man hört das Dröhnen einer Menschenmenge schon vom Parkplatz vor dem Haus, und tatsächlich, der Laden ist voll bis unter die Decke. Morgen ist Feiertag, und da findet der Bayer beim Vorabendsaufen natürlich so schnell kein Ende (nicht). Lars bietet sich ein Bild, wie er es schon einmal im Fernsehen gesehen hat, bei einer Reportage aus dem Hofbräuhaus. Hier beim Randl sieht man vor allem sehr viele Männer und nur ein paar Frauen. Fast alle tragen eine Tracht und den Rasierpinselhut auf dem Kopf. Einige haben die Jacke über den Stuhl gehängt und die Ärmel hochgekrempelt, so dass man gut ihre starken, bestens trainierten und behaarten Arme sehen kann, mit denen Sie volle und weniger volle Blumenvasen in die Höhe stemmen. Das Klirren der Gläser und das Brüllen der Männer, ergibt eine Ohren betäubende Geräuschkulisse, die Lars auf sich wirken lässt. Er hatte so viele Saufgelage auf Sylt erlebt, mit Wein, Weib und Gesang, aber das hier übertrifft seine kühnsten Vorstellungen. Sepp geht zielstrebig zu einem Tisch in einem kleinen menschenleeren Nebenzimmer und rückt Lars einen Stuhl zurecht.

„Hmm …“ brummt der Wirt und bedeutet Lars, sich gefälligst hinzusetzen. „Gerdi!“ schreit er mit aller Kraft seines gewaltigen Resonanzkörpers, so dass Lars zusammenzuckt. „Gerdi, bringst dem Preissn des Essn aus‘d Kichn. Es steht warm aufm Herd. Un drei Mass bringst ah!“ Mit deutlich reduzierter Stimme fragt er Lars „wos wuist’n essa un tringa, Don Giovanni?“ Der Wirt mag wohl Lars‘ Frisur nicht, dessen Erscheinung ihn möglicherweise zu sehr an einen Skilehrer erinnert. Lars schaut Hilfe suchend zu Sepp und bittet ihn wortlos um eine Übersetzung.

„Er fragt, was Du essen und trinken willst“ klärt Sepp ihn auf.

„Am liebsten Fisch, Seezunge oder Hummer.“ Er zögert etwas, denn er muss, ohne eine Speisekarte vor sich zu haben, überlegen. „Gerne auch ein Lammfleisch oder einfach Bratkartoffeln mit Krabben. Was gerade da ist. Und ein Pils bitte!“ Lars ist sich sicher, dass der Wirt schon etwas Passendes da haben würde, doch der grinst nur über das ganze kugelrunde Gesicht, das wie bei Sepp von einem gewaltigen Schnurrbart verziert wird. Bloß dass dieser Brummschädel oben von einer perfekten Glatze dominiert wird, und das Kinn keinen Bart zu tragen hat. Lars lächelt freundlich zurück und orientiert seine Blicke an Sepp, der ähnlich unverschämt dreinblickt, wie der Troll. „Na Mahlzeit!“

Gerdi, eine Bedienung wie aus dem Bilderbuch, kommt hinzu. Zwei Kinderbadewannen voll Bier in der Linken und eine in der rechten Hand. Sie rammt das Glas so auf den Tisch, dass Lars der Schaum auf die Hand spritzt. Mist, Servietten Fehlanzeige, also an die Hose damit. Und ein Pils ist das bestimmt auch nicht, vermutet Lars richtig. Sepp und der Wirt reißen die Gewichte hoch, lassen ihre Gläser aneinander krachen, dass sie laut klirren, aber ohne dabei zu zerbersten, was sie nach Lars‘ Einschätzung und Erfahrung eigentlich hätten tun müssen. Lars greift beherzt nach seinem Glas und muss prompt nachfassen, weil er es nicht gleich hochbekommt. Die Bayern bemerken seine Ungeschicklichkeit und zwinkern sich heimlich zu. Lars nippt an dem Glas und achtet darauf, dass dabei nicht die Hälfte an seinem Kinn entlang ins Hemd rinnt. Hochkonzentriert und nicht vollends vom Geschmack dieses Gesöffs überzeugt, stellt er mit beiden Händen und vorsichtig das Glas auf den Tisch und schaut zu seinen Tischgenossen. Seine Augen weiten sich, und der Mund öffnet sich einen Spalt, ohne dass Worte aus ihm hätten kommen wollen. Sepp und die Rundkugel sind gerade dabei, ihre Gläser in einem Zug auszutrinken. Mit zwei heftigen Schlägen lassen beide fast gleichzeitig die leeren Krüge auf den Tisch knallen und ihren Kehlen entströmt ein lauter Ausdruck offensichtlichen Wohlbefindens: „Aah. Hopfn un Moiz, Gott erhoit‘s!17“ Die beiden wischen sich den Schaum vorsichtig mit ihren Ärmeln aus den Bärten. Lars fühlt sich ganz klein und würde am liebsten unter dem Tisch verschwinden, als er sein Glas anschaut. Außer etwas Schaum fehlt nur wenig von dem Liter Inhalt. Es ist sogar noch mehr drin, als bei einer frisch gezapften Wiesnmass, die ja bekanntlich nicht bis zur Eich gefüllt wird. Das fällt natürlich sofort auch den beiden einheimischen Kampftrinkern auf, die eine Speiseröhre zu haben scheinen, dick wie ein Abwasserkanal.

„Wos is jedzad? Trinkst neda?” herrscht der Wirt Lars ungeduldig an. Der fühlt sich mächtig unter Druck gesetzt, mitzuhalten und sich bloß nicht zu blamieren. Lars tut, was er kann, aber auch nach gefühlten Minuten will sich das Glas nicht merklich neigen, und er stellt es, sichtlich erschöpft, noch gut halb voll wieder ab. Der Schaum reicht Lars von einem Ohr zum anderen. Er wischt ihn sich, so wie er es bei Sepp und dem Wirt beobachtet hat, mit dem Hemdsärmel ab und stößt ein einigermaßen gut imitiertes „Aah“ aus.

„Hmm …“ brummelt der Randl, als scheint er zu überlegen, ob Lars die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Der ist froh über die Ablenkung, als die stämmige Gerdi zwei Teller bringt. Als sie je einen vor Sepp und einen vor Lars abstellt, kommt sie Lars mit ihrem ausladenden Dekolleté so nahe, dass er das Gefühl bekommt, in eine tiefe Gebirgsschlucht zu stürzen. Mann, das war etwas anderes als bei der auch nicht schlecht ausgestatteten Antje, aber der Vergleich zwischen einer Düne und einem Gebirge kommt Lars in den Sinn.

Überhaupt Antje, ob er sie noch anrufen sollte? Nein, das Essen steht ja schon auf dem Tisch, und es ist sicherlich schon zu spät. Antje würde bestimmt längst im Bett liegen. Damit vermutet Lars zwar ganz richtig, doch schläft sie noch lange nicht, sondern fordert gerade von ihrem Stier, dass er seine Kuh nochmal mit seinem ‚Blanken Hans‘ vermöbelt. Das Wohnmobil wackelt nicht nur wegen des heftigen Seewindes. Der ist nicht das einzige, was gerade bläst, nachdem die Kuh-und-Stier-Stellung zu Gunsten einer anderen Spielvariante aufgegeben wurde. Es geht tatsächlich wild zu in dem schicken Rindertransporter. Antjes knallrote Highheels stehen nicht auf dem Boden, sondern auf der kleinen Küchenzeile. Einer stehend, der andere liegend. Und gleich daneben der Champagner. Was für ein grandioses Stillleben!

Lars schaut auf seinen Teller und lässt sein Kinn auf Höhe des Schlüsselbeins absacken. Anstatt Seezunge, Hummer, Lamm oder Krabben gibt es gegrillte Schweinshaxe. Na Mahlzeit! Was anderes gibt es wahrscheinlich in Bayern gar nicht. Sepp lässt schon die Schwarte krachen, als Lars, geschockt ob des Haufens Fleisch auf seinem Teller und überrascht über die reichhaltige Auswahl des Wirtes hochschaut.

„Was anders gibt‘s eh neda“ rechtfertigt sich der Wirt mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit. „Lasst‘s eich schmecka“ sagt er, während Randl sein Gewicht mit den kräftigen Pratzen auf dem Tisch hochstemmt und in den großen Raum nebenan geht, aus dem ein Lärm zu Sepp und Lars herüberdringt, als sei gerade ein Bürgerkrieg im Gange. Sepp hat sichtlich viel Vergnügen mit seiner Haxe, reißt die Kruste mit den Fingern herunter und lässt sie zwischen seinen Zähnen geräuschvoll krachen. „Schee resch18, gell? Iss zua, dass ned lätschert19 werd!“ Lars fühl eine gewisse Ohnmacht in sich aufsteigen und bittet nicht um eine Übersetzung. Er würde jetzt einfach tun was er kann, aber diesen Klotz Fleisch, schafft er bestimmt nie. Dazu zwei Kartoffelklöße und ein Berg von rohem Weißkraut mit – iiih! – Kümmel. Ohne das Essen zu unterbrechen, beginnt Sepp mit vollem Mund und glänzendem Schnurrbart, der mittlerweile etwas seine stolze Form eingebüßt hat, zu erklären: „Also, denk dro, um Neine hol i di ab. Frühstück gibt’s um Achte beim Schorsch.“ Sepp vergewissert sich mit einem flüchtigen Blick, ob Lars alles mitbekommt, ohne zu fragen Host mi?

„Also, abholen um Neun und Frühstück um Punkt Acht“ wiederholt Lars.

„Brauchst nix macha, die Vreni kimmt rüber und holt di ob.“

„Sehr gut!“ Lars nickt Sepp zu und zeigt sich zufrieden und dankbar für dessen Fürsorge.

„Und wennst nacha hoam gehst von da, Obacht! Freinacht is! Dass di ned derwischn!“ Da war er wieder, der bairische Zeigefinger, nur diesmal eklig glänzend, mit einem kleinen Fetzen von der reschen Kruste, die an seinem Fingernagel klebt. Lars‘ Augen kleben ebenfalls an Sepps Fingernagel, was seinen Appetit auch nicht weiter anzuregen vermag.

Allerdings hat Lars von Sepps Aufklärungsversuch nicht viel mitbekommen. „Wieso Freitagnacht? Es ist doch Montag heute! Und welche Derwische?“ Diesmal ließ sich aus den Fragmenten keinerlei Sinn ableiten.

Sepp bemerkt Lars‘ Desorientierung und bemüht sich nochmal auf Wikingerdeutsch. „Also, Du musst aufpassen, wenn‘d hoam gehst, weil es is Freinacht. Ned Freitagnacht, sondern Freinacht! Des is die Nacht zum erschtn Mai, verstegst?“

„Nein. Nicht versteckt!“ Lars grinst leicht gequält, und will mit dem Scherzchen von seiner Begriffsstutzigkeit ablenken.

„In der Freinacht treiben Burschen ihr Unwesen, stehlen Sachn von‘d Leit und versteckn‘s irgendwo. Und bsuffa sans. Be-trun-ken!“ Sepp leckt sich diesmal den Zeigefinger ab, bevor er ihn mahnend in die Höhe streckt. Er glänzt deswegen aber nicht weniger als zuvor, nur die Kruste ist jetzt ab.

„Okay, verstanden. Es wird geklaut und versteckt.“ Lars zögert. Hat er es diesmal richtig verstanden? „Tatsächlich versteckt, diesmal, nicht verstanden?“ Sepp nickt. „Klingt eigentlich nicht weiter spektakulär, Sepp. Warum warnst Du mich dann davor?“

„Mei, des Scheenst is, dass‘d Leid verhaun, also Leute ver-hau-en. Oafach so, ohne Grund, verstegst?“

Lars findet dieses Rätselraten immer schwieriger. „Meinst Du jetzt verstehen oder verstecken? Ich meine, wenn die Leute verhauen, muss man sich doch diesmal wirklich verstecken, oder?“

„Mei, Lars, des is koa Spaß ned.“ Sepp wird schon seinen Grund haben, so besorgt dreinzuschauen. „Und recht zur Sache gehn‘s, die Growiane, die gschroameiadn20. Brutal sans oiewei21, desweng Obacht auf‘m Hoamweg! Host mi?“ Diesmal verlangt Sepp eine eindeutige Rückmeldung von Lars, um sicher zu gehen, dass der die Warnung versteht und beherzigt.

„Wieso tun die das, Leute verprügeln?“ fragt Lars nach.

„Na, hoid weil Freinacht is. Und weil‘s Muhagln22 san, dreckerte.“ Mehr erklärt er nicht. Sepp scheint diese Erläuterung völlig zu genügen. War doch damit alles klar, oder?

Lars hatte es immer geahnt. Es war nicht nur ein Vorurteil über die Bayern, sondern es war einfach die Wahrheit. Es ist wahr, die Bayern sind so. Saufen und Prügeln, kein bisschen Zivilisation. Morgen früh würden sie ihn mit dem Maibaum aufspießen, und morgen Abend würde er wie diese Schweinshaxe auf dem Teller der Menschen fressenden Eingeborenen landen. Na Mahlzeit!

Neues Ungemach kündigt sich an, als der Randlwirt mit drei randvoll gefüllten Glaskübeln voll Bier zurückkommt und den halbvollen Teller und das nicht minder gefüllte Glas vor Lars stehen sieht. Natürlich hat Sepp seine Portion schon verschlungen. Erstaunlicherweise hat er aber den Knochen liegen lassen. Er schielt auf Lars‘ Teller. Der erkennt die Gelegenheit sofort und schiebt ohne zu Zögern seine halbe Hinterhaxe zu ihm rüber, bevor der Randl ihn zwingen könnte, alles aufzuessen, und zwar samt Knochen.

„Hmm …“ raunt der prompt nur noch, als er sich wieder auf seinen Platz zu Lars‘ Rechten niederplumpsen lässt und die Krüge dabei so auf den Tisch poltern lässt, dass das Bier wieder über Lars‘ Hand schwappt. Diesmal hat er zwar eine Serviette parat, aber die ist so mit Haxnfett verschmiert, dass doch wieder die Hose herhalten muss.

„Gerdi, dua amoi des Bier von dem Noaglzuzla23 weg. Des is ja scho ganz lägg24.“ Lars versteht zwar kein Wort, aber als Gerdi sein halbes Ergebnis entsorgt und ihm eine frische Mass hinschiebt, ist auch so alles klar. Sein tonloses Stöhnen ermutigt die beiden Alteingesessenen nur, weiter Gas zu geben. „Auf geht‘s, trink mer uns zsamm! Die Krüge hoch!“ Lars nimmt alle Kraft in der rechten Hand zusammen, um souverän mithalten zu können. Diesmal schafft er auf Anhieb einen Ring25, und die anderen setzen immerhin nach der halben Mass ebenfalls ab. Gefühlt hat Lars also schon Boden gut gemacht.

Lars‘ überproportional zum Bierkonsum abnehmende Konzentrationsfähigkeit erlaubt es ihm immer weniger, dem Kauderwelsch der Ureinwohner zu folgen, und gegen Ende der dritten Mass nimmt er nur noch, wie durch eine undurchdringliche Nebelwand, Wortfetzen wahr.

„Du broadfotzada Brocka26, Du broadfotzada!“ hallt es von rechts.

„A vazopfd Glezn27 bist, Randl, a vazopfde!” kommt das Echo von links.

Es geht auf Mitternacht zu, und Lars macht nun sichtbar schlapp. Sepp klopft ihm auf die Schulter und ermuntert ihn ein wenig. „Auf geht’s! Host an langen dog ghabt. Randl, schreib‘s oh! Die Firma zoid scho28”. Die drei erheben sich vom Tisch und gehen in den großen Gastraum, wo das bunte Treiben auf seinen Höhepunkt zusteuert. Den Gesang kann Lars nur mühsam als solchen identifizieren, geschweige denn enträtseln. Jedenfalls scheinen die Leute ihren Spaß zu haben. Das bestätigt auch Sepp. „Schau her, a Gaudi ham‘s!“

„Ja, eine Mordsgaudi sogar“. Lars ist zum ersten Mal fast ein bisschen neidisch auf dieses Volk, das es immerhin versteht, sich seine Gaudi selbst zu machen, ganz ohne Animateur, wie er ja schließlich einer war. Okay, dafür braucht es anscheinend Bier in solchen Mengen, das man, was Schluckreflex und Magenkapazität anbetrifft, eine ganz andere körperliche Konstitution braucht, als sie der Nichtbayer hat.

Randl reicht Lars die Pratze, die von dem vielen Bier arg klebt. Wieder die Hose, denkt Lars. Die war heute Morgen noch frisch gewaschen. „Servus, mach‘s guad, schlaf schee un bis moing, Du Kasloawe!“29

Sepp begleitet Lars vor die Tür und erklärt ihm den Weg, da sie sich hier trennen würden. „Schaugst amoi! Da gehst a paar Minutn grad aus. Und hinterm Winklhof gehst glei rechts. Winklgassn Drei. Da hast dei Schlüssel. Und … Obacht, gell!“ Der Zeigefinger glänzt jetzt nicht mehr, obwohl das vielleicht auch nur am fehlenden Licht auf der Straße liegt.

„Ja ja, ich weiß schon, Freinacht und so.“ Lars reicht Sepp zum Abschied die Hand.

„Guad, dann lass i di geng, weil i wohn genau in‘d andere Richtung.“ Sepp lässt Lars‘ Hand kaum los, so dass er sich fast mit einem Ruck befreien muss.

„Ciao, bis morgen um Neun. Und danke für alles, Sepp!“ Lars wirft die Schlüssel hoch und fängt sie sicher wieder auf.

„Servus, Lars. Gern gscheng!“ Binnen Sekunden verschwindet Sepp im Dunkeln.

(Freinacht)

Es liegt ein seltsamer Geruch in der Luft. Es ist schneidend kalt, und Nebel hat sich gebildet. Dazu riecht es ziemlich verqualmt, da hier anscheinend jeder noch mit Holz heizt. Ganz gemütlich war das zwar, am Kaminofen beim Randlwirt, aber total rückständig sind sie eben, die Bayern. Haben wohl keine Heizungen in den Häusern, denkt sich Lars, während er sich die Jacke bis oben schließt und den Hals kurz macht, um sich vor der eindringenden rauchigen Feuchtigkeit zu schützen. Er ist nicht allein auf dem Heimweg. Irgendwo scheinen einige trinkfeste Gäste vom Randlwirt die Kälte mit Gegröle vertreiben zu wollen.

Im Dunklen erkennt Lars den Winklhof nicht gleich und geht in seinen Gedanken an dieses wilde Land fünfzig Meter zu weit, bevor er es bemerkt und umdrehen will. Nicht nur das rechtzeitige Abbiegen hat er nicht bemerkt, sondern auch, dass ihm das Gegröle mittlerweile unangenehm nah gekommen war. Nach der Kehrtwende stehen unvermittelt fünf Kerle im Halbdunkel einer Straßenlaterne vor ihm. Lars erschrickt, und hat seine Freinachtlektion völlig vergessen. Er grüßt flüchtig mit „n‘Abend“ und will zwischen den Gesellen hindurch schreiten.

„Amoi ned so schnell, mei Guadsta!“ hält ihn einer der Fünf auf, indem er Lars mit der flachen Hand an der Brust stoppt. „Mogst ned no a Mass mit uns dringa?“ Der Klang der Stimme lässt das nicht wie eine freundliche Einladung zur Fortsetzung des Trinkgelages wirken. Lars erinnert sich jetzt wieder ganz klar, was Sepp ihm über die Freinacht gesagt hat. Obacht! Scheiße, zu spät!

„Äh, danke, aber ich muss morgen früh raus. Zum Maibaumaufstellen.“ Lars gibt sich irgendwie einheimisch, in der Hoffnung, diese Burschen damit etwas besänftigen zu können.

„Welchen Maibaum denn? Den hammer scho furtgschafft. Des kost di jetzt a Fasserl, mei Freind.“ Dabei fuchtelt der unlustige Geselle mit einer Art Lederknüppel herum. Oha, aus der Einladung zu einer Mass Bier wird jetzt glatte Erpressung. Was bairisches Brauchtum anbetrifft, hat Lars gerade die Nase voll. Er hätte nicht ‚Nase voll‘ denken sollen, denn Sekundenbruchteile später schlägt es bei Lars ein, und er meint, sein Nasenbein knirschen zu hören. Dann ein Schlag mit dem Knüppel auf den Kopf. Lars wendet sich ab, kann aber seine Bewegungen nicht mehr richtig koordinieren und kommt zu Fall. Immerhin verliert er nicht das Bewusstsein.

„Los, auffa mit dia, Du Soppa!“30 schreit in eindeutig aggressiver Manier ein anderer aus der Gruppe.

„Los kimm, Du Dredschada31, Du feiga!“ peitscht noch einer die Stimmung auf.

„Ihr Drecksglump, gescheads32. A feigs Pack seids oi zsamm.” Oh welch vertraute Stimme, möchte Lars vor Dankbarkeit ausschreien. Sepp muss das Unheil und Lars‘ Unvorsichtigkeit geahnt haben und ist ihm hinterhergelaufen. Was dieser Hüne von zwei mal zwei Metern, geladen und wütend wie eine ganze Bullenherde, mit den fünf Burschen macht, ist filmreif. Lars liegt noch am Boden und rappelt sich nur mühsam auf. Derweil macht Sepp einen Kerl nach dem anderen rund. Er braucht nur einen Fausthieb um jedem einzelnen das Licht auszublasen.

„Los mi geng, Du Gifthaferl!“33 schreit ein Halbstarker verzweifelt, als ihn Sepp in den Schwitzkasten nimmt. „Des woar do bloß a Gaudi“.

„Un jedzad hob i a Gaudi, Du Wiafliga!”34 steigert sich Sepp weiter in diese vortreffliche Keilerei. Nachdem vier Burschen sich wieder berappeln und davon laufen, lässt Sepp den fünften los. Er macht sich so schnell er kann aus dem Staub. „Ja, schleicht‘s eich, Drecksgsindl!“ Damit ist der Spaß für Sepp auch schon wieder zu Ende. „Ois guad, Lars?“ versichert er sich sorgenvoll dessen Unversehrtheit.

„Ois guad, Sepp! Danke dir. Vielen Dank. Ohne dich hätten diese Idioten mich bestimmt totgeprügelt.“ Lars reicht Sepp die Hand und fällt ihm um den Hals. Eigentlich mehr um die Brust, denn bis zum Hals reicht er kaum herauf, und Sepp ist derartig breit, dass er ihn nicht mal umfassen kann. Sepp ist eine solche körperliche Annäherung gar nicht gewohnt und klopft Lars, nachdem er ihn etwas von sich weggeschoben hat, auf die Schulter. „Passt scho! Des war doch selbstverständlich. I hob‘s oafach grocha, dass was passiert. Es lag so a Brandgeruch in der Luft“. Da spricht die ganz Erfahrung eines Ureinwohners aus dem Mann, und Lars fragt sich, ob das wirklich Rauch aus Holzöfen war, den er gerochen hatte. Drei Minuten später trennt sich Sepp von Lars erst, als dieser die Haustür hinter sich schließt, und er ihn in Sicherheit weiß.

„Pass Du jetzt gut auf dich auf, Sepp!“

„Koa Sorge ned, Lars, die ham jedzad gnua35“. Sepp geht zuversichtlich seines Wegs. Er hat diese Erfrischung anscheinend tatsächlich genossen.

„Gute Nacht, Sepp.“

„Guade Nacht, Du ah, Lars.“

Lars macht Licht und orientiert sich kurz. Er will nur noch ins Bett. „Na prima!“ ruft er laut aus. Seine Koffer liegen noch in Sepps Unimogtraktorfahrzeug. „Scheiß egal!“ Ohne sich irgendwie weiter im Haus umzusehen, findet er das Bett und fällt augenblicklich in einen komatösen Tiefschlaf.

Er kann nicht mal mehr von Antje träumen, die, nachdem sie sich liebestechnisch körperlich maximal verausgabt hat, wieder im Haus ist und ebenfalls schlafen gehen will. Allerdings ist bei ihr noch eine gewisse Körperreinigung vonnöten. Unter der Dusche kommt ihr doch ein Anflug von schlechtem Gewissen. Ihr armer Gatte befindet sich im Überlebenskampf in diesem Dschungelcamp und sie trieb es die halbe Nacht mit einem anderen. „Schlaf gut, Lars!“

(Beim Frühstück I)

Um sieben Uhr klingelt das Telefon. Lars kommt nur mühsam zu sich. Gott sei Dank alles nur geträumt. „Antje, Telefon! Bestimmt für dich.“ Lars dreht sich herum und fällt prompt aus dem Bett, da er zu Hause in seinem Bett auf Sylt auf der anderen Seite zu schlafen pflegt. Nix geträumt, Lars! Er krabbelt auf allen Vieren zum Telefon. „Ja, bitte?“.

„Griaß Di Gott, Lars! Da is da Sepp. Es is scho Sieme, sieben Uhr, wollt i song.“ Wie konnte der Kerl nach drei Maß Bier gestern Abend so früh wieder fit sein. „I hob noch dei Koffer un bring‘s da glei vorbei. In fünf Minutn bin i do“ sagt Sepp und legt auf, ohne auf eine Antwort zu warten.

Lars schafft es, auf die Beine zu kommen. Angezogen ist er schon, oder besser gesagt, noch. Ein Königreich für eine Zahnbürste! Die Sonne kommt gerade raus und scheint zum Ostfenster herein. Sie blendet Lars, so dass er lieber zur südlichen Terrassentür geht. Noch bevor er sie öffnet, eröffnet sich ihm ein atemberaubender Blick auf die nahen Berge. Er schiebt die Tür auf und betritt bedächtig die Terrasse. Es liegt Frühlingsgeruch in der Luft, frisch und kühl, aber nicht mehr so schneidend kalt, wie gestern Nacht. Einige Frühblüher im Garten tauchen diesen in ein angenehm gelb-grünes Licht. Dahinter Berge, die Lars‘ Blicke nach oben ziehen. Der Himmel weiß-blau36. Die Situation ist schon fast kitschig, erinnert sie doch an Ansichtskarten, die viele bayerische Gäste gerne an ihre Lieblingskneipe auf Sylt geschickt haben, und die dort nun an den Wänden kleben. Gestern Morgen stand Lars noch auf seiner Terrasse, die See und den Wind von vorn und die Sonne im Rücken. Jetzt steht er eintausend Kilometer weiter südlich, wieder auf einer Terrasse, die Berge vor sich, ein lauer Wind, der gerade die Alpen von Italien kommend überquert hat und die Sicht klar und rein macht, so dass man die Baumwipfel auf den Bergen erkennen kann, als wären sie aufgemalt. Die warme Sonne spürt Lars auf seiner linken Wange. „Wow!“ Mehr kann Lars nicht sagen.

Er sieht Sepps Unimogtraktorfahrzeug herannahen und geht ums Haus, um ihn zu begrüßen. „Guten Morgen, mein teurer Lebensretter!“ Lars reicht Sepp die Hand, obwohl er sich noch nicht so recht gesellschaftsfähig fühlt. Unrasiert, ungewaschen, noch immer in den Klamotten von gestern.

„Servus Lars! Griaß di! I bring da dei Koffer ins Haus un kumm in zwoa Stundn wieder, um di abzuhoin. Schaugst, dass fertig wirst, das di d‘Vreni um Ochte abhoin ko. Es giabt bstimmt was Guads zum Friastick.“ Sepp lupft gleich beide Koffer gleichzeitig über die Terrasse ins Haus und stellt sie im geräumigen Flur ab.

„Danke, Sepp. Was täte ich ohne dich?“ Lars wirkt wie ein ziemlich kleiner und hilfloser Junge.

„Ach, sei stad37. Des passt scho.“ Sepp wirkt ob seiner Erscheinung nicht so, ist aber ein kreuzbraver und bescheidener Kerl. Er verlässt das Haus durch die Haustür und rennt zum Auto. „I muss no Semmen hoin, mei Oide wart scho miam Friastick. Pfiät Di!38

Lars hätte gerne seine erste Lektion des Tages abgeschlossen, rätselt aber noch, was es bedeutet, ‚Staat zu sein‘ und was man mit ‚Semmen‘ macht. „Lars, Du musst noch ganz viel lernen“ sagt er sich laut vor, als er ins Haus zurückgeht, um sich für sein nächstes Abenteuer fertig zu machen. In einer Dreiviertelstunde wird Vreni kommen. Schnell noch Antje wecken und berichten, bevor es nachher im Eifer des Gefechts wieder vergessen geht.

„Hallo Lars, wie geht es dir? Lebst Du noch? Was haben Sie mit dir gemacht? Konntest Du schlafen? Was machst Du gerade? Los, rede doch endlich, und lass mich hier nicht vor Neugierde sterben!“ Lars hört Antje tief einatmen, nachdem er schon befürchtet hat, sie könne ersticken, weil sie vergisst Luft zu holen.

„Antje, guten Morgen. Ja, ich lebe noch, obwohl …“ er macht einen Moment zu lange Pause und Antje fällt ihm dazwischen.

„Obwohl was? Los, sprich, was ist passiert?“ Antje klingt tatsächlich aufgeregt und tief besorgt.

„Nur eine kleine Prügelei. Nichts Schlimmes, meine Nase hat nicht viel abgekriegt.“ Lars findet Gefallen an Antjes Besorgtheit.

„Was? Noch kein Tag bei diesen Barbaren, und schon haben Sie dich halb tot geschlagen? Oh Lars, mach dass Du da wegkommst. Ich hab’s dir gesagt, das sind Wilde, die sind gefährlich.“

„Ja, das ist schon richtig, aber ich schaffe das schon, mein Schatz.“ Lars weiß, dass das seine Antje nicht beruhigen, sondern eher das Gegenteil bewirken wird. Aber lass sie sich ruhig mal ein bisschen Sorgen machen, denkt er sich mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.

„Was ist noch alles passiert? Los erzähl, ich will es wissen. Ich rufe die Polizei an und lass dich da rausholen. Oder stecken die mit den Wilden unter einer Decke? Bestimmt, das sind doch alle Spinner.“ Antje steigert sich ebenso in ihre Sorge, wie Lars in die Rolle des bemitleidenswerten Opfers.

„Nun, so schlimm war es nicht. Sie zwingen einen, sich vollzufressen und dabei literweise Bier in sich hinein zu trichtern. Sie schimpfen in einem fort, aber man versteht ja sowieso kein Wort. Also, was soll’s?“ Lars stellt sich Antjes entsetztes Gesicht vor und ertappt sich zunehmend dabei, wie es ihn amüsiert.

„Lars, nein, bitte pass auf dich auf! Was machst Du heute? Gewöhne dich bitte vorsichtig an diese Höhlenbewohner. Die sind bestimmt bewaffnet.“ Antje beruhigt sich nur langsam, aber Lars legt noch ein wenig drauf.

„Nun, heute ist es hier wohl Tradition, dass sie Bäume ausreißen, sie anmalen und wieder in die Erde stecken. Da sind vom Bürgermeister über die Kirchenleute bis zu den bewaffneten Einheiten alle dabei. Und ich muss auch dahin, sagt der Sepp, damit ich die wichtigen Leute kennen lerne.“ Lars überlegt kurz, was er Antje ansonsten noch zu berichten hätte. „Ach ja, und die Berge sind gar nicht so hoch wie auf den Ansichtskarten. Eigentlich gefällt es mir hier gar nicht, und schütten tut’s wie aus Eimern.“ So, das müsste an schlechten Nachrichten jetzt eigentlich reichen, um Antje für heute in eine kreative Unruhe zu versetzen. „Ich muss mich jetzt fertig machen, Antje. Vreni kommt gleich, um mich abzuholen.“

„Vreni?“ setzt Antje misstrauisch nach. „Noch kein Tag da und schon eine Vreni?“

„Vreni ist die Frau vom Schorsch, der ein Spezi, äh, ein Freund vom Sepp ist. Es sind meine Nachbarn, die mich heute mit einem Frühstück versorgen sollen.“ Das war so auffällig harmlos, dass Antje das bestimmt nicht glauben wird, ist sich Lars gewiss und grinst.

„So so, na dann pass mal schön auf, dass dir nichts passiert. Und ruf heute Abend mal an, damit ich weiß, wie es dir geht. Ja?“ Na so was. Sonst legte Antje keinerlei Wert darauf, dass Lars sich von unterwegs meldet. Sie pflegt ihn üblicherweise mit den Worten „wenn ich nichts höre, weiß ich, dass es dir gutgeht“ abzuwimmeln. Kein Wunder, sie wollte sich ja in Lars‘ Abwesenheit normalerweise ungestört mit Hans & Co. beschäftigen. Da stören Kontrollanrufe nur. „Also, Du meldest dich heute Abend, versprochen?“

„Versprochen. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe ja einen persönlichen Bodyguard. Der kämpft mit fünf Angreifern gleichzeitig.“ Lars kann sich ein Losprusten kaum verkneifen und lässt Antje bis heute Abend einfach mal zappeln. Das tut ihr mal ganz gut, denkt er sich dabei.

Jetzt schnell geduscht und umgezogen! Den Bart lässt er heute unrasiert. Wozu auch rasieren, bei diesen unzivilisierten Leuten? Danach reicht es noch für einen kleinen Rundgang durchs Haus. Es jodelt etwas zu sehr, findet Lars. Viel Holz an den Decken und Wänden, reichlich verziert, verströmt einen ganz eigenen Duft im Haus. Es scheint noch nicht lange her zu sein, dass alles neu gemacht wurde. In jedem Zimmer hängt ein Kruzifix an der Wand. Lars fühlt sich von dieser gekreuzigten Kreatur regelrecht beobachtet und nimmt sich vor, die Dinger gleich morgen abzuhängen. Um das Haus herum ist reichlich Platz, und der Garten ist gepflegt, als hätte Holzerding den ersten Preis bei ‚Unser-Dorf-soll-schöner-werden’ gewonnen. Durch das Fenster sieht Lars eine rundliche Frau im Dirndl auf das Haus zukommen. „Das muss also Vreni sein“ sagt Lars in gespannter Erwartung auf sein erstes bairisches Frühstück. Er öffnet, bevor Vreni klingeln kann und tritt vor die Tür, ihr entgegen.

„Ja Griaß eana Gott. Sie sand bstimmt da Herr Fischa.“ Die Frau strahlt eine gewisse Mütterlichkeit aus. Hoffentlich würde sie ihn jetzt nicht an ihre Brüste drücken, die deutlich aus ihrem Dirndl hervorquellen.

„Ja, das bin ich“ stammelt Lars, während sich seine Blicke zwischen Vrenis Bergen verlieren. Er schafft es mühsam, seine Augen von diesen Milchquellen loszureißen und ihr mit einem freundlichen Lächeln ins Gesicht zu blicken. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen, und hoffe, dass wir uns gut vertragen. Ich bin ja nun für eine Weile Ihr Nachbar.“ Jetzt bloß nicht den ersten Eindruck vermasseln, nimmt sich Lars fest vor.

„Na, dann kommen‘s doch bittschee mit mir. Mir ham was Guads fiar Eana vorbreidt. Sie wearn‘s schon meng.“ Vreni strahlt wie ein Honigkuchenpferd und legt noch nach: „Ach, un bittschee, i bin die Vreni. Song‘s doch oafach Vreni zu mir.“

„Natürlich. Gerne. Und ich heiße Lars.“ Er folgt Ihr quer durch den Garten, denn die beiden Häuser sind nicht durch einen Zaun getrennt. Hoffentlich rächt sich das nicht, geht es Lars durch den Kopf. Auf der Terrasse, die wunderbar schön vor der Morgensonne angestrahlt wird, warten schon Schorsch und die Jungs. Wie hießen die doch gleich wieder? fragt sich Lars.

Schorsch ist ein für hiesige Verhältnisse dürrer Mensch, findet Lars, und wirkt fast etwas verhungert. Der Schnurrbart fehlt nicht, aber viel kleiner als bei den Urviechern von gestern. Lars muss unwillkürlich an den ‚Führer‘ denken. Er kommt Lars mit ziemlich strengem Blick entgegen. „Schorsch. Bin da Schorsch. Servus!“ Puh, kein wortgewaltiger Mensch, denkt Lars und antwortet nicht minder wortkarg mit „Lars. Guten Morgen.“

„Ja, und da hammer die Buam. Den Waschtl und den Seppi. Gell, Buam, sagts schee freindlich Griaß Gott zum Lars!“

Die Jungs geben brav die Hand und machen fast einen kleinen Knicks vor Lars. Wastl kommt ganz klar nach seiner Mutter. Trotz seiner erst sechzehn Jahre steht er wie eine Litfaßsäule vor Lars. „Servus, i bin d‘ Waschtl!“

„Lars. Freut mich, Wastl.“ Es wirkt gar nicht so leicht, eine Konversation in Gang zu bringen.

„Und ich bin der Seppi. Guten Tag, Lars.“ Der jüngere von den beiden, elf Jahre alt, wirkt aufgeschlossener und sehr höflich. Seine zierliche Statur hat er vom Vater und seine nette Art von der Mutter. Ein kleiner Freund, denkt sich Lars unvermittelt.

Der Vater brummt, als Seppi sich vorstellt, und Vreni hält ihn davon ab, loszuschimpfen. „Jedzad lass doch den Bua. Guad is!“

„I mog‘s hoid ned, wenn‘d Bua so breisselt39. Wo sammer denn, ja lextmido …“ Seine Stimme versiegt plötzlich, wohl mehr aus Angst vor seiner Frau, denn aus Respekt vor dem Gast.

„Oiso, bittschee, setz ma uns, dass’d Würscht ned koid wearn. Lars, schau, von do siegst die Berg am besten. Oiso an Guadn40.“

Lars versucht, seine Unsicherheit zu verbergen, denn er versteht nur Wortfetzen und tut einfach das, was die anderen tun. Er wundert sich über das hohe Glas vor seinem und Schorschs Platz, während er vergebens nach einer Kaffetasse sucht. Schorsch greift zwei Flaschen Weißbier und reißt sie auf, bevor Lars sein Entsetzen in den Griff bekommt. Er reicht eine Flasche zu Lars über den Tisch. „Wohl bekomm’s!“ Schorsch lässt das Weißbier zügig und ohne zu viel Schaumentwicklung ins Glas rinnen. Lars überwindet sich und will es ihm gleichtun. Nur stellt er sich ungeschickt an und lässt einen regelrechten Schaumteppich sich auf dem Tisch ausbreiten.

„Oh, das tut mir leid. Damit hatte ich nicht gerechnet. Entschuldigt bitte!“ Oje, er hat noch nicht mit dem Frühstück begonnen und schon blamiert er sich. Sein Gesicht erwärmt sich spürbar, und auch die frische Hose muss wieder herhalten. Wenn das so weitergeht! Lars ist entmutigt.

„Des macht doch nix, Lars. Da schaugst her!“ Und fix ist der Schaumteppich mit diversen Papierservietten aufgesaugt.

„Na, des musst noch lerna, Lars!” Schorsch amüsiert sich über das exotische Grischberl41, das bestimmt bald die Nachbarschaft durcheinander bringt.

„Nimmst zwoa oda drei Weißwürscht?“ fragt Vreni und wartet die Antwort nicht ab. Sie legt ihm drei von diesen glitschigen und blassen Dingern auf den Teller. „Und dazu mogst bstimmt an siaßn Senf, gell?“ Lars hat zwar keine Ahnung, was Sie von ihm will, aber sie meint bestimmt dieses breiig-schleimige, gelb-braune Zeug, von dem sie ihm drei Löffel auf den Teller klatscht, für jede Wurst einen.

Iih! – Lars hofft nur, dass nicht wieder jemand seine Gedanken liest. „Das sieht ja sehr lecker aus“ versucht er, sich Mut zu machen und dabei die Hausfrau mit einem Kompliment zu erheitern.

„Bei uns in Bayern sagt mer niemals ned Läcka!“ meldet sich Schorsch resolut zu Wort. „Nur wenn’d song wuist ‚ Du konnst mi mo am Oarsch lecka!“ Die Jungs lachen laut auf und kassieren prompt beide eine Watschn42 von Schorsch.

„Schorsch!“ fährt Vreni ihren Mann an. „Red ned so an Schmarrn!43 Was soll denn der Lars von uns denga?“

„Ja, bitte entschuldigt. Bei uns auf Sylt redet man kein … Bairisch, meine ich. Ich will’s aber gerne lernen. Und wenn ich nicht immer gleich alles verstehe, seht es mir bitte nach!“ Lars fühlt sich wie im falschen Film und will nun endlich essen, um das Thema zu wechseln. Er sucht Messer und Gabel, um diese Glitschwurst zu verspeisen. Hoffentlich schmeckt die nicht so, wie sie aussieht. Vreni bemerkt, dass Lars nach Besteck sucht und klärt ihn auf: „Auszuzln. Weißwürscht dead ma auszuzln. Mit’d Finga, verstegst?“

Lars gibt durch seinen Gesichtsausdruck klar zu verstehen, dass er gar nichts versteht. Sein neuer kleiner Freund eilt ihm zu Hilfe. „Du musst die Wurst mit den Fingern essen. Aber nicht die Haut mitessen! Nur den Inhalt raus lutschen. Wir nennen das hier Auszuzln. Und das essen wir mit süßem Senf. Das ist das Zeug da auf deinem Teller.“ Spricht’s und zeigt mit seinem kleinen Finger auf die eklige, undefinierbare Masse auf Lars‘ Teller. „Schau mal, ich zeige es dir.“ Seppi führt diese Art von bairischem Finger Food genüsslich vor, während Schorsch ungehalten etwas murmelt, und Lars ermuntert, sich zu überwinden, das Zeug ebenfalls zu verspeisen.

„Sehr leck … äh, schmeckt guad.“ Lars hat gerade noch einmal die Kurve bekommen. Jetzt steht einem guten Frühstück nichts mehr im Wege. Na Mahlzeit! Lars hat Hunger und beißt, seine innere Abneigung gegen das glitschige Ding überwindend, herzhaft in die Weißwurst.

„Nicht abbeißen, Lars!“ belehrt ihn Seppi. „Zuzln musst Du!“ Zu Spät, Lars kaut bereits auf der Wursthaut und traut sich auch nicht, sie wieder auszuspucken. Also runter damit! „Und jetzt mit süßem Senf, dazu! Aber zuzln, gell!“ Seppi hat sichtlich sein Vergnügen daran, als Pimpf in der Runde auch mal den Lehrmeister geben zu dürfen. Und schließlich verspricht Lars ja auch, ein folgsamer Schüler zu werden. Beim zweiten Versuch zieht Lars die Wurst mit der angebissenen Stelle tief durch den Senf, der auch nicht appetitlicher aussieht als das Hauptobjekt dieser Speise, und versucht, den Inhalt der Wursthaut vorsichtig mit den Zähnen und Lippen herauszudrücken. „Na also, geht doch!“ freut sich sein kleiner Lehrerfreund. Und Lars freut es auch.

„In der Tat, sehr leck … äh, sauguad!“ Lars schaut jeden einzelnen am Tisch in die Augen, um zu signalisieren, dass es ihm gutgeht. Die ganze Wahrheit ist das zwar nicht, aber es ist auch nicht so schlimm, wie es zunächst aussah.

„Na, dann dad i song, zum Wohle!“ Schorsch scheint ob des Bemühens seines Gastes langsam aufzutauen. Er lächelt, nimmt sein Glas hoch, Gott sei Dank diesmal nur ein halber Liter44, und reicht es zum Anstoßen zu Lars rüber. Oje, es ist gerade mal kurz nach Acht, und schon wieder Bier. Zum Frühstück! Lars überwindet sich abermals, holt tief Luft und probiert sein erstes Weißbier. Er der Pilsliebhaber!

„Mmh, ich hätte nicht gedacht, dass das so leck … äh, schmackhaft ist.“ Lars beginnt, sich ganz allmählich mit den bairischen Frühstücksbräuchen anzufreunden und zuzlt der Rest aus seiner ersten Weißwurst.

„Nimm da noch a Brezn dzua!“ fordert ihn Vreni auf. Lars ist völlig überfordert von diesen Lauten. Erst als Schorsch ihm den Korb mit den Brezeln hinhält, versteht er.

„Mmh, ja, eine Brezel, gerne!“ freut sich Lars

„Des hoaßt ned Brezel, des hoaßt Breze. Oane Breze, zwoa Brezn. Oder man sagt, gib mer mo a Brezn! Verstegst?“ Schorsch ist nicht gerade geduldig mit dem Zuagroastn45.

„Mei, jedzad pass hoid auf, jedzad host di wiada odrenzd46, Du Fackl47“ schimpft Vreni mit ihrem Mann. An Riassl48 hast wie’d Kinder

Lars ahnt nicht ansatzweise, von welchen Fackeln und Rüsseln sie spricht. „Was ist denn passiert?“ fragt Lars zaghaft nach, in der Hoffnung niemanden zu nahe zu treten.

„Babb, also mein Vater, ist ein Ferkel, weil er sich vollgekleckert hat.“ Dafür fängt Seppi „a Bockfotzn49“ von Schorsch.

Vreni mischt sich ein und fährt den Schorsch an. „Jedzad reiß di zsamm, Du Bosnigl!50

„I hab doch bloß übersetzt,“ rechtfertigt sich Seppi.

„Sei ned so a Afmuckada51, Bua!“ herrscht Schorsch ihn an, deutet aber die nächste Ohrfeige nur zaghaft an.

Lars widmet nun all seine Aufmerksamkeit dem korrekten Umgang mit der Wurst, die auf seinem Teller herumglitscht. Und um weitere Konversation auf wenige, ihm bekannte Worte zu begrenzen, hebt er sein Glas und prostet Schorsch freundlich zu.

Derweil hat Wastl ohne sich an dem Gespräch zu beteiligen seine sechste Wurst verdrückt und wohl ebenso viele Brezeln, Pardon! Brezn. Von dem Berg Senf ganz zu schweigen. Von nix kommt nix, denkt sich Lars und wundert sich, wie der dürre Vater so einen Fleischklops zum Sohn haben kann. Immerhin, er redet nicht, und so kann man ihn auch nicht ‚nicht verstehen‘. Nach drei Weißwürsten, zwei Brezn und einer Halben Weißbier, verlangt es Lars irgendwie nach Kaffee. Er traut sich aber nicht zu fragen und lässt sich stattdessen von Schorsch widerstandlos noch ein Weißbier einschenken.

Im Hof fährt Sepp mit seinem Unimogtraktorfahrzeug vor, und Lars ist erleichtert, endlich wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen. Sepp kommt herbei und Schorsch begrüßt ihn zu erst. „Servus Sepp! Griaß di Gott. A scheens Wedda hamm’s heid. Da Herrgott is ehm do a Bayer, gell?”52

“Freili. Griaß di ah, Schorsch, Du oida Boandlkrama.53 Machst mer ah no a Weiße auf? Mir hom ja noch a Minutn.“ Das Bier ist schneller aufgemacht, eingeschenkt und ausgetrunken, als Lars zuschauen kann. Er hinkt etwas nach und will in einem Zug nachholen, unterschätzt dabei aber die Schaumentwicklung des obergärigen Bieres. Er kann einen derben Rülpser nicht mehr unterdrücken und möchte am liebsten unter dem Tisch versinken.

„A Recht host, Lars.“ Sepp rückt sich kurz zurück und übertönt Lars bei weitem. Die Jungs kichern, während Vreni diese Geräuschkulisse weniger zu schätzen vermag. Sie schaut nur schief von der Seite, wendet sich mit dem Tablett ab und murmelt „Männer!“.


Hummer weiß-blau

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