Читать книгу Wut – Das Tor zu deiner Kraft - Stefanie Carla Schäfer - Страница 8
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Die Botschaft der Wut
Die hinduistische Göttin Kali gilt als Göttin der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. In der indischen Mythologie verkörpert sie den Zorn der Göttin Durga. Ist es nicht interessant, dass man bereits in der Antike in der Wut eine so essenzielle Qualität erkannte, dass man sie mit Göttern in Zusammenhang brachte? Schon damals wusste man: Ohne Zerstörung gibt es keine Erneuerung, ohne Gewitter keine klare Luft.
Wut hilft uns, uns im Leben zu behaupten.
Gesunder Ausdruck von Gefühlen
Wenn wir Ungerechtigkeit, Verletzung oder Überschreitung unserer persönlichen Grenzen erfahren, stellt die Wut uns automatisch die notwendige Energie zur Verfügung, um beherzt zu handeln – zum Beispiel, um Grenzen neu zu setzen und unausgewogene Situationen ins Gleichgewicht zu bringen.
Andrea engagierte sich bei der Zeitung, für die sie arbeitete, mit viel Herzblut für ein bestimmtes Projekt. Ihre Arbeit trug Früchte und sollte ausgezeichnet werden – jedoch war es für die externe Kommission nicht ganz offensichtlich, dass Andrea die treibende Kraft hinter diesem Projekt war. Ihr Kollege Mike nutzte die Gunst der Stunde und stellte aufgrund von Andreas Abwesenheit an diesem Tag den Erfolg hauptsächlich als sein Verdienst dar.
Als Andrea davon erfuhr, wurde sie natürlich unglaublich wütend. Obwohl es ihr vor allem um den Inhalt des Projektes ging – eine Initiative, die Schüler zum Schreiben bewegen sollte –, fand sie es ungerecht, dass jemand anders die Lorbeeren für diese Idee einheimsen wollte. Sie brütete und grübelte einige Tage, was sie nun machen sollte – schließlich wollte sie einerseits professionell bleiben und es sich beruflich mit niemandem verderben, aber andererseits konnte sie das auch nicht auf sich sitzen lassen. Sie fasste sich ein Herz und sprach das Thema in der Redaktionssitzung in Anwesenheit aller an, worauf sie von allen Seiten vehement in ihrem Recht bestärkt wurde. Ihre Wut ebbte wieder ab und machte einer entspannten Zufriedenheit Platz. Sie war für sich eingestanden.
Ich vergleiche Gefühle gerne mit den zahlreichen Spielarten des Wetters, wie Sonne, Regen, Gewitter, Schnee, Wind usw. Jede davon hat ihre ganz eigene Qualität, und kein Zustand ist von Dauer. Allerdings bringt jede Wetterform auch ihre eigenen Vorteile für die Natur und ihr Gleichgewicht mit sich. Genauso verhält es sich mit unseren Gefühlen. Wenn wir einen Gefühlszustand einfach da sein und wie eine Welle durch unser Erleben fließen lassen können, geht er auch ohne weiteres Zutun wieder vorbei. Dabei gilt es, das Gefühl im Körper wahrzunehmen und eventuell auszudrücken, gut für sich zu sorgen und das Bedürfnis zu erkennen, das möglicherweise hinter diesem Gefühl verborgen liegt.
Wenn wir also die Botschaft eines Gefühls erkennen und entsprechend handeln, vergeht es nach einer Zeit von ganz allein – auch die Wut.
Wurde die Wut bislang unterdrückt, kann ihre Entdeckung als gesunde und natürliche Kraft ein wichtiger Schlüssel für grundsätzliche und positive Veränderung im Leben sein und Platz schaffen für eine gesunde Autonomie; sie kann uns helfen, Altes hinter uns zu lassen und den Weg für Neues zu bereiten.
REFLEXION
Bestandsaufnahme: Meine Wut
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und überlegen Sie:
Wurden Sie im Aufwachsen darin unterstützt, Ihre Emotionen zu spüren – durften Sie wütend sein?
Wie stehen Sie generell zum Gefühl von Wut in Ihrem Leben?
Wie ist Ihr Körperempfinden, was geschieht in Ihnen, wenn Sie sich ärgern oder wütend sind?
Geben Sie sich selbst die Erlaubnis, Grenzen zu setzen, deutlich Stopp und Nein zu sagen?
Haben Sie schon mal erlebt, wie Sie durch den gesunden Antrieb von Wut ins Handeln kamen und sich dadurch etwas positiv verändert hat in Ihrem Leben – Sie zum Beispiel etwas »geradegerückt« haben?
Wie stehen Sie zur Wut anderer Menschen – können Sie diese akzeptieren?
Ausdrucksformen unterdrückter Wut
Energie sucht sich immer ihren Weg. Sie kann sich wandeln, aber nicht in Luft auflösen. Auch unsere Gefühle sind Energie. Geben wir ihnen nicht den ihnen zustehenden Raum, indem wir sie in Körper und Seele wahrnehmen und ihnen bei Bedarf Ausdruck verleihen, macht sich diese Energie auf eine andere Art bemerkbar. Das kann zu Beschwerden auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene führen.
Körperliche Anzeichen
In der chinesischen Medizin gilt die Leber als »Mutter der Emotionen« und treibende Kraft für die Ordnung von Körper und Seele. Interessanterweise werden auch Wut und Ärger mit der Leber und der ihr zugehörigen Gallenblase assoziiert. Die Leberenergie ist im Gleichgewicht, wenn ein Mensch sich auf gesunde Weise zum Ausdruck bringt, durchsetzt und seine Kraft und Kreativität bestmöglich nutzt. Kraft und – bei Bedarf – Wut, um sich zu verteidigen und zu verändern, sind zwei Ruderer im gleichen Boot.
Nicht umsonst heißt es im Volksmund: »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« oder: »Mir kommt die Galle hoch«, wenn Ärger oder Wut spürbar in der Luft liegen. Idealerweise führt ein Ausdruck dieser Gefühle, beispielsweise ein klärendes Gespräch oder ein Aufzeigen der eigenen Grenzen, zu einem Ausgleich der Situation. Kommt es nicht zu dieser Transformation durch die Energie der Wut, bleiben Menschen dauerhaft zum Beispiel in chronisch belastenden Situationen, Arbeitsverhältnissen oder Beziehungen gefangen, sind nicht selten Probleme mit Leber und Gallenblase die Folge. Die Leber besitzt sowohl auf organischer als auch auf energetischer Ebene eine Reinigungsfunktion. Schaffen wir es nicht, uns von Ballast zu befreien, vergiften wir uns selbst, sei es mit angestauten Emotionen wie zum Beispiel heruntergeschluckter Wut oder unverdaulichen Nahrungsmitteln. In der Folge muss unsere Leber Schwerstarbeit leisten und kann überfordert sein und ins Stocken kommen.
Ein anderer körperlicher Ausdruck von Wut und innerer Hitze ist ein erhöhter Blutdruck. Einem wütenden Menschen sieht man förmlich an, wie er unter Druck steht.
Chronischer Bluthochdruck ist eine der am weitesten verbreiteten Erkrankungen, deren Ursachen medizinisch oft nicht geklärt sind. Meines Erachtens hat er viel mit der Summe an nicht ausgedrückter emotionaler Energie zu tun.
Auch die ganze Palette an autoaggressiven Symptomen und Erkrankungen, wie zum Beispiel Allergien, kann in Zusammenhang mit unausgelebter Wut stehen. Die Bezeichnung autoaggressiv spricht hier schon für sich. Aggression bedeutet Angriff, und richtet sich dieser nicht auf etwas Äußeres, tobt sich die entsprechende Energie im Inneren aus. Ich selbst litt jahrelang an ausgeprägtem Heuschnupfen, weiß also, wie sich dieser Kampf im eigenen Körper anfühlt. Tatsächlich ist dieses Problem inzwischen verschwunden. Ich führe das auf meine innere Arbeit in den letzten Jahren zurück, wobei mein Körper die Bühne dieser Veränderung ist.
Depression und Süchte
Findet Wut einen gesunden Ausdruck, ist Lebendigkeit die Folge. Daher wird Depression auch mit nicht gelebter Aggression im Sinne von Lebensenergie in Zusammenhang gebracht. Die eigene Kraft wird unterdrückt. Entsprechend fühlen depressive Menschen sich in der Regel energie- und antriebslos.
Viele Menschen versuchen, die Frustration darüber, nicht zu bekommen, was sie eigentlich möchten, mit Suchtmitteln wie Alkohol und übermäßigem Essen zum Verschwinden zu bringen – was allerdings in der Regel nicht zufriedenstellend funktioniert. Manchem Alkoholiker öffnet sich zwar durch das Trinken das Tor zu seiner Wut, und er wird durch den Alkohol ungehemmter im Ausdruck seiner Emotionen, was aber natürlich nicht der richtige Weg ist und die Situation zumeist nur schlimmer macht.
Anstatt uns zu betäuben oder unangemessen auszuleben, sollten wir lieber alles tun, um Ressourcen, Wege und Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie wir uns und unser Potenzial kreativ ausdrücken können.
Zynismus
Das wahre Empfinden eines Menschen, der mit Zynismus reagiert, ist alles andere als witzig. Dahinter verbirgt sich oft eine schwelende, teilweise schon kollabierte Energie, die bislang keinen gesunden Ausdruck gefunden hat. Zyniker leiden oft an einer tiefen Frustration über nicht erfüllte Bedürfnisse sowie seelischem oder auch körperlichem Schmerz. Zynismus bedeutet verbale und passive Aggression. Nicht gelebte emotionale und körperliche Impulse werden auf die Ebene des verbalen Ausdrucks verschoben – im Prinzip handelt es sich um intellektualisierte Wut.
Wenn es dem Zyniker gelingt, Schritt für Schritt seine wahren Gefühle ins Bewusstsein zu holen und zu empfinden, kann dadurch der innere Druck weichen, um einem Gefühl von Weichheit und menschlicher Verbindung Platz zu machen.
Generelle Unzufriedenheit
Sind Menschen nicht erfüllt, sondern mit sich und der Welt unzufrieden, findet diese Wut auf sich selbst oft Ausdruck in Nörgeln, Schuldzuweisungen oder Lästern über die anderen. Menschen, die innerlich einen hohen Anspannungsgrad haben, scheinen manchmal förmlich Konflikte oder schwierige Situationen zu suchen, um eine Möglichkeit zu finden, sich zu entladen.
Zu lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen, ist hier besonders wichtig.
Das Umfeld
Was wir in uns selbst unterdrücken, bringt in der Regel unser nächstes Umfeld zum Ausdruck. Manche Menschen scheinen selbst sehr friedlich zu sein, haben aber immer wütende Menschen in ihrer Nähe. Beispiele dafür sind die liebevolle Mutter, deren Kind immer so unglaublich wütend ist, oder die genügsame Ehefrau, die schon seit 30 Jahren mit einem Choleriker verheiratet ist – oder umgekehrt.
Interessant wird es dann, wenn sich Elemente eines solchen Systems bewegen, zum Beispiel die Mutter anfängt, Grenzen zu setzen. Dann verändert sich das gesamte System.
ÜBUNG
Im Dialog mit der Wut
Diese Übung ist wunderbar geeignet, um mit Ihrer Wut besser in Kontakt zu treten, sie kennenzulernen und ihre Botschaft zu ergründen. Je neugieriger und unvoreingenommener Sie an diese Übung herangehen, desto besser wird sie funktionieren und Sie möglicherweise verblüffen. Nehmen Sie sich Zeit, wirklich in Ihren Körper hineinzuspüren und sich nicht von der Stimme Ihres Verstandes ablenken zu lassen. Planen Sie mindestens eine Stunde Zeit ein für diese Übung. Sorgen Sie dafür, dass Sie in dieser Zeit ungestört sind. Sie haben nämlich ein Date mit einem Freund – Sie treffen sich mit Ihrer Wut.
Stellen Sie zwei Stühle einander gegenüber auf. Der eine ist für Sie, der andere Stuhl steht symbolisch für Ihre Wut – als sei sie ebenfalls eine Person.
Setzen Sie sich nun zunächst auf Ihren Stuhl. Machen Sie es sich bequem, die Füße fest auf dem Boden, und stellen Sie sich darauf ein, die Wut und Ihr Verhältnis zu ihr zu ergründen.
Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich bildlich vor, wie die Wut-Energie auf dem anderen Stuhl Ihnen gegenübersitzt. Wie sähe sie wohl aus, wenn sie ein Wesen wäre?
Begrüßen Sie die Wut freundlich, im Bewusstsein, dass sie ein Teil von Ihnen ist, der eine positive Absicht hat. Sagen Sie zum Beispiel: Ich möchte dich besser kennenlernen.
Wechseln Sie dann den Stuhl und spüren Sie in sich hinein. Sie befinden sich jetzt praktisch in den Schuhen Ihrer Wut. Wie fühlt sich das körperlich an, was möchten Sie vielleicht ausdrücken? Geben Sie Ihrem Denken eine Pause und fühlen Sie einfach. Was würden Sie aus dieser Perspektive zu sich selbst sagen? Lassen Sie sich Zeit, in sich hineinzuspüren, und drücken Sie aus, was sich zeigt.
Nun gehen Sie wieder zurück auf den ersten Stuhl. Bedanken Sie sich bei Ihrer Wut. Stellen Sie ihr Fragen, die Sie beschäftigen, zum Beispiel: Was willst du mir sagen? Was brauchst du von mir? Was soll ich in Situation XY tun? Wie werden wir zwei ein gutes Team? Dann setzen Sie sich wieder auf den Stuhl der Wut und spüren der Antwort in sich nach.
Wechseln Sie neugierig zwischen den Positionen hin und her. Wertschätzen Sie Ihr Gegenüber wie einen guten Freund und finden Sie Vereinbarungen für Ihre Beziehung, zum Beispiel: Bis zum Wochenende rede ich mit meinem Chef.
Beenden Sie die Übung, indem Sie sich beieinander bedanken und freundlich voneinander verabschieden.
Machen Sie sich Notizen – oder wenn Sie kreativ veranlagt sind, malen Sie ein Bild zu dieser Erfahrung.