Читать книгу Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft - Stefanie Gerstenberger - Страница 7
Оглавлениеimmer noch 4. Mai, nachmittags
Der Bus hatte Verspätung, na super, das wäre ein guter Start, zu diesem blöden Kurs auch noch zu spät zu kommen, sodass alle mich beim Eintreten anstarren würden. Vielleicht hätte ich Mama doch überreden sollen, mich zu bringen. Manchmal träumte ich von einem Roller, den man mit sechzehn fahren durfte, so einem pastellfarbenen Ding, wie die meisten Mädchen aus den höheren Klassen sie besaßen. In drei Monaten, Ende Juli, würde ich sechzehn. Aber wir hatten sowieso nicht so viel Geld. Und wenn Tante Dagmar …? Die hatte mir immerhin gleich das neueste iPhone geschenkt, sobald es raus war. »Damit du mithalten kannst. Ich weiß doch, wie das ist.« DDD anbetteln? Pfff. Ein bisschen Stolz hatte ich ja nun doch. Ich musste wieder an den traurigen Kirschbaum denken, durch Tante Dagmars Geldgier seiner Baumkollegen beraubt …
Endlich bog der Bus um die Ecke, gondelte durch ganz Godesbach und erklomm dann die lange Auffahrt zum Internat. Edstone is your Future! und für die ganz Dummen auch auf Deutsch: Edstone ist Deine Zukunft! Die Sprüche hingen noch vom letzten Infotag auf goldenen Werbebannern über der Straße, um den Eltern, die ihre Kinder hier parkten, das schlechte Gewissen zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, was meine Zukunft war. Vielleicht die zweite Portion Hühnerfrikassee, die ich heute Abend in mich hineinschlingen würde?
Die Schule war in einem alten Schlossgemäuer untergebracht. Akkurat getrimmte Hecken und Lorbeerbäumchen in der Auffahrt, ein imposanter Torbogen zu einem romantischen Innenhof mit Tischtennisplatten. Hinter dem Schloss hatten sie eine moderne Schwimmhalle gebaut und einen Hockey-platz angelegt. Außerdem gab es den Park mit den Bänken, die nur interessant wurden, wenn Timo darauf saß.
Ich fand den Kurs auf Anhieb. Mit mir drückten sich noch zehn andere Schüler auf dem Flur vor der Tür zu Raum A202 herum. Ich sprach mit keinem von ihnen, ich kannte die meisten zwar vom Sehen, aber was hätte ich denn mit ihnen reden sollen?
»Willkommen zum Streitschlichter-Kurs«, begrüßte uns Frau Mansky auf Englisch, nachdem wir uns in einem Sitzkreis niedergelassen hatten. Ich hasste Sitzkreise, die waren aus dem Kindergarten und außerdem konnte man sich darin so verdammt schlecht verstecken.
»Ich habe euch ausgewählt und eingeladen, weil ich der Meinung bin, dass ihr besonders geeignet seid, um auf unserer Schule bei kleineren Konflikten unter Schülern zu vermitteln. Oder Mobbingopfer zu unterstützen.« Ihr Blick verharrte auf mir, nun nickte sie mir sogar zu. Na danke, jetzt wissen alle, dass ich auch schon mal fertiggemacht worden bin. Ich versuchte, meine Füße ruhig zu halten, die unbedingt wie Hühnerkrallen auf dem Boden scharren wollten.
Der Kurs war öde. Wir mussten uns schlecht gezeichnete, sehr schlecht gezeichnete, Comic-Bilder anschauen, entscheiden, ob es sich um eine Konfliktsituation handelte, und spontan sagen, ob und wie wir eingreifen würden. Ich hätte die Comics besser hinbekommen, aber für das, was die Mansky von mir wollte, war ich bestimmt nicht geeignet. Wer würde schon auf mich hören? »Nein, Sydney-Aurelia, Stella-Europas Schuhe kosten vielleicht nicht 600 Euro, so wie deine, aber es ist kein Grund, deswegen nicht mehr mit ihr zu sprechen …« Mit einem falschen Lächeln auf dem Gesicht überstand ich die Stunde.
Draußen vor dem Torbogen hielt ich Ausschau nach Timo. Er wohnte hier, war also einer von den Internen. Aber ich traf nur Laura, eines der wenigen Mädchen in meiner Klasse, das keinen Doppelnamen oder Adelstitel trug. »Heiiiiiiijjjiii«, rief sie mir entgegen und riss dabei übertrieben Augen und Mund auf. »Was machst du denn hier?« Laura wohnte wie Timo im Internat. Ihr Vater war mit Lebkuchen steinreich geworden. Wir küssten uns rechts und links, das gehörte einfach dazu. Dabei bohrte sich ihre riesige Handtasche in meine Rippen. Gucci. Über tausend Euro. Leider nicht mal schön, für den Preis. Laura erwartete keine Antwort auf ihre Frage, wie auch für den nächsten Satz nicht: »Und? Irgendwas los bei dir?«
»Nee. Nichts Besonderes. Ach, na ja, die wollen bei uns im Café einen Film drehen.«
»Echt? Krass. Ist das so groß oder was?«
Laura war noch nie bei mir gewesen. Besser so. Mama, DDD und die Reste-Rampe eigneten sich nun wirklich nicht zum Herzeigen. »Nein. Aber sie wollen es wieder einrichten wie in den 50er-Jahren.«
»Cool. Amerikanische Produktion?«
»Nein. Finnische.« Shit, was erzähle ich denn da?
»Echt? Krass. Ist bestimmt ’ne coole Location für ’ne Party.«
»Klar. Vielleicht mache ich mal eine …«
»Mmmh«, machte Laura, doch ihr Blick meinte eher: Niemals. »Kommst du am Samstag mit shoppen?«
Ich dankte dem Universum für Lauras schnelles Vergessen.
»Äh, ich weiß nicht …« Ich konnte nicht shoppen, denn ich hatte keine Ahnung, was mir stand, hatte nicht mal eine Idee, welcher Stil mir gefiel. Schon wenn es darum ging, etwas ganz Banales, irgendetwas, für mich auszusuchen, fühlte ich mich wie gelähmt. Wollte ich Erdbeer oder Vanille? Den Platz am Fenster oder am Gang? Pferdeschwanz oder offenes Haar? Woher wussten die anderen das immer so genau?
»Ganz ehrlich, Charles? Du könntest schon mal einen anderen Look gebrauchen«, sagte Laura jetzt und nahm mich dabei mit zusammengekniffenen Augen ins Visier. »Ich hole mir auf jeden Fall die neuen Hosen, diese … ach wie heißen die, die oben so …? Weißt du nicht? Die hatte Kiesza in ihrem letzten Video an! Total geil!«
Ich schüttelte den Kopf. Die Hosen von Kiesza interessierten mich kein bisschen. Trotzdem fühlte ich mich unwissend und blöd. »Ich hatte meiner Mum versprochen, am Samstag mit ihr …«
Doch Laura hörte mir gar nicht zu, sondern tippte mit beiden Daumen etwas in ihr Handy, um den Markennamen der Hose herauszufinden.
»Ich sage meiner Mum ab und schick dir gleich ’ne SMS.« Wieder hauchten wir uns gegenseitig Küsschen neben die Wangen. Nie im Leben würde ich freiwillig vor einer Umkleidekabine stehen und Lauras Auswahl an hautengen T-Shirts, stretchigen Hosen und Dessous begutachten, geschweige denn selbst etwas anprobieren. Natürlich war das verlogen, aber ich freute mich, dass ich nicht mehr ausgeschlossen war, wie noch vor ein paar Monaten, als mir keins von den Mädchen die Wange hingehalten hätte.
Im Bus schaute mich niemand an, als ich mich durch den Mittelgang schob; alle hatten ihre Blicke auf ihre Handys gerichtet und tippten darauf herum. Ich setzte mich auf einen freien Platz und tippte ebenfalls. »Sorry, meine Mum hat mich schon für Samstag fest eingeplant. Keller ausräumen und so …«, lautete die Nachricht an Laura. Daneben ein Smiley mit heruntergezogenem Mund. »Für den Dreh«, schickte ich noch hinterher und hätte mich gleich dafür schlagen können. Es war so peinlich, dass ich vor Leuten wie Laura versuchte, etwas Besonderes zu sein.
Am Neumarkt musste ich umsteigen. Direkt an der Haltestelle lag das Schiller-Gymnasium. Ich schaute über den leeren Schulhof zu dem aus flachen Quadern zusammengesetzten Schulgebäude. Manchmal traf ich hier Flora und Marú, wenn sie spät nach ihrer Theater-AG herauskamen. Der Bau sah typisch nach 70er-Jahre aus, doch irgendwie cool. Es schien, als ob jemand ein paar unterschiedlich große Pakete nachlässig zu einem Turm gestapelt hätte. Die Fassade bestand aus braunen Betonplatten mit dicken Kieseln an der Oberfläche, die großen Fenster waren von roten Rahmen umgeben. Am Schiller hatten sie neben vielen Theaterprojekten auch einen Musikzweig. Wie gerne wäre ich dort hingegangen! Vielleicht hätte ich ja sogar die Aufnahmeprüfung dafür geschafft. Auf dem Edstone gab es ja nur Volleyball, Hockey und den völlig überflüssigen Debattierklub. Und Schwimmen … Timo fiel mir wieder ein und machte sich als warme Welle in meinem Magen breit. Wo der wohl gerade war? Ich wünschte mir ganz fest, dass er die Straße entlanggelaufen käme, jetzt! Ich machte sogar die Augen zu. Drei, zwei, eins … Aber das nützte nichts. Nur ein Zehnjähriger mit einem knallgelben Kopfhörer um den Hals kam mir entgegen. Du wärst sowieso zu feige gewesen, ihn anzusprechen, sei doch ehrlich. Weder Flora noch die anderen waren zu sehen, nur mein Gesicht, das sich in der Glaswand des Haltestellenhäuschens spiegelte. Du bist fünfzehn und hast noch nie in deinem Leben jemanden geküsst. Und wer würde das schon wollen? Mein Bus kam.
Später, ich lag schon im Bett, fiel mir auf, dass mein Computer noch an war. Ich schlich zum Schreibtisch, schaute schnell auf Facebook vorbei und unterdrückte einen Freudensprung. Timo hatte Stella-Europas fiesen Kommentar kommentiert!
»Hey Mädels, seid doch nicht so gemein! :-D«
Er hatte mich verteidigt! Wow! Der coolste Typ der Schule hatte mich verteidigt! Ich war doch nicht nur Luft für ihn! Und er hatte mich zu diesem Spiel eingeladen, das war ja schon fast, fast … fast wie ein Date! Ich grinste glücklich vor mich hin und schaltete den Laptop aus. Ab morgen würde ich abnehmen! Und mit dem Fingernägelkauen aufhören! Ganz bestimmt. Und dann …
Ich kroch zurück ins Bett, starrte durch das offen stehende Fenster in den Nachthimmel, vor dem sich die gelichtete Krone des Kirschbaums wie ein Scherenschnitt abhob, und versuchte, den Timo-und-ich-im-Schwimmbad-Tagtraum von diesem Nachmittag noch einmal aufleben zu lassen. Wir standen nicht mehr am Beckenrand, sondern superschlank (ich) und mit breiten Schultern (er) eng umschlungen (wir beide) auf der Schulparty, als plötzlich Dagmars Kreissägen-Stimme durch den Flur schnarrte: »Dein Benehmen finde ich unmöglich, Marion!«
»Ist mir egal! Hier ist doch sowieso nichts mehr für mich zu tun«, rief meine Mutter zurück. »Ich gehe weg, nach Köln. Dann bist du mich los und kannst den Laden endlich schließen!«
Ich presste den Kopf auf das Kissen. Oh shit, Mama hatte immer noch diese bescheuerte Köln-Idee im Kopf! Draußen ging die Streiterei weiter: »Ich kann den Laden auch mit dir schließen! Und weißt du, was? Auch mir reicht es. Wir verkaufen. Wir verscherbeln alles an Dümpelmann, dann kannst du gehen, wohin du willst!«
»Dümpelmann? Aber …« Mamas Stimme wurde klein. »… haben wir uns Jahre gegen den gewehrt, um nun …?«
»Tja. Haben wir. Aber weißt du, was? Es ist mir scheißegal! Der liegt mir ja schon dauernd in den Ohren. Der hat seine Cafés ja nur gegründet, um mir eins auszuwischen.« Meine Tante schien direkt vor meiner Tür zu stehen, so deutlich hörte ich sie.
»Das glaubst du schon seit dreißig Jahren …«
»Es ist so!«
»Na klar, du hast wie immer recht, Dagmar. Dann ist es so.«
Mama holte wieder auf, sie drehte hoch. »Aber um mit deinen Worten zu reden: Es ist auch mir scheißegal!«
»Das war es ja schon immer.«
DDD, hör verdammt noch mal auf zu kreischen. Alle beide sollt ihr aufhören!
»Vati und Mutti haben sich bucklig geschuftet für uns!«
»Und wennschon. Du glaubst, ich schaffe das nicht, aber ich werde es tun! Ich kann sehr wohl für Charles und mich sorgen …«
»Ha!« So gemein lachen wie Dagmar konnte niemand sonst, den ich kannte. »Du hast doch noch nie etwas durchgezogen, Marion! Schule abgebrochen, Lehre gar nicht erst angefangen, dabei hat Vati dir einen so schönen Platz bei Dietmar Schauenberg besorgt.«
»Dietmar Schauenberg, dieser Widerling, hat mich gleich am ersten Tag am Teigmischkessel angegrapscht. Wie oft soll ich das noch sagen?«
»Nichts hast du zu Ende geführt. Und dann musstest du ja unbedingt diesem Kerl nach Frankreich folgen.«
»Sag nichts gegen Alain! Du kennst ihn nicht!«
Ja, und ich auch nicht, Mama. Danke für ein Leben ohne einen Vater! Alle anderen haben einen, wenigstens ab und zu, nur ich nicht.
»Du bist eben nicht besonders schlau, und wenn ich Charlottes Schule nicht zahlen würde, wäre sie schon längst auf demselben Weg wie du!«
Was für eine Unverschämtheit! Die spinnt doch.
»Du hast dein Studium doch auch nicht zu Ende gebracht …« Mamas Stimme klang kläglich und schon fiel Dagmar ihr schrill ins Wort:
»Ich bin wegen euch zurückgekommen!«
»Was?«, schrie jetzt Mama. Ich zuckte zusammen, denn so laut wurde sie sonst nie: »Du hast heulend in deinem Studentenzimmer gelegen! Vati musste dich nach Hause holen.«
»Das ist eine Lüge! Ich hätte das erste Staatsexamen garantiert beim zweiten Anlauf geschafft. Dann wäre ich heute ganz woanders, nicht bei der AVG, sondern … Ich hab das für euch und das Café getan!«
Nach diesem Satz war es auf einmal still. Ich spürte, wie verkrampft ich auf meiner Matratze lag. War’s das jetzt? Gib dich doch jetzt nicht geschlagen, Mama. Und als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagte sie auf einmal: »Ich habe dich nicht darum gebeten.« Wieder Stille. Bevor Mama anfügte: »Egal. Wen interessieren diese alten Kamellen schon. Wir verkaufen und ich werde gehen! So schnell wie möglich. Am besten schon nächsten Monat.«
Was? Ich sprang aus dem Bett. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Wie stellte sie sich das vor? Godesbach verlassen? Nur um in einem Supermarkt an der Kasse zu sitzen, während die Flugzeuge über ihren Kopf hinwegdonnerten? Ich riss die Tür auf, um einfach irgendwas zu tun.
»Vergiss es, Mama, ich gehe nirgendwo mit hin!« Ich knallte die Tür wieder zu. Mein Herz klopfte. Die ganze Welt war so ungerecht!
Wütend schaute ich mich um und griff nach der alten Armbanduhr auf dem Schreibtisch, die Mama mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die kam noch aus ihrer eigenen Kindheit und sie hing sehr daran. Die kleine Uhr war alt, das sah man, das runde Zifferblatt war gelblich angelaufen, die Zahlen darauf winzig und kaum erkennbar. Mit dem blauen Lederarmband wirkte sie unspektakulär und nicht gerade wertvoll. In meiner Schule würde sie nicht einmal unter den angesagten Vintage-Style fallen. Darum trug ich sie auch nie. Mama hatte mich gebeten, vorsichtig mit der Uhr umzugehen, aber das konnte sie vergessen, ich war immer noch sauer auf sie, sehr sauer. Ich drehte grob an dem Aufzieh-Rädchen an der Seite, vielleicht ging das blöde alte Ding dadurch ja endlich kaputt. Fuck you! Schon fühlte ich mich besser, ich knallte die Uhr zurück auf den Schreibtisch, schlüpfte ins Bett und zog mir die Steppdecke über den Kopf und hörte meinem heftigen Atem zu.
Ich musste einige Stunden geschlafen haben, als ich mit einem Ruck aufwachte. Es war dunkel. Was hatte mich geweckt? Ich lauschte. Nichts. Selbst auf dem Hof der Spedition war noch Ruhe und die fingen schon um sechs Uhr an, ihre Lastwagen hin und her zu rangieren. Ich setzte mich auf. 05.04 Uhr zeigte die Digitalanzeige meines Weckers. Ohne Licht zu machen, schaute ich aus dem offenen Fenster. Es war immer noch sommerlich warm, selbst jetzt, kurz vor Sonnenaufgang. Der Kirschbaum trug keine einzige Kirsche dieses Jahr. Sogar die Blätter waren ihm alle ausgegangen – wie einem alten Mann die Haare. Fast hatte ich Mitleid mit ihm.
Ich schlurfte in die Küche, trank im Dunkeln einen Schluck Wasser und tapste wieder zurück in mein Zimmer. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich sah die Uhr auf dem Schreibtisch neben meinem Handy liegen und nahm sie in die Hand. Mamas bescheuerter Plan, nach Köln-Schnorz oder -Porz oder wie das hieß, zu ziehen, fiel mir wieder ein. Niemals! In hohem Bogen warf ich die Uhr aus dem Fenster. Sie landete ohne ein Geräusch irgendwo auf dem kurz geschorenen Rasen vor dem Kirschbaum. Sollte sie dort unten doch vergammeln!