Читать книгу Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft - Stefanie Gerstenberger - Страница 8
Оглавление5. Mai, morgens
Als ich aufwachte, war es furchtbar hell im Zimmer. Das Fenster stand immer noch offen, ich konnte Vogelgezwitscher hören. Die Sonne stand hoch über dem Kirschbaum, dessen Kirschen als unzählige hellrote Tupfen durch das volle Laub schimmerten. Hä? Blätter? Über Nacht? Und gestern hatte er doch keine einzige … Wie viel Uhr war es überhaupt, warum hatte mein Wecker nicht geklingelt? Ich war zu müde, um den Kopf zu drehen. Die Bettdecke lag schwer auf mir und fühlte sich ungewohnt rau an und mein Körper war komplett … Moment mal? Plötzlich war ich hellwach … Komplett nackt!
Komisch, ich schlief nie nackt, doch in den vergangenen Stunden schien ich mich offenbar im Schlaf ausgezogen zu haben. Und wo waren meine Poster von Rihanna und Lady Gaga? Wer hatte sie abgenommen und stattdessen dieses komische Bild aus Pappe über mein Bett gehängt? Es zeigte zwei alte Typen, die hintereinanderstanden, der eine trug einen Schal, den anderen sah man gar nicht richtig. Simon & Garfunkel stand darüber. Voll depressiv die beiden. Daneben prangte ein überdimensionaler Atomkraft-nein-danke-Aufkleber, so groß wie ein Kürbis, und ein ebenso großes Frauenzeichen in blassem Lila.
Krass. Die Möbel sind nicht von mir, die Tapete ist der Horror und die kindische Lampe an der Decke habe ich auch noch nie gesehen. Anscheinend habe ich woanders übernachtet und das total vergessen … Na sicher, schon bei den vielen halb reifen Kirschen da draußen hätte ich skeptisch werden müssen! Ich schaute mich um. Doch das Fenster sah aus wie bei mir zu Hause und war an der richtigen Stelle, das Bett und die Zimmertür auch. Ein himmlischer Geruch nach geschmolzener Schokolade durchzog das Zimmer, das mit ungefähr zwölf Quadratmetern so klein war wie mein eigenes. Wo war ich?
Ich überlegte. Nackt konnte ich unmöglich unter der Decke hervorkommen. Ich lauschte. Irgendetwas fehlte. Dann wusste ich mit einem Mal, was: Die Laster von der Spedition rumpelten nicht wie sonst über den Hof. War vielleicht Sonntag? Hatte ich einfach nur zu lange gepennt? Oder nach einem Sturz auf den Kopf ein Jahr im Koma gelegen? Aber ich war nicht gestürzt … oder doch?
Über dem Stuhl hing ein hellblauer Bademantel, der sah sauber aus. Ich beschloss, ihn überzustreifen, und dann würde ich herausfinden, wo ich gelandet war. Ich warf die Decke zurück, huschte in gebückter Haltung hinüber zu dem Frotteemantel, schlüpfte hinein und schaute mich weiter neugierig um. Kein Flachbildschirm mehr, keine Poster, bis auf die braven Daddys da oben auf ihrem Pappdeckel. Wenn ich es mir genau überlegte, sah der Schreibtisch doch so aus wie mein eigener, war aber merkwürdig aufgeräumt. Kaum etwas lag darauf, kein Laptop, kein Handy, kein iPod, nur ein paar Hefte, Stifte und eine olle Schreibtischunterlage von Die Patisserie. Halt, die Firma kannte ich irgendwoher. Den Schreibtisch kannte ich. Ich war also doch zu Hause in meinem Zimmer, nur hatte jemand über Nacht alles umdekoriert und meine Sachen verschwinden lassen. Gab es nicht eine Fernsehsendung, in der sie so etwas machten?
Im Regal stand kein einziger von meinen bunten Fantasy-Romanen mehr, sondern nur noch grüne, gleich große Bücher. Goethe. Thomas Mann. Fontane. Oh Gott, was war das denn? Schulliteratur. Dazu einige langweilig aussehende Romane und viele gelbe Reclam-Heftchen. Vorsichtig öffnete ich den unbekannten dunkelbraunen Kleiderschrank, meiner war weiß und von IKEA, und betrachtete die Klamotten, die auf den Bügeln hingen. Karierte Blusen, gestrickte Westen, seltsame Kleider aus grob gewebtem Stoff und – Latzhosen! Drei Latzhosen in Orange, Gelb und Rot. Wer, um Himmels willen, sollte das tragen? In den Fächern lagen T-Shirts, Socken. Das Zeug war zwar nicht hübsch, sah aber einigermaßen neutral aus. Doch dann besah ich mir die Unterwäsche. Weiße Rippunterhemden und weiße Unterhosen mit verwaschenen Blümchen darauf, keine BHs, sosehr ich auch wühlte …
Ich nahm mit spitzen Fingern eine der weißen Unterhosen und ein T-Shirt und begann, mich anzuziehen. »Was soll der Blödsinn …«, murmelte ich halblaut. Ich hatte keinen Spaß an solchen Spielchen. Vielleicht waren ja Kameras versteckt, ich schaute mich um und wunderte mich im selben Moment über mich. Dachte ich etwa wirklich, ich wäre in dieser Sendung für asoziale Jugendliche, bei Die strengsten Eltern der Welt? Ich war ja schon völlig durchgeknallt. Ich tat so, also ob alles in Ordnung sei, nahm die gelbe Latzhose vom Bügel und stieg hinein. Das Teil war erstaunlich bequem, trotz der schrecklichen Farbe. Als ich mich im Spiegel sah, musste ich unwillkürlich lachen. Ich sah aus wie ein Handwerker, ein Malerlehrling oder so. Ich schlang meine rotbraunen Haare im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zusammen, nahm einen Bleistift vom Schreibtisch, steckte ihn hindurch, das würde halten, und stellte mich dann ans Fenster.
Auch unser Garten sah an diesem Morgen anders aus, definitiv! Bäume überall, dazwischen mein guter alter Kirschbaum, aber plötzlich in voller Pracht. Der kleine Holzschuppen glänzte, so neu waren seine Bretter. Das Gras war anscheinend schon lange nicht gemäht worden, denn unter mir lag eine Wiese mit weißen und rosa Kleeblüten und jeder Menge anderer Blumen. Ein paar zitronengelbe Schmetterlinge flatterten darüber. Ein Bild wie aus einem kitschigen Zeichentrickfilm. Gleich würde wahrscheinlich Biene Maja um die Ecke gebrummt kommen.
Ich merkte, wie mir der Mund offen stand, und klappte ihn zu. Und wieder zog mir der Schokoladengeruch in die Nase. Irgendetwas lief hier ganz komisch, ich war in einem anderen Film und musste herausfinden, was passiert war.
Leise öffnete ich die Tür und ging die Treppe hinunter. Mama!, wollte ich rufen, doch es war so still, dass ich mich nicht traute. Barfuß rannte ich die Stufen hinab, meine Mutter würde hinter dem Tresen stehen oder in der Backstube Kartons mit Topflappen oder Küchenrollenhaltern auspacken. Sie würde wissen, was los war. Die schwere Tür war nur angelehnt, vorsichtig stieß ich sie auf. Die Backstube war leer und viel wärmer als sonst. Es standen keine Kartons mehr zwischen den Öfen, die alle in Betrieb schienen. Nur einen älteren Mann konnte ich sehen, er stand mit dem Rücken zu mir. Er trug eine weiße Haube auf dem Kopf und Bäckerkleidung und kam mir sehr vertraut vor, selbst von hinten. Jetzt drehte er sich und ich sah die leere Hülle seines linken Ärmels, säuberlich aufgerollt und mit einer Sicherheitsnadel an seiner Schulter befestigt.
Ich schluckte, mein Hals war plötzlich ganz trocken. Unbemerkt schlich ich hinter ihm entlang, ging zwischen komischen Rühr- und Knetmaschinen hindurch, vorbei an den unzähligen Blechen aus Aluminium, auf denen Pralinés lagen. Waren das die Mokkaschneckchen von früher? Die Creme-Igel und Krokantpilze? Und das da mussten die »Zauberhaften« sein. Ich erkannte sie an dem feinen Zucker, mit dem sie wie von silbrigem Staub überzogen waren. Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Stirn. Die Mokkaschneckchen von früher, der Kirschbaum wie früher, wenn jetzt auch das Café wieder so eingerichtet wäre, wie ich es von den Fotos kannte, würde ich ausrasten!
Ich beeilte mich, hinter die Ladentheke zu kommen, um nachzuschauen. Beinahe wäre ich mit einer kleinen rundlichen Person zusammengestoßen, die in diesem Moment mit Schwung um die Ecke kam, ein leeres Blech in den Händen.
»Verlaufen?«, fragte die Person freundlich. Ihr rötlicher, von grauen Strähnen durchzogener Haarknoten wippte auf ihrem Kopf. »Die Toilette ist dort vorne!« Sie ging lächelnd an mir vorbei.
Ich blieb stehen, mein Magen überlegte offenbar, ob er sich übergeben wollte, und am liebsten hätte ich mich irgendwo hingesetzt, denn meine zitternden Beine hielten mich kaum noch. Meine Omi hatte mich gerade zur Toilette geschickt! Meine Omi war seit über zehn Jahren tot!
Mit unsicherem Schritt schleppte ich mich hinter der Kuchenvitrine hervor. Genau wie ich es vermutet hatte: Auch das Café sah aus wie früher. Die Wände waren mit einer samtig roten Stofftapete bespannt, die kleinen Barocksessel fein gestreift und an den Wänden standen wieder die dunkelroten Lederbänke, auf denen ich als kleines Kind so gerne herumgeturnt war.
Ein paar vereinzelte Damen saßen an den Tischen und tranken Kaffee, jede von ihnen hatte einen Hut auf und ein Stück Torte vor sich. Am frühen Morgen! Oder wie spät war es eigentlich? Sie plauderten quer durch den Raum miteinander. Manche rauchten. Das war doch nicht erlaubt! Oder doch?
Vor dem Verkaufstresen standen ein paar Kunden, geduldig darauf wartend, dass sie bedient wurden. Manche musterten mich; ein alter Mann mit einem Stock grüßte mich sogar. Ich grüßte zurück und hoffte, dass niemand meine nackten Füße bemerken würde. Schnell setzte ich mich an das Ende einer Lederbank, von wo aus ich alles beobachten konnte, vom Tresen aber nicht gut gesehen wurde.
Ich hätte am liebsten geheult, so sehr vermisste ich meine Großeltern plötzlich, obwohl sie doch zum Greifen nah waren.
Da war sie wieder – Omi kam mit einem vollen Blech zurück, sie legte Schweineöhrchen auf weiße Papiertabletts, gab Wechselgeld heraus, schichtete die Pralinen aus der Vitrine vorsichtig in durchsichtige Tütchen, verzierte diese liebevoll mit grünen Schleifchen und reichte sie ihren Kunden. Wie schön! Wie schade. Warum hatten wir diese grünen Schleifen nicht mehr? Warum hatten wir das alles nicht mehr …?
Ich schaute durch die Glastür. Der Schriftzug, den ich gestern noch angestarrt hatte, war derselbe: Café Zimt, in Spiegelschrift. Doch draußen breitete ein großer Baum seine Krone schützend über den Vorplatz. War das etwa der Baum, durch den Omi und Opa damals ums Leben gekommen waren? Der sie während eines Sturms mit einem seiner großen Äste erschlagen hatte? In ihrem Auto. Oh Gott! Da stand er.
Ich hatte ganz offenbar einen Zeitsprung gemacht, wie Marty McFly aus Zurück in die Zukunft, das war klar. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, in welches Jahr ich zurückgereist war. Wie irre das alles klang! Konnte das denn wirklich sein? So was passierte doch nur in Filmen.
An der Wand gegenüber hing ein Kalender, ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, um was für einen Monat es sich bei dem Kalenderblatt mit der Rosenblüte handelte. Mai, es war Mai, wie auch gestern noch, als ich nichts ahnend ins Bett gegangen war. Das Jahr konnte ich nicht genau erkennen. Irgendwas mit einer Neunzehn am Anfang. Einer Neunzehn! Also Neunzehnhundert…, ich erhob mich und ging darauf zu. 1980! Der 5. Mai 1980. Oh Gott, ich war über Nacht – ich rechnete im Kopf – fünfunddreißig Jahre weit in die Vergangenheit zurückgeschlittert. Mama müsste also wie alt sein? Ich rechnete wieder, während mein Magen immer noch verrückt spielte. Fünfzehn! So wie ich. Im August würde sie sechzehn werden. Jetzt drehte sich auch mein Kopf, denn ich verstand das alles nicht! Wie war ich hierhergekommen? Ich hatte doch nichts Besonderes gemacht! Jetzt reiß dich zusammen und überleg! Du hast im Bett gelegen, als du Dagmar und Mama streiten hörtest. Dann hast du Mama angeschrien und hast dich wieder schlafen gelegt. Mehr war nicht.
Na super, wie sollte ich je wieder zurück in meine eigene Zeit kommen? Ich musste sofort … irgendetwas tun … aber was eigentlich?
Obwohl … Wenn ich jetzt schon mal hier war: Wäre es nicht genial, noch einen schnellen Blick auf Mama als Teenager zu werfen? Und Dagmar erst? Wie die wohl aussah? Ich schaute an mir hinunter und musste lächeln. Die gelbe Latzhose war unmöglich. Ob meine Mutter auch so eine trug?
Erst jetzt bemerkte ich den großen Hund, der unter der Bank aus dunklen Augen zu mir emporschaute. Sein wuscheliger, goldblonder Kopf lag dicht neben meinem nackten Fuß, es sah so aus, als ob er lächelte. Na klar, der Hund von den Fotos!
»Das ist Zucker, unser Café-Hund, der tut nichts.« Meine Omi stand plötzlich neben mir. »Kann ich Ihnen etwas bringen?« Meine Omi siezte mich.
»Äh, nein. Ich warte auf … Marion!« Es war komisch, Mamas Vornamen auszusprechen. Vor Verlegenheit tätschelte ich Zucker, der daraufhin mit dem Schwanz auf den Boden klopfte und ein paar Zentimeter unter der Bank hervorgerobbt kam. Ob Omi die eigene Ähnlichkeit mit ihrer Enkelin auffiel? Immerhin hatte ich nicht nur die roten Haare von ihr geerbt, sondern auch die hellbraunen Augen, und den Dickschädel gleich dazu, wie Mama behauptete.
»Die muss jeden Moment kommen, aber seid ihr denn verabredet? Montags nach der Schule hilft sie ihrem Vater immer mit den Petit Fours.«
»Mit wem?«
»Na, bei den Pralinen.«
»Ach ja? Kann sie das denn?« Ich wurde rot. »Wie schön! Wir … wir schreiben ein Referat zusammen, über … über Kinderarbeit.« Ich lächelte, biss aber gleichzeitig die Zähne zusammen.
Na toll, was anderes fällt dir nicht ein, beschimpfte ich mich. Omi Elsa guckte schon alarmiert. »Nein, war Spaß. Wir schreiben … Na ja, über die Berufe unserer Eltern.« Mist, was war los? Leichtes Abändern der Wahrheit und Improvisieren gegenüber Respektspersonen fiel mir sonst leichter.
»Schon gut, da kommt sie ja!«
Ein dünnes Mädchen lief hinter der Verkaufsvitrine hervor, sie hatte eine Papiermütze über die kurzen dunklen Haare gestülpt und band sich im Laufen eine weiße Schürze auf dem Rücken zu. Darunter konnte ich den Blick auf eine weitere Latzhose erhaschen, eine lilafarbene, viel zu groß für sie, und, oh Gott, wie schrecklich war das denn? Um den Hals trug das Mädchen ein gebatiktes Tuch, in Knallgrün. Sie stürmte auf Omi zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange, den diese etwas starr entgegennahm und auch nicht erwiderte.
»Bin spät dran, musste Anne noch mit ihrem Fahrrad helfen. Kette war abgesprungen. Aber jetzt bin ich da! Vati und ich probieren heute noch mal die Türmchen mit der Bitterorangenmarmelade, ich glaube, mit dem neuen Rezept für den Biskuitteig kriegen wir die besser hin …«
Ich wandte meine Augen keine Sekunde von dem Mädchen ab. Das … war … Mama! Sie war so … so unglaublich jung. Und ihre Haut fein und glatt, vor allen Dingen am Hals, der von dem fürchterlichen Tuch an einigen Stellen frei gelassen wurde. Sie redete über Biskuitteig und hatte im ganzen Gesicht keinen einzigen Pickel. Wie machte sie das nur? Nun sah sie wirklich aus wie die junge Audrey Hepburn, deren Filme sie heute so liebte. Allerdings waren da die breiten, wild wuchernden Brauen, die sich wie zwei schwarze Raupen über ihren Augen ausruhten und zusammen mit der Latzhose und dem restlichen Ökofreak-Outfit den elfenhaften Eindruck gewaltig störten.
»Marion, deine Freundin hier wartet schon.« Omis Stimme riss mich aus meinen Beobachtungen. »Wenn sie mit in die Backstube geht, muss sie aber auch Haube und Schürze anziehen, und sie darf nichts anfassen, das weißt du ja. Diese Haare dürfen nicht …« Omi sah aus, als ob sie mir gleich über den Kopf streichen wollte. »Diese Haare sind so wunderschön! So wild! Früher, als kleines Mädchen, hatten meine dieselbe Farbe … Jaja, ich komme ja schon!« Sie eilte zum Nebentisch, an dem eine der Hut-Damen ungeduldig winkte.
Erstaunt starrte Marion mich an. »Meine Freundin?«
»Psst!« Ich legte den Zeigefinger auf meinen Mund. Mama liebte Geheimnisse, hoffentlich auch schon damals, mit fünfzehn … »Keine Freundin, aber ich brauche dringend deine Hilfe! Können wir nach oben gehen? In dein Zimmer?«
Sie musterte mich misstrauisch: »Und die Petit Fours?! Vati macht den Biskuit immer anders als ich, also, er nimmt …«
Oh Gott, Mama war nicht nur ein Öko-Freak, sondern auch noch begriffsstutzig. »Dazu kommen wir gleich«, unterbrach ich sie eilig. Ich wollte jetzt bestimmt nicht über Biskuitteig reden, der Marion anscheinend brennend interessierte.
»Pfff. Na gut, wenn du mir eben noch verraten würdest, wer du bist … Zucker, du kommst mit. Wenn das Mädchen böse ist, beißt du es, okay?« Marion lachte. Ihre Zähne waren viel weißer, als sie in ein paar Jahrzehnten sein würden, doch der rechte Eckzahn hatte schon die kleine abgeschlagene Ecke. »Wir gehen außen rum, Zucker darf nicht durch die Backstube!«
Wir gingen hinaus. Ich blieb stehen und schaute mich um. Die Metzgerei Hein gab es noch nicht, das ganze Haus fehlte.
»Das ist so krass schön hier, das Café und die Backstube und auch draußen! Ist ja viel mehr Platz hier, da ist heute nur noch ein …« Schmaler Durchgang, hatte ich sagen wollen, doch das würde Marion nicht verstehen. Der Goetheplatz war ein kleines Rondell am Ende einer Sackgasse, abgetrennt durch ein paar Steinbänke, eingerahmt von den Vorgärten der umstehenden Häuser. Dazwischen gab es Lücken, schmale, unbebaute Grundstücke mit kleinen Wäldchen aus jungen Bäumen und Büschen. Mit offenem Mund starrte ich in den riesigen Ahornbaum, durch dessen Blätter das Sonnenlicht in kleinen Sprenkeln auf das Pflaster vor dem Café fiel. Der Killerbaum! Nach dem Sturm war er gefällt worden. Zu spät. Heute gab es von ihm nur noch einen breiten Stumpf, aus dem in jedem Frühjahr neue Triebe sprossen. Dagmar sägte sie regelmäßig mit einem Brotmesser ab.
»Echt schön!«, murmelte ich. »Aber den Baum müsste man am besten jetzt schon fällen …«
»Hä? Fällen? Wer würde denn auf die Idee kommen?« Marion zog die Augenbrauen hoch. »Schon mal was von Umweltschutz gehört?«
»Nein, ich sagte, der Baum ge-fällt mir!«
Durch den Eingang an der Seite betraten wir das Haus wieder. Die Tür knarzte laut in ihren Angeln. Wenigstens daran hatte sich in der Zukunft nichts geändert. Zucker lief voraus.
»Sag mal, das ist doch meine Latzhose, die du da anhast«, sagte Marion, als sie hinter mir die Treppe in den ersten Stock hinaufging. »Den Fleck da kenne ich. Beim Färben ist das Gelb am Hintern nämlich etwas unregelmäßig geworden.«
»Ja, sitzt ’n bisschen enger bei mir als bei dir … Aber was hätte ich denn sonst anziehen sollen?«, erwiderte ich, als wir auf mein Zimmer zusteuerten, das jetzt natürlich noch Mamas Zimmer war. »Was anderes habe ich in deinem Monsterschrank leider nicht gefunden! Wusste gar nicht, dass du solche Sachen angezogen hast. Voll retro!«
»Voll was?!«
»Vergiss es.« Ich wusste, dass meine Sätze unverständlich für sie sein mussten, doch ich war total aufgeregt, es war so krass, fünfunddreißig Jahre früher durch unser Haus zu gehen.
Zucker war als Erster im Raum, er drehte sich ein paarmal um sich selbst, dann ließ er sich auf dem weißen Flokati-Teppich zwischen Bett und kleinem Sofa nieder und legte den Kopf zwischen die Pfoten. Marion machte die Tür hinter uns zu und stemmte die Hände in die Seiten: »Du bist hier also eingebrochen.«
»Eingebrochen? Sag mal, tickst du jetzt total?«
»Na ja«, Marions Stimme wurde leiser, fast drohend fuhr sie fort, »mein Zimmer und meinen Kleiderschrank kennst du offensichtlich schon!«
Ich zog die Luft durch meine Nasenlöcher und atmete genießerisch aus, der Schokoladenduft sammelte sich selbst bei offenem Fenster ganz besonders konzentriert in diesem Raum. »Boah, das riecht hier so genial!« Ich ließ mich auf die Knie neben Zucker fallen und streichelte ihm über den Kopf, woraufhin er die Augen schloss. »Und jetzt sehe ich endlich euern tollen Hund! Wie cool ist das denn?«
Marions Blick sagte, dass sie mich für verrückt oder Schlimmeres hielt. Ich musste langsam mit einer Erklärung herausrücken.
»Sorry! Ich kann dir alles erklären.«
»Das glaub ich kaum!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ich schaute zu ihr hoch. Jetzt siehst du aus wie Mama, hatte ich sagen wollen, doch das erschien mir nicht besonders schlau. »Stimmt. Ich kann dir gar nichts erklären, ich weiß nämlich auch nicht, wie ich hier hingeraten bin.«
In Marions glattem Gesicht regte sich nichts, sie wartete ab. Voll wie Mama, wenn sie innerlich kochte.
»Ich verstehe es ja selber nicht! Gestern Abend war noch alles ganz normal. Na ja, wir haben gestritten und ich bin eingeschlafen. Ach so, und morgens bin ich mal kurz aufgewacht, aber da war es noch dunkel und ich bin in die Küche gegangen und habe Wasser getrunken, und, keine Ahnung … da war nichts Besonderes. Und dann mache ich, zack, die Augen wieder auf und bin hier! Und du bist fünfzehn, so alt wie ich, und alles ist so was von strange …« Ich hob die Arme. Es klang völlig verrückt. Es war völlig verrückt. Marion runzelte die Stirn, sagte aber immer noch nichts.
»Ich meine, ich schlafe und werde wach und noch ist alles normal und dann habe ich noch auf die Uhr geschaut … deine … Mensch, das isses: deine Uhr!«, rief ich, sprang auf und stürzte zum Fenster. Zucker sprang auch auf und bellte. »Vielleicht hat das was mit der Uhr zu tun!«, rief ich über das Hundegebell.
»Zucker! Aus! Platz!« Zucker legte sich wieder hin, den Blick auf Marion.
»Da unten in der Wiese muss die Uhr liegen. Also bei uns ist das nur noch ein Stück Rasen, das Dagmar immer wie eine Besessene mit dem Rasenmäher bearbeitet, und wehe, jedes einzelne Hälmchen ist nicht millimeterkurz.« Ich drehte mich zu ihr, natürlich würde sie mein Gestammel nicht verstehen. Marion streckte den Kopf vor: »Du kennst Dagmar? Wie lange beobachtest du uns denn schon?«
Marion bewegte sich schrittweise rückwärts auf die Tür zu, ihre Hände suchten nach dem Griff.
»Euch beobachten? Tss, mein ganzes Leben schon«, sagte ich lachend, hob dann aber beruhigend die Hände: »Ich bin wie Marty McFly, verstehst du?« Sie sah mich völlig entgeistert an. »Der aus dem Film, Mann! Der den Zeitsprung macht und seinen eigenen Eltern bei ihrem ersten Date zusieht. Zurück in die Zukunft!«
Marion schüttelte verständnislos den Kopf. »Du heißt Marty? Und was ist ein Date?«
Ich atmete laut aus. »O Mann, sag jetzt nicht, du kennst Zurück in die Zukunft nicht!«
»Nein! Müsste ich?«
»Dann ist der Film wahrscheinlich noch nicht rausgekommen …«, murmelte ich.
»Marty? Kann es sein, dass du irgendwo abgehauen bist, dass sie dich jetzt suchen?«
»Was? Nein! Niemand sucht mich, und ich heiße nicht Marty, sondern Charlotte, den Namen hast du übrigens ausgesucht!«
»Ich?«
»Ja, im Jahr 2000 gefiel der dir anscheinend sehr gut … aber du nennst mich Charles, den Namen hat Opa mir gegeben, weil meine Ohren damals, als ich noch nicht so viele Haare hatte, angeblich den abstehenden Mega-Ohren von Prince Charles ähnlich sahen … Prince Charles? Ist dir bekannt? Schon jahre-lang Thronfolger von England.«
Marion nickte langsam und ich seufzte erleichtert. Na also, wenigstens Prince Charles gab es schon. »Er wird es aber kaum jemals werden, weil William … ach, so weit sind wir ja noch nicht.« Ich winkte ab. »Ich hole eben schnell die Uhr und dann siehst du, dass ich nicht total crazy bin.«
»Du bist total crazy!«
Ich überhörte diesen Einwurf. »Es ist die Uhr, glaub mir!«
»Welche Uhr meinst du denn?« Marion tastete verwundert an ihrem Handgelenk herum. Keine Uhr.
»Deine kleine Lieblingsuhr, die du am 8. August zum achten Geburtstag geschenkt bekommen hast. Opa, also dein Vater, hat dich morgens um acht geweckt und sie dir als allererstes Geburtstagsgeschenk überreicht. Das Armband war weinrot damals.«
»Hellrot«, wisperte Marion, »es ist hellrot, aber der Rest stimmt!«
»Mir hast du immer etwas von weinrot erzählt …egal, glaubst du mir jetzt?«
»Was?«
»Dass ich aus der Zukunft komme, dass ich deine Tochter bin!«
Aber Marion starrte mich nur an. Ich überlegte fieberhaft. Was konnte ich meiner Mutter noch erzählen, von dem nur ich allein wusste?
»Die Ecke von deinem Zahn vorne, die hast du dir an der Fensterbank im Badezimmer abgebrochen. Das tat sehr weh und deine Lippe hat stark geblutet, Dagmar hat dich geschubst, zwar nur ein bisschen, aber sie war’s. Niemand glaubte dir.«
Marions Mund öffnete sich. Selbstvergessen berührte sie mit einem Finger den betroffenen Schneidezahn und nickte. »Das ist die Härte! Aber ich schnall’s immer noch nicht …«
»Echt krass, oder?« Ich lächelte das Mädchen an, das verrückterweise irgendwann einmal meine Mutter werden sollte.
»Und du bist meine … Tochter?«
Jetzt war es an mir zu nicken.
»Also, ich weiß nicht … vielleicht hast du auch nur in meinen Tagebüchern gelesen.« Ihr Blick irrte durch den Raum. »Ich habe die so gut vor Dagmar versteckt, dass ich schon selber nicht mehr weiß, wo sie sind.«
»Aber es stimmt! Wirklich!«
»Dann erzähl mir mal von meiner Zukunft! Mit wem bin ich verheiratet? Wie sieht er aus? Er ist hoffentlich kein Bäcker! Haben wir immer noch einen Hund, so toll wie Zucker?« Marions Augen funkelten mich provozierend an. »Na, was ist los mit dir, Marty-zurück-aus-der-Zukunft, da hast du wohl keine Antwort drauf!«
»Ist ziemlich abgedreht, oder?«, antwortete ich, um Zeit zu gewinnen.
»Ja, so abgedreht, dass ich mir überlege, ob ich die Polizei rufe.« Jetzt versuchte sie, einen auf streng zu machen, das kannte ich schon von ihr. »Oder besser die Psychiatrie. Aus Schloss Edstein laufen öfter mal Patienten weg. Diese Irren hauen aus der Geschlossenen ab und tauchen dann bei uns im Garten auf.«
»Aus dem Schloss Edstein?«
»Ja, tu doch bitte nicht so! Du weißt wahrscheinlich so gut wie ich, dass die Klinik in einem alten Schloss untergebracht ist.«
»Die Klinik? Wie krass, das ist heute meine Schule, ’ne englische Privatschule, und nennt sich Edstone Boardingschool. Haben die das Ding einfach auf Englisch umbenannt …, ich glaub’s ja nicht, ich wusste gar nicht, dass da früher … uns erzählen sie immer was von einem ganz normalen Krankenhaus.«
Marion schüttelte wieder den Kopf, nun wahrscheinlich noch überzeugter von meiner geistigen Verwirrtheit. »Wie war das mit meiner Uhr?«, fragte sie sanft, so wie man mit gefährlichen Irren redet. »Die hast du also für deine Zeitreise benutzt?«
»Na ja, benutzt stimmt nicht ganz, ich habe sie aus dem Fenster geschmissen, nachdem ich sauer auf dich war. Wir sollten sie aber auf jeden Fall suchen gehen, die brauche ich nämlich, um wieder zurückzukommen. Also, in Filmen ist das immer so …«
Ich sah, wie Marion unter ihren dicken Brauen mit den Augen rollte, sie glaubte mir also immer noch nicht.
»Was hast du jetzt vor?« Sie räusperte sich.
»Ich? Ich möchte eigentlich so schnell wie möglich zurück, aber vorher gucke ich mir erst einmal unsere Wohnung an, ich bin nämlich neugierig! Und Dagmar, die will ich auch sehen!«
Schon drängte ich mich an Marion vorbei und öffnete die Tür. Marion lachte künstlich, als ob sie auf einer Bühne stände: »Tja, was wird eigentlich aus Dagmar? Sie wird doch nicht etwa auch Kinder haben, die tun mir jetzt schon leid!«
»Nein, keine Kinder. Sie hat studiert …«
»Natürlich, bei dem Abitur, das sie gerade gemacht hat. Ein Notendurchschnitt von 1,3.« Marion stöhnte. »Sie ist so schlau … das schaffe ich nie!«
Ich schluckte. Stimmt, wollte ich sagen. Doch wenn ich schon mal hier war, konnte ich doch endlich herausfinden, woran es lag, dass Mama sich bei jeder Gelegenheit vor Dagmar duckte wie ein Hund, der Prügel erwartete. »Sie wird keine Konditorin, so viel kann ich dir jedenfalls verraten …«
»Natürlich nicht«, sagte eine Stimme aus einer dunklen Ecke des Flurs. Dagmar! Ihre schemenhafte Figur löste sich von der Wand und stieß eine andere Tür auf. Ich beeilte mich, um hinter ihr in die helle Küche zu kommen. Ich wollte Dagmars Gesicht sehen!
Ich versuchte, nicht zu starren, als ich Haare, Augen, Mund des achtzehnjährigen Mädchens abscannte. Dass DDD jemals so jung gewesen war! Echt interessant. Auch ohne Faltenkranz um die blauen Augen und die welke Haut an ihren Wangen war in diesem Gesicht doch unverkennbar die mürrische Tante angelegt, die ich allzu gut kannte. Schon zog sie die Oberlippe skeptisch über die Vorderzähne zurück, wie sie es immer tat. Die Haut auf ihrem breiten Nasenrücken kräuselte sich dabei.
»Hallo, Dagmar!« Mein ganzes Leben hatte ich vor meiner Tante gezittert oder mir von ihr gegen gute Noten teure Laptops bezahlen lassen, doch nun konnte ich mir das Lachen kaum mehr verbeißen. »Schönes Hemd!« Ich zeigte auf das Jeanshemd mit dem Riesenkragen, das sich großzügig um Dagmars hageren Oberkörper legte, ihren breiten Hintern aber nicht gänzlich verdeckte. »Da hast du Glück.«
»Wieso?« Wie immer witterte sie Negatives in einem Kompliment.
»Wenn das in fünfunddreißig Jahren mal wieder modern wird, hast du es schon.« Das Kichern wollte einfach aus mir hinaus.
»Wer ist die denn?«, kam es gelangweilt von Dagmar. Schon mit achtzehn war sie so verdammt selbstsicher, warum nur?
»Das ist Charles«, erklärte Marion, »Charles, wie der englische Prinz! Sie ist … sie ist hier … weil …«, mit einer hilflosen Geste gab sie das Wort an mich weiter:
»Weil ich euer Leben besser kennenlernen möchte! Fremde Sitten und Gebräuche, fremde Welten, Länder …äh und so weiter.«
»Schüleraustausch«, fiel Marion noch ein. Ich warf meiner zukünftigen Mutter einen anerkennenden Blick zu.
»Aus welchem fremden Land denn?« Dagmar hatte diesen Verhör-Ton offenbar schon immer an sich gehabt.
»England. Ich bin dort geboren, aber meine Eltern sind Deutsche.« Meinen französischen Vater zu erwähnen, würde jetzt nur verwirren. Lieber England. Die Sprache konnte ich ja wirklich recht gut.
»Aha! Wie lange bleibt sie?«
»Sie bleibt nur kurz, du kannst sie aber auch gerne selber fragen«, erwiderte ich.
»Wissen Mutti und Vati davon?«
»Nein, Marion ist aber so lieb und fragt gleich eure Eltern. Ich sollte eigentlich während des Austauschs bei einem anderen Mädchen wohnen, bei der … wie hieß die noch?«
»Bei … bei Manuela Hövelkamp«, sprang Marion ein.
»Da ist aber jemand krank geworden. War es der kleine Bruder? Verdacht auf …?«
»Meningitis. Ansteckende Hirnhautentzündung.«
Na bitte, ohne dass Dagmar es sehen konnte, zeigte ich Marion den hochgestreckten Daumen und flüsterte: »Like!« Dabei würde die Welt noch mindestens fünfundzwanzig Jahre auf Facebook und den Gefällt-mir-Daumen warten müssen.
»Komm, wir gehen.« Marion zog mich davon. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in den Garten.
»Also, ich will dir ja glauben, aber ich kann es nicht!« Marion nahm die Schürze ab, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie über den tief hängenden Ast eines Birnbaums, dann erst setzte sie sich auf die Wiese.
»Ich kapier es ja selber kaum«, seufzte ich. »Und weiß immer noch nicht, wie ich es dir beweisen kann, aber es stimmt! Vorsicht, vielleicht sitzt du auf der Uhr!«
Marion erhob sich und fing an, wie ich auf Knien die langen Gräser zu durchsuchen.
»Also gut, ich tu jetzt einfach mal so, als ob ich daran glaube. Habe ich das Café übernommen? Ach, natürlich habe ich das Café übernommen«, antwortete sie sich. »Wer denn sonst? Dagmar etwa?« Sie lachte auf, doch es klang nicht überzeugt. »Jetzt sag doch mal, wann werde ich meinen zukünftigen Mann kennenlernen? Oder kenne ich ihn schon? Aber es wird nicht Matti aus der B sein?«, fragte sie mit einem kleinen, albernen Lacher, dass es mir das Herz in der Brust zusammenzog. »Ich weiß nicht, wieso, aber ich verlieb mich natürlich immer in die, die nichts von mir wollen.«
Oje. Dieser Typ aus der B war für meine kleine Audrey-Hepburn-Mama hier so hoffnungslos weit weg wie für mich Timo. Verlegen zuckte ich mit den Schultern, während ich den Blick gesenkt hielt und mit beiden Händen die hoch stehenden Halme auseinanderbog. Moment mal, Matti? Der Name kam mir doch bekannt vor, hatte sie den nicht am Abend zuvor erwähnt? Der Finne aus der Parallelklasse? Ich wollte gerade antworten, doch jetzt war Marion in Fahrt: »Hey, du Zukunftsorakel! Liebt er mich wirklich und ehrlich? Erich Fromm schreibt, dass die Liebe für manche Leute nur die Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz bedeutet. Oder so ähnlich. Aber er dein Vater …?« Ihre Mundwinkel verzogen sich plötzlich nach unten. »Au weia, das ist echt voll irre. Wie sieht er aus? Und wie ist er?«
Tja, das würde ich auch gerne wissen! Aber du hast immer behauptet, wir bräuchten ihn nicht. Pfff. Du vielleicht nicht …
»Ich hoffe, er engagiert sich politisch. Gegen Atomkraft wird er ja sowieso sein, aber wir haben nicht geheiratet, oder? Ich will nicht heiraten! Wozu denn auch? Hatte ich etwa ein Kleid an? Aber garantiert nicht so ’n weißes Spitzengewand, oder? Komm, sag schon! Bitte.«
Ich tat weiterhin so, als ob ich mich aufs Suchen konzentrierte. Meine Güte, wie sollte ich Mama, also diesem dünnen Anti-Atomkraft-Teenie-Mädchen mit der zerfransten Kurzhaarfrisur, das alles bloß erklären? Dass der Traummann erst megaspät vorbeigeritten kam, als das Anti-Atomkraft-Teenie-Mädchen schon über dreißig war? Dass es schon nach einem Jahr wieder nach Hause geflüchtet war? Dazu noch schwanger. Und sich der Traummann seitdem nie mehr gemeldet hatte?
Als ich Marion endlich antwortete, klang meine Stimme gepresst: »Weißt du, Marion, glaub es oder nicht, aber ich tu nicht nur so, ich bin wirklich deine Tochter! Und darum ist es besser, wenn du nicht zu viel über das weißt, was passieren wird. Vielleicht wartest du sonst auf irgendetwas und triffst die falschen Entscheidungen und ich werde gar nicht mehr gezeugt oder so.« Es war lebensgefährlich, am Ende nicht gezeugt zu werden, ich musste also höllisch aufpassen.
»Gezeugt, oh Gott, jemand muss dich ja mit mir zeugen!«
»Ja klar, der Mann, den du sehr geliebt … also liebst.« Ich lächelte, obwohl meine Mundwinkel sich wie eingefroren anfühlten. Na ja, eben dieser Alain, der Maler aus Frankreich, der mich angeblich nicht haben wollte. Der Grund für deine überstürzte Rückkehr ins langweilige Godesbach, dem du immer noch hinterhertrauerst. Und den ich nie kennenlernen durfte. Nein, das war ganz bestimmt nicht die richtige Vorbereitung auf ein tolles Liebesleben für diese Fünfzehnjährige, die Strickwesten und Latzhosen trug und anscheinend lieber komisches Zeug las und stundenlang Biskuitteig rührte, als einem Jungen zu nahe zu kommen. »Willst du nicht mal das Tuch abnehmen? Ist doch so heiß.«
»Nö. Ist übrigens ’ne gebatikte Windel.«
»Windel? In die kleine Babys …?«
»Genau. In die hier haben Dagmar und ich früher ordentlich Aa reingemacht.«
Hallooo? O Gott, das war ja ekelhaft. Ich bekam das Bild nicht mehr aus meinem Kopf. Doch Marion kicherte nur und zog sich das Teil noch fester um den Hals. »Heute gibt es ja Plastikwindeln. Doch früher gab es nur die hier. Aber keine Sorge, die wurden ja ausgekocht …«
»Es färbt ab«, sagte ich. »Ich hoffe zumindest, dass das nur Farbe ist, was deinen Hals so grün färbt.«
»Na und? Sag, wann bekomme ich dich denn?«
»Also …Moment, da muss ich rechnen …mit vierunddreißig.«
»Was? So spät? So lange muss ich noch warten? Das sind ja noch fast zwanzig Jahre!« Marion schaute anklagend in den Kirschbaum hinauf.
»Na ja, in denen übst du eben schon mal …« Ich kicherte los, doch Marion blieb ernst.
»Und was, wenn ich vorher schon schwanger werde?« Sie zuckte mit den Schultern, sodass die Verschlüsse ihrer Latzhose klirrten. »Diese schäumenden Patentex-Zäpfchen sind doch mehr als ekelig. Hab echt keinen Bock auf die … Aber so lange warten?«
»Was für Zäpfchen?« Du willst mir doch nicht sagen, dass du es schon gemacht hast.
»Verhütung.« Doch schon gemacht. Mit fünfzehn. Na toll.
»Habe ich aus Dagmars Schreibtisch geklaut.« Dagmar?
»Ha, da ist sie ja!«, rief Marion, bevor ich nachhaken konnte, und griff nach der Armbanduhr, die zwischen langstieligen Kleeblättern lag. »Mein Ührchen! Aber das Armband ist blau, gestern war es doch noch rot … Wie kommt das denn?«
»Sage ich doch, ich habe es mitgebracht. Aus der Zukunft! Und deshalb weiß ich auch, dass Opa es dir zum achten Geburtstag geschenkt hat. – Sag mal, du weißt nicht zufällig, woher er die Uhr hat?«, fragte ich.
»Nein. Aber sie war schon damals nicht neu, das konnte man sehen.«
Wir gingen nach oben.
»Und was machen wir jetzt? Schicken wir dich zurück, oder wie?«
»Natürlich, ich muss unbedingt zurück! Wer weiß, vielleicht suchen die mich schon. Also du. Und dann machst du dir Sorgen. Und dann wirst du echt unangenehm …«
»Tut mir leid. Heute Abend versuchen wir es, okay? Es muss ja wohl im Schlaf passieren.«
»Ich denke schon. Aber vorher will ich noch Omi und Opa ein bisschen mehr kennenlernen. Ich war vier, als sie … leider …«
»Sie sterben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich sterben sie, jeder stirbt irgendwann.« Der Satz klang härter, als ich beabsichtigt hatte. Aber es stimmte nun mal. Wenn es so überraschend geht wie bei Omi und Opa damals, umso besser. Sie waren beide sofort tot, als der Ast durch das Autodach brach. Und ich war vier und lag mit Keuchhusten im Krankenhaus.
»Aber sie haben nicht gelitten.« Wenn man mir selber in diesem Moment eröffnete, wann Mama sterben würde, wäre das schrecklich … Das da war Mama! Ich stöhnte leise, es würde eine Zeit dauern, mich an diesen Umstand zu gewöhnen.
Marion hatte sich noch nicht beruhigt: »O nein, wenn du vier bist, dann bin ich … Moment, lass mich rechnen …«
»Siehst du, zu viel Wissen über die Zukunft ist scheiße, das habe ich dir eben schon zu erklären versucht.«
»Ja, aber … warum denn? Und alle beide? Zugleich?«
»Beide zugleich, sie haben es gar nicht richtig mitgekriegt. Aber mehr erzähle ich dir jetzt nicht. Und sie sind ja schon recht alt gewesen, sie haben euch doch so spät bekommen.«
»Weil Vati erst spät aus der Kriegsgefangenschaft kam. Und dann noch zehn Jahre brauchte, um Mutti zu treffen und kennenzulernen.« Marions Blick wurde ganz weich. »Und wo? Na!«
»Im Zug, um nach Köln zu fahren!«
»Wo kam er her?«
»Aus Essen. Seiner Heimatstadt.«
»Wo hat er gearbeitet?«
»In Buxtehude, bei einem Imker.« Ich war dankbar, dass meine Mutter mir die Geschichte der Großeltern immer wieder erzählt hatte. »Weiß ich alles von dir!«
»Und mit einem Fünf-Pfund-Eimerchen …«, begann Marion.
»… voller Honig«, setzte ich den Satz fort, »kam er in das Abteil, in dem sie saß!«
Marion lächelte zum ersten Mal. »Und Omi beachtete ihn gar nicht. Ihr Verlobter war an Tuberkulose gestorben und sie wollte jahrelang keinen anderen.«
»Genau! Das war der schöne Anton. Und er sah aus wie Burt Lancaster. Ich hab mal Fotos von diesem Burt gesehen. Also soo gut aussehend war der nun auch wieder nicht.«
»Der schöne Anton! Dass du das weißt! Sie redet nicht oft von ihm. Sie redet überhaupt nicht oft von der Zeit nach dem Krieg und vom Krieg selber schon gar nicht.«
»Aber Opa Heinrich hat sich in ihre roten Haare verliebt.« Ich griff nach einer Strähne meines Haares und hielt sie hoch, falls Marion die Ähnlichkeit zwischen dem Haar ihrer Mutter und meinem noch nicht aufgefallen war. »Und hat sie überzeugt.«
»Und mit dem Honig hat sie für ihn die ersten Lebkuchen gebacken und sie haben in einem winzigen ehemaligen Milchladen das Café Zimt eröffnet. Und dann haben sie viele Schulden gemacht, um dieses Haus kaufen zu können. Das war mal ein Tanzcafé. Der Besitzer war pleite.« Ich hob die Hände. Wollte sie noch mehr wissen? Hatte ich sie jetzt endlich überzeugt?
»Ja, Schulden … Das Haus gehört der Bank, sagt Vati immer.«
Und bald gehört es der Bäckerei Dümpelmann, wenn DDD es wirklich an diesen Typ verkauft.
»Vati und Mutti haben sich bucklig geschuftet für uns«, zitierte ich Dagmars ständigen Satz, der alles rechtfertigte und der immer wieder aufkam, wenn es um die Zukunft des Cafés ging. Damit ist jetzt Schluss. Es wird verkauft.
Marion sah mir in die Augen und schüttelte dabei den Kopf. »Unglaublich«, wisperte sie, »echt unglaublich. Meine Tochter besucht mich … bist du mein einziges Kind?«
»Ja, du bekommst nur mich!«
»Ob ich mich später daran erinnern werde, dass du hier warst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Du wahrscheinlich schon. Aber ich vielleicht nicht. Keine Ahnung. Mir passiert das ja zum ersten Mal. Vor allem hab ich Schiss, dass ich nie zurückkommen werde. Stell dir vor, ich bin mit fünfzehn auf einmal weg. Spurlos verschwunden. Und du …«
»Nee, glaube ich nicht. Wir haben doch die Uhr! Du musst dich nur genau erinnern, wie das war, und alles wiederholen. Das habe ich mal in einer Geschichte gelesen, da ist ein Mädchen mit einem Papagei auf der Schulter durch einen Tunnel gefahren und kam in der Vergangenheit wieder raus. Auf der Rückreise musste sie es dann genauso machen.«
»Okay. Aber wo bekomme ich den Papagei her?«
»Der Papagei ist bei uns die Uhr, verstehst du?«
Ich stieß die Luft aus. Ich hatte sie ein bisschen verarschen wollen, doch sie kapierte meine Witze einfach nicht. So langsam hatte ich keine Lust mehr auf diese Retro-Vorstellung hier.
»Ich kann das immer noch nicht wirklich glauben … Aber jetzt gehen wir erst mal runter, stellen dich meinen Eltern vor und essen Kuchen.« Marion hielt inne und packte mich am Arm: »Eine Frage habe ich aber noch. Deine Geburt … tat die sehr weh? Also, äh, mir?«
»Die Geburt war okay, glaube ich …«, murmelte ich leise. Es war sehr seltsam, über die eigene Geburt zu sprechen. Vor allen Dingen mit der Person, die mich erst in ferner Zukunft zur Welt bringen würde.