Читать книгу Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft - Stefanie Gerstenberger - Страница 9

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4. KAPITEL

immer noch der 5. Mai, aber krasserweise 1980

Der Abendbrottisch wurde in dem Zimmer gedeckt, das heute unser Wohnzimmer war. Aber was war eigentlich heute? Immer wieder fragte ich mich, ob die Zeit, in die ich gehörte, in diesem Moment ohne mich stattfand oder einfach anhielt, bis ich wieder zurückkam. O Mann, hätte ich mal auf Mama gehört und das Buch über diesen Zeitreisenden gelesen, das sie so toll fand. Vielleicht hätte ich dann einen Schimmer, wie ich mit dieser bizarren Situation umgehen sollte.

Aber ich war eben lieber auf Facebook, guckte YouTube-Videos oder glotzte, statt zu lesen. Apropos glotzen, hatten die eigentlich auch einen Fernseher? Ich sah mich im Wohnzimmer um und entdeckte ihn hinter den Schiebetüren eines braunen Holzkastens. Unglaublich, wie dick der nach hinten raus war. Bis zum Flachbildschirm hatten die noch ein paar Jahre Tüftelarbeit vor sich. An der Wand hing ein riesenhaftes graues Telefon. Ich steckte den Zeigefinger in die Wählscheibe, wählte zum Spaß ein paarmal und musste über dieses schnarrende Geräusch lachen.

»Wow, ein echter turntable«, rief ich kurz darauf, ohne zu überlegen, und machte mit dem Mund ein paar scratchende Geräusche.

Marion lachte nervös: »Plattenspieler heißt das bei uns!«

Ich spürte Dagmars Blicke auf mir und war froh, dass meine Neugier und meine Unwissenheit als typisch für ein englisches Mädchen ausgelegt werden konnten. Sich vor Dagmar England als Heimat auszudenken, war naheliegend gewesen, doch ich kannte das Land nicht, der Austausch mit der Partnerschule aus Wales sollte erst nach den Sommerferien stattfinden. Oh Gott, ob ich überhaupt dabei sein würde? In meinem Bauch begann es vor Nervosität zu kribbeln, mir war etwas flau und meine Hände zitterten, wie damals bei dieser dämlichen Ein-hartgekochtes-Ei-pro-Tag-Diät, die sowieso nichts gebracht hatte. Hier rannte ich in meinem altmodisch eingerichteten Zuhause herum, zwischen jüngeren beziehungsweise schon längst gestorbenen Personen! Ich atmete tief durch. Ganz ruhig, einfach weitermachen und sich nichts anmerken lassen.

Während Dagmar und Marion, sich pausenlos zankend, den Tisch deckten, setzte ich meine Erkundungstour fort. Im Wohnzimmer hinter der geöffneten Schiebetür standen keine Bücher, wie heute bei Mama, dafür aber eine zwölfbändige Ausgabe von Der Neue Brockhaus. Ansonsten waren die Regale bis auf ein paar Kerzenhalter und eine gläserne Rehfamilie leer.

»Abendbrot!«

Verlegen grinsend setzte ich mich an den Tisch und starrte auf das blaue Geschirr mit den hellen Punkten, dessen Überreste sich heute in den Tiefen unserer Schränke stapelten. Es gab belegte Brote, eingelegte Silberzwiebelchen und Omi Elsas berühmten Möhrensalat, an dem sich Mama ab und zu versuchte, den sie aber noch nie so lecker hinbekommen hatte wie diesen hier.

»Und für wie viele Tage soll das jetzt sein, mit diesem Austausch?«, brummte Opa. »Du hast uns ja gar nichts gesagt, Marion.«

»Die sagt doch nie, was in der Schule los ist.« Dagmar. Konnte einfach nicht die Klappe halten.

Marion packte die Geschichte von Manuela Hövelkamps kleinem Bruder aus. Der mit der Hirnhautentzündung. Ich entschuldigte mich bei ihm im Stillen für unsere Flunkerei und hoffte, dass er niemals daran erkranken würde.

»Ich leg euch Bettwäsche raus«, sagte Omi. Damit schien die Sache zunächst erledigt. »Kann die kleine Engländerin denn mal was auf Englisch sagen?«, bat sie kurz darauf. »Ihr Deutsch ist ja ganz ohne Akzent!«

Ich dankte meiner Tante das erste Mal in meinem Leben für deren Schulauswahl. »Ich bin so froh, dass ich gezwungen wurde, diese Sprache zu lernen, und manch einer mich jetzt nicht versteht«, sagte ich in fließendem Englisch und imitierte dabei den schlurrigen Akzent von Mr Cook, unserem Mathelehrer.

»Lucky you!«, gab Dagmar ungerührt zurück. Sie hatte mein Genuschel offenbar verstanden.

»Ja, unsere Dagmar, die ist sprachbegabt«, sagte Omi und tat mir ungefragt einen weiteren Klacks Möhrensalat auf den Teller. »Hier, gut für die Augen!«

»Einser-Abitur«, setzte Opa Heinrich hinzu.

Ich beschloss, noch eins obendrauf zu setzen, und fragte meine Tante, was sie studieren wolle, dabei sprach ich so schnell und unverständlich wie Mrs Salmon. Dagmar zuckte mit den Schultern und gab mit gekräuselter Nase zu, den letzten Teil des Satzes nicht verstanden zu haben. Ich grinste auf meinen Teller und wurde sicherer. Ohne Mühe erfand ich ein paar coole deutsche Künstlereltern für mich und ein rotes Backsteinhaus in Londons reichem Süden, in dem wir alle äußerst happy miteinander wohnten. Dagmars misstrauischem Blick begegnete ich mit einem, wie ich hoffte, entwaffnenden Lächeln. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich Omi und Opa in die Gesichter schaute. Plötzlich machte mir das Jahr 1980 wieder Spaß und ich lachte auf. Was für eine krasse Chance hatte ich da erwischt, die beiden live und lebendig zu erleben? »Ist der Tommy denn auch nett zu euch Deutschen da drüben?«, fragte Opa Heinrich.

»Welcher Tommy?«

Dagmar kicherte, aber Opa hatte meine Frage anscheinend nicht gehört, er redete weiter: »Wäre damals lieber bei denen in Gefangenschaft geraten, aber es musste ja der Iwan sein.«

»Nein, der Tommy ist all right.« Ich versuchte, eine kleine Zwiebel auf meine Gabel zu spießen, und fragte mich dabei, wer wohl dieser Tommy sei. Er schien auf jeden Fall netter zu sein als der Iwan. Aber woher kannte Opa Heinrich diese beiden denn? Das war alles sehr verwirrend. Opas Kriegsgefangenschaft durfte nur er selber erwähnen, wusste ich von meiner Mutter. Eine Granate hatte ihm den Arm abgerissen, er hatte monatelang im Gefangenenlazarett gelegen und zu viel gehungert, um jemals wieder mit den Russen auf gutem Fuße zu stehen. Von der kleinen Pellkartoffel, die er im vierten Jahr der Gefangenschaft zu seinem Geburtstag von den Kameraden geschenkt bekam, hatte ich natürlich auch schon gehört.

»Und deine Eltern, kennt man die? Was malen die genau? Können sie davon leben?«, wechselte Dagmar das Thema. Sie hatte ihr Kinn auf die gefalteten Hände gestützt. Ihre blassblauen Augen bohrten sich in meine. Mist, was konnte ich ihr jetzt erzählen? Ich hätte in Kunst besser aufpassen sollen.

»Modern. Angelehnt an den Kubismus, aber ungegenständlich. Mein Vater nennt sich Harry Potter, das können die Engländer gut aussprechen, und meine Mum Hermine Granger.« Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut über meinen Einfall loszulachen. Diese Namen würde ich mir garantiert für meine Eltern merken können, falls später noch mal jemand nach ihnen fragen sollte.

»Sie stellen in den großen Galerien Londons aus. Hayward Gallery, Gagosian in King’s Cross oder im White Cube, da waren sie erst kürzlich.« Ich zog triumphierend die Augenbrauen hoch. Uff, wie gut, dass wir neulich in Englischer Landeskunde diesen trockenen Text über die blöden Galerien durchgenommen hatten.

Oder hatte ich es übertrieben, war das zu viel gewesen? Spätestens, wenn Dagmar die beiden Namen googeln würde … Ich sah, wie der Blick meiner Tante zu den zwölf wuchtigen Bänden des Lexikons huschte. Ein Sieges-Gefühl breitete sich wie eine warme Woge in meinem Bauch aus. Googeln? Im Jahre 1980 wurde noch nichts gegoogelt. Das Wort war ja noch nicht mal erfunden! Und Harry Potter war noch nicht geschrieben. Ich konnte hier erzählen, was ich wollte.

»Ich weiß nicht, ob sie schon im Der Neue Brockhaus stehen.«

»Jaja, im Der Neue Brockhaus«, ahmte Dagmar meine Tonlage nach und lachte ihr gemeines Lachen.

»Unsere Dagmar schmökert da ja dauernd drin!«, sagte Omi, die von den leichten Anfeindungen anscheinend nichts mitbekommen hatte.

Nun verdrehte Marion die Augen. Ich lächelte sie an. Diese Latzhosenträgerin war meine Mutter. Und das war äußerst komisch. Aber sie war auch gegen DDD und das machte sie schon zu einer halben Freundin.

Als wir nach dem Essen nach oben gingen, lief Zucker eilig voraus, sein Schwanz wedelte lustig vor mir her. Doch mein Kichern galt noch immer Harry Potter.

»Bist du öfter so gut gestimmt?«, fragte Marion, als sie die Tür hinter uns geschlossen hatte. Gut gestimmt. Schmökern. Die redeten echt komisch in dieser Zeit.

»Nö. Nicht wirklich. Aber eine Sache ist echt cool!« Hastig erzählte ich Marion, wie einfach es gewesen war, Dagmar etwas vorzulügen. »Wären wir jetzt im Jahr 2015, hätte sie innerhalb von zwei Minuten herausgefunden, dass ich nicht die Wahrheit sage. Es wäre so einfach nachzuprüfen. Sie müsste nur die Namen meiner erfundenen Eltern googeln und schon wären wir am Ar… wüsste sie, was los wäre.« Ich schluckte. Irgendwie kam es mir unangemessen vor, bestimmte Wörter vor meiner Mutter zu gebrauchen. Selbst wenn wir gleich alt waren. Marion schaute mich fragend an: »Was ist denn bitte schön guuugeln?! Hört sich an wie Gugelhupf.«

»Tja, schwierig zu erklären.« Ich gab einen kleinen Seufzer von mir. »Na ja … gibt es bei euch schon Computer?«

»Klar. Bei der NASA stehen riesige Hallen voller Rechner.« »Also in der Raumfahrt? Mehr nicht?«

»Hab mal eine Reklame gesehen für etwas, das Commodore heißt. Weiß aber nicht genau, was das ist. Frag doch das Einser-Abitur, unsere Dagmar!«

Ich winkte ab. »Bloß nicht! Also, stell dir eine digitale Plattform vor …«

»Eine Plattform? So wie auf einem Aussichtsturm?«

»Nein.« Aussichtsturm? Geht’s noch? »Ein riesiges Netz von Daten, und jeder kann sich dort Informationen holen wie in einem gigantischen Buch.«

»Und das steht dann im Computer?«

»Ja, du gehst zum Beispiel auf Wikipedia, das ist eine Art Lexikon wie euer total hipper Brockhaus da unten, oder Guuugel, frag mich nicht, warum das so heißt. Das ist eine Suchmaschine und da gibst du ein paar Wörter ein oder sogar nur eins und schon hast du Hunderte von Einträgen.«

»Und wer hat die geschrieben?«

»Keine Ahnung, irgendwer eben.«

»Ja, aber dann weißt du doch gar nicht, ob das stimmt. Bei unserm Brockhaus kann man sich darauf verlassen.«

Ich biss die Zähne aufeinander, wie immer, wenn ich vermeiden wollte, vor Ungeduld auszurasten. »Mann, du bist ja wie unsere Deutschlehrerin, die will auch nie, dass wir im Internet aus unbekannten Quellen abschreiben.« Ich konnte Marions skeptischen Blick nicht ertragen.

»Und wie blättert man dieses riesige Buch um?«, fragte sie.

Hallo? Marion war ja vielleicht ganz lieb, aber irgendwie nicht besonders schnell im Gehirn. »Na, mit der Tastatur.«

»Hat etwa jeder so einen Computer? Bei sich zu Hause?«

»Jeder!«

»Ehrlich? Wer will denn so ein Ding im Haus haben?«

»Glaub mir, jeder will so ein Ding im Haus haben. Und nicht nur eines! Die werden immer kleiner, dünner, leichter. Sie heißen Laptop oder, wenn sie noch kleiner sind, Tablet. Und man kann Filme schauen, immer, zu jeder Zeit. Wie viele Programme habt ihr eigentlich in euer Monster-Fernseh-Kiste?«

»Drei.«

»Drei!? Wow. In Schwarz-Weiß?«

»Farbe«, sagte Marion knapp.

»Na immerhin. Gibt es schon Videorekorder? Wo man Filme aufnehmen und abspielen kann?«

»Äh … Justus von Möller, der hat angeblich einen. Seine Familie ist reich, aber bei dem war ich noch nie zu Hause. Dieser technische Kram interessiert mich übrigens auch nicht.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf: »Bei mir liegen noch so alte Kassettendinger im Schrank. Riesige schwarze Plastikteile. Aber heute gibt’s DVDs, das sind kleine silberne Scheiben.«

»Kleine silberne Scheiben?« Marion schaute mich an, als ob ich von Ufos über Godesbach erzählen würde.

»Na ja, vergiss es. Also im Internet, da kann man alles sehen, Kinotrailer, vines, was man will. Und man kann sich Fotos schicken und eigene Videos, einfach alles. Hach, ich würde dir so gerne meinen Facebook-Account zeigen. Da sind alle meine Freunde drin.«

»Warum sind die da drin? Ist das so ’ne Art Poesie-Album?«

»Nein.« Langsam bekam ich Kopfschmerzen von Marions umständlicher Fragerei. »Oder vielleicht doch. Jeder hat da eine Seite, auf der postet man die Sachen, die einem so auffallen. Und die anderen machen dann Kommentare, sagen, dass es ihnen gefällt. Mit so ’nem ausgestreckten Daumen, weißt du? I like!« Ich machte Marion den Daumen vor und kam mir unsäglich albern dabei vor. Der Daumen ist albern. »Und man kann natürlich auch chatten, also miteinander reden.«

»Und das ganz ohne Papier?«

»Ganz ohne Papier.«

»Danke für die Erklärung«, sagte Marion ernst.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht darüber zu lachen. »Aber ich versteh so vieles nicht, weil du alle Begriffe auf Englisch sagst. Was ist übrigens posten?« Sie schien weder sauer zu sein noch nervös. »Und gibt’s diese Leppstopp-Dinger auch mit Windenergie betrieben? Das wäre wieder mal typisch, nur für so einen kleinen Spaß unsere Umwelt zu belasten und zu verschmutzen!« Nun wurde sie lauter, mit der Umwelt war es ihr anscheinend bitterernst.

»Das ist nicht nur ein kleiner Spaß. Damit wird alles gemacht, es gibt ganz viele Berufe, die es nur im Netz gibt. Oder auch Läden, Online-Shops, die versenden ihr Zeug nur noch übers Internet.«

Marion zuckte nur mit den Schultern.

»Ich habe übrigens auch einen Blog, in dem veröffentliche ich jede Woche meine Comic-Strips, die ich zeichne. Habe schon ganz viele Follower. Ich meine, das sehen sich ganz viele Leute an.« In your wildest dreams, Charlotte. Na und? Kann sie ja sowieso nicht kontrollieren. Ich schaute mich um. Es war so leer und still, instinktiv suchte ich nach einem Bildschirm, und sei er auch so klein wie der auf meinem Handy. Aber das war ja albern, mein Handy war nicht da, es lag in der Zukunft, und zwar genau auf diesem Schreibtisch. Hoffnungslos.

Marion setzte sich auf ihr Bett und schwieg immer noch. Was für ein Albtraum, es gibt echt kein Internet! Natürlich hatte ich von dieser Zeit gehört, es mir aber nie wirklich vorstellen können. Und jetzt saß ich mittendrin in diesem schwarzen Loch, ohne jegliche Informationen. Was für ein Mist! Wie hielten die das bloß aus? Es gab nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu tun. Was würde ich jetzt im Jahr 2015 mit meiner Zeit machen? Was tat ich, wenn ich sauer, traurig, deprimiert, verzweifelt war? Ich ging an den Kühlschrank oder gleich hinunter in die Backstube, wo es immer Süßigkeiten gab, die mich beruhigten. Manchmal schrieb ich dann auch noch ein paar Zeilen in mein Mathekram-Tagebuch. Oder ich setzte mir Kopfhörer auf und legte mich mit Musik in den Ohren ins Bett. Decke über’n Kopf. Fertig. »Wenn ich jetzt Musik hören möchte, wie mache ich das?«

»Na ja, unten im Esszimmer steht unser Plattenspieler. Hast du ja gesehen. Tut mir leid, ich habe noch keinen eigenen. Habe mir einen zum Geburtstag gewünscht, der ist aber erst im August.«

»Am Achten, ich weiß!«

»Paar LPs habe ich schon!« Sie kniete sich hin und holte einen Stapel unter dem Bett hervor.

»LPs?«

»Na Langspielplatten. Sag nicht, dass ihr die nicht mehr habt?«

»Äh? CDs? Silberne Scheiben?«

»Das ist ja wie in Raumschiff Enterprise. Hier, Fleetwood Mac zum Beispiel oder die Neue von Police und was von Simon and Garfunkel … Die Hülle hängt da. Wie findest du das?«

Die olle Papphülle überm Bett. Ich hatte noch nie etwas von den beiden gehört und musste meinen gesamten guten Willen aufbieten, um Marions Dekorationsversuch gebührend zu würdigen. »Nice. Cool!«

Marion strahlte und rückte den Plattenstapel wieder gerade. »Und hey, es ist Mittwoch, wir können Mal Sondock im Radio hören, gleich fängt seine Diskothek im WDR an, um fünf nach sieben. Wir können Dagmars Radiorekorder von oben klauen, mit dem nehme ich die Lieder immer auf.« Sie wedelte mit einem Gegenstand vor meinen Augen herum. Agfa Superchrom stand darauf und es sollte wohl eine alte Musikkassette sein. So ein Ding hatte Kyra-Melissa als Handyschoner. Ich verdrehte die Augen und spielte die Begeisterte: »Meine Güte! Die klappert ja richtig lustig!«

»Ja. Manchmal gibt es aber auch Bandsalat, das ist dann nervig.«

Okay, sie verstand meinen Witz schon wieder nicht. Ernüchtert ließ ich mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und begann, ein Mädchen auf die Schreibtischunterlage aus Papier zu zeichnen. Es saß mitten im Nichts, hatte hängende Mundwinkel und riesige, enttäuschte Augen und sah mir verdammt ähnlich.

»Stark! Das ist ja die absolute Härte! Woher kannst du das?« Marion stand plötzlich neben mir. »Mal mich noch daneben! Bitte!«

Ich zeichnete sie in einer mega-unförmigen Latzhose, fröhlich mit ihren Plattenhüllen jonglierend. Sie lachte: »Du hast aus mir ein Zuckerpüppchen gemacht, ich sehe aus wie Audrey Hepburn in einer zu großen Latzhose.«

Du bist ein Audrey-Hepburn-Zuckerpüppchen in einer zu großen Latzhose … Aber ich sagte: »Was können wir denn sonst noch tun? Was machst du abends immer so?«

»Hausaufgaben. Lesen. Oder jetzt im Sommer rausgehen, mit dem Fahrrad rumfahren. Ich darf draußen bleiben, bis es dunkel wird. Na ja, und am Wochenende fernsehen. Mit jemandem am Telefon quatschen, Anne zum Beispiel.«

»Das Telefon hängt doch mitten in eurem Esszimmer, da hört ja jeder mit …«

»Ja, ich setz mich dann drunter an die Wand und halte den Hörer zu. Aber Vati mag es nicht, wenn ich die Leitung zu lange blockiere.«

»Dann ist telefonieren ja für’n Arsch!« Mir war es mittlerweile egal, dass Marion irgendwann mal meine Mutter werden würde. »Was für ein Katastrophen-Leben!«

»Wieso? Ich sehe Anne ja sowieso morgen in der Schule.«

»Echt? Glückwunsch!« Ich bekam Atemnot von all dieser Langsamkeit, ich musste hier dringend weg! Marion sagte nichts mehr, sie stellte sich an ihr Bücherregal und fing an, die vielen gelben Reclam-Heftchen darin neu zu sortieren. Ich sah ihr dabei eine Zeit lang zu. »Hast du den Schimmelreiter schon?«

»Ja klar!«

»Den wirst du mir später mal für den Deutschunterricht leihen.« In dem habe ich allerdings total herumgekritzelt und ihn dir deswegen auch nicht mehr zurückgegeben.

»Ach wirklich? Ich liebe die Geschichte. Die ist so …«

»Mega-geil?«

»Äh? Nein!«

»Was sagt man denn bei euch, wenn man etwas so richtig gut findet, so richtig toll?«

»Richtig toll, sagt man da. Oder gut, stark, prima, dufte«, erklärte mir Marion.

Okay, sie kann ja nichts dafür, aber wenn ich noch länger hierbleiben muss, platze ich vor Ungeduld. »Marion?«

»Ja?«

»Sorry, ist jetzt echt nicht böse gemeint, aber ich glaube, ich will ganz schnell wieder zurück. Es ist alles so kompliziert hier.« So öde, so bescheuert, so langweilig. »Weil alles so … so einfach ist. Es gibt ja nichts zu tun. Kein Internet, kein ordentliches Fernsehen und ich vermisse mein Handy!« Ich schaute in den Garten, der im sommerlichen Abendlicht lag. Mehr zu mir sagte ich: »Wer weiß, wer mir heute alles schon ’ne SMS geschrieben hat, und wenn man nicht antwortet, ist man schnell out … also in meiner Schule jedenfalls.«

»Entschuldige, dass ich dir vielleicht dumm vorkomme, aber was ist ein Hähndi?«

»Entschuldige dich doch nicht dauernd!« Ich verdrehte die Augen. Sie machte mich wahnsinnig.

»Klingt wie Hähnchen auf Bayerisch.« Marion kicherte.

»So ein Hähndi wirst du eines Tages auch haben.« Wie man sich Apps runterlädt, weißt du aber immer noch nicht. Obwohl ich so genervt war, musste ich grinsen, weil ich Mamas panischen Gesichtsausdruck vor mir sah und ihre hektischen Bewegungen, mit denen sie ab und zu ihr Handy malträtierte. »Das ist ein kleines Telefon. Ohne Schnur, ohne Wählscheibe, mit einem kleinen Bildschirm. Ungefähr so groß wie eine Zigarettenschachtel, nur viel dünner. Das hat man immer und überall dabei.«

»Nee! Ein Telefon, das man in die Hosentasche stecken kann? Und da drin klingelt es dann?« Sie kicherte schon wieder.

»Hosentasche, Handtasche, wie du willst!«

»Echt? Wie die Kommunikatoren in Raumschiff Enterprise?« Marion schaute mich ungläubig an. »Mit denen kann man auch sprechen.«

Ich atmete tief ein und wieder aus.

»Und was ist eine ess emm ess?«

»Eine kurze Nachricht, die tippt man ein, wie …« Ich sah mich um. »Wie auf einer Schreibmaschine«, sagte ich und zeigte auf das klobige Ding, das auf einer Kommode neben dem Schreibtisch stand.

»Ach, das ist nur der Anfang von meinem Referat«, antwortete Marion, zog das darin eingespannte Blatt heraus und zerknüllte es. »Den muss ich noch mal neu schreiben … Aber warum schreibt man, wenn man doch anrufen kann?«

Ich wandte mich um, hob die Arme und rief: »Keine Ahnung! Warum gibt’s hier kein Fernsehen mit ordentlichen Programmen? Warum ist dein Zimmer so kahl? Warum trägst du so komische Klamotten? So überhaupt nicht cool oder wenigstens vintage. Warum bin ich hier und nicht in meiner Zeit?«

»Entschul…«, setzte Marion an, besann sich dann aber. »Weiß ich doch nicht! Außerdem würde ich gerne mal sehen, was du sonst so anziehst, wahrscheinlich bist du so ’ne oberflächliche Mode-Schnalle.«

Ich schnaubte nur verächtlich. »Wenn du wüsstest …«, murmelte ich, mittlerweile extrem angenervt.

»Wenn ich was wüsste, Charlotte Zimt? So heißt du doch, oder? Sag mir jetzt bloß nicht, dass ich den Namen meines Mannes angenommen habe!«

O Mann, wenn das deine einzige Sorge ist … Ich schüttelte den Kopf. Nö, ohne Ehemann ist das mit dem Namen-Annehmen auch bisschen schwierig.

»Ich finde dich auch nicht gerade … nicht gerade toll!« Marion schmetterte den Papierball, der mal ihr Referat-Anfang war, mit aller Wucht in den Papierkorb. Wow, sie konnte ja echt böse werden! Wir verschränkten gleichzeitig die Arme vor der Brust und starrten uns feindselig an. Zucker schaute ratlos zwischen uns hin und her.

»Na los, dann hilf mir wenigstens mit dem Gästebett«, blaffte Marion schließlich. Ohne zu reden, bezogen wir das schmale Sofa an der gegenüberliegenden Wand mit einem Laken. »Dieses Zimmer ist einfach zu fucking klein«, sagte ich zu Zucker, als ich über ihn stieg.

»Ohne gewisse Leute war’s für uns immer groß genug, nicht wahr, Zucker?«, erwiderte Marion. »Und wenn Dagmar zum Studieren geht, bekomme ich sowieso ihres.«

Wer’s glaubt. Ich schaute Marion kopfschüttelnd an, daraus würde nichts werden, garantiert nicht. »Ich befürchte, ich muss heute in deinem Bett schlafen. Damit alles so wie in der Nacht vor dem Zeitsprung ist!«

Marion schnalzte genervt mit der Zunge, atmete dann laut aus. »Na, okay, morgen wirst du ja nicht mehr da sein.«

»Hoffentlich nicht mehr da sein, hast du vergessen zu sagen.«

»Habe ich nicht!«

»Aber gedacht!«

»Kann es sein, dass du so eine Besserwisser-Tante bist?«

Ich schnaubte verächtlich. »Los, gib die Uhr her!«

»Damit Frau Wichtig in ihre mega-geile Zukunft mit ihren superdünnen Lepps und Topps und Tabbletts zurückkommt!«

»Ja, und zwar je schneller, desto besser.«

»Und wenn ich sie dir nicht gebe?« Sie hielt die Uhr in ihrer zusammengeballten Faust fest an die Brust gepresst. Sehr wenig Brust übrigens.

»Ey, mach jetzt kein’ Scheiß!« In der Zukunft war sie zu lieb und zu nett und konnte sich gegen DDD nicht durchsetzen – und ausgerechnet in diesem Moment zickte sie rum? War sie jetzt völlig durchgeknallt? Ich riss das Fenster auf. »Was soll das? Gib her!«

Zögernd gab sie mir die Uhr. Mein Herz klopfte laut, aber nicht nur aus Wut. Alles muss absolut gleich sein, alles muss richtig sein, jetzt kommt es gleich drauf an …

Ich nahm die Uhr und drehte grob an dem Rädchen herum. Was hatte ich gedacht in dem Moment? Ich war sauer auf meine Mutter gewesen und hatte keine Lust mehr auf gar nichts gehabt, hatte die ganze Welt zum Kotzen gefunden …Kein Problem, in diesem Gefühlszustand befand ich mich bereits. Ich pfefferte die kleine Uhr in hohem Bogen hinaus.

»Und jetzt …?«, fragte Marion. Zusammengesunken saß sie auf dem Schlafsofa und streichelte Zucker. Schon tat es mir leid, sie so angeschrien zu haben. Ich suchte ihren Blick, doch sie schaute mich nicht an.

»… muss ich nur noch schlafen gehen und wenn ich morgen aufwache, liege ich zwar am selben Platz, aber in meinem Bett!«

»Woher willst du das eigentlich wissen?« Endlich schaute sie hoch. »War das bei diesem Marty so?«

»Nein, der ist freiwillig durch die Zeit gereist, in einem umgebauten Auto.« Ich versuchte, mich an möglichst viele Filme zu erinnern. »Manchmal bekommen die Menschen einen Blitzschlag, der sie dann in eine andere Zeit katapultiert, oder irgendwelches Wunschpulver rieselt ihnen auf den Kopf, während sie einschlafen. Und dann sind sie plötzlich dreißig.« Ich ließ mich auf das Bett fallen. »Entweder sie setzen sich auf getarnte Zeitmaschinen, Sofas oder Motorräder oder sie wachen einfach immer wieder am selben Tag auf, wie in Und täglich grüßt das Murmeltier. Super Film übrigens!« Ich lächelte zaghaft, in den letzten Minuten meines Ausflugs ins Jahr 1980 wollte ich unbedingt ein bisschen netter zu meiner Mutter sein. »Den musst du sehen, wenn er rauskommt! Ich weiß nicht, wann das sein wird, irgendwann in den Neunzigern, glaube ich. Die Dauerwelle von Andie MacDowell und ihre Klamotten sehen zumindest danach aus.« Doch dann fiel mir etwas ein. »Oh Gott, stell dir vor, ich hänge wie Bill Murray in einer Zeitschleife fest … Dann lerne ich dich jeden Tag wieder kennen.«

»Das wäre ja zu blöd«, sagte Marion. Nicht gerade sehr besorgt. Na gut, dann nicht. Wird echt Zeit, hier abzuhauen.

»Ich brauche übrigens auch noch eine Zahnbürste!«

»Mutti hat bestimmt eine für dich. Die hortet gerne. Waschpulver, Lebensmittel, Zahnbürsten. Das hat sie noch aus der Zeit, als es nichts zu essen gab, nach dem Krieg.«

»Krieg? Ich höre immer nur Krieg. Dabei ist der doch schon ’ne ganze Zeit vorbei, oder? Äh, Moment … fünfunddreißig Jahre, um genau zu sein.«

Marion winkte stöhnend ab. »Wir nehmen in der Schule nichts anderes durch: Das Dritte Reich, das Dritte Reich. Die Nazis. Das Dritte Reich. Aber Mutti oder Vati darfst du damit nicht kommen. Die erzählen nichts von dem, was sie erlebt haben. Also kaum was.« Marion starrte auf den Boden. »Und dann werden sie immer ganz … ganz anders. Als ob da was hochkommt, das sie schnell wieder runterdrücken müssen.« Sie verzog das Gesicht, als ob sie in etwas Bitteres gebissen hätte.

Eine halbe Stunde später schlüpfte ich mit geputzten Zähnen in Marions Bett, während sie sich auf dem schmalen Sofa unter ihre Decke begab. »Puh, ist das hart!«, stöhnte sie. »Entschuldigung, ich weiß ja, dass du da drüben liegen musst …«

Ich hielt die Luft an, schon wieder entschuldigte Marion sich. Was würde ich darum geben, sie mal ordentlich durchschütteln und dadurch ändern zu können! Aber das würde ich heute Abend nicht mehr hinbekommen. Ich zog die Decke fester um mich und starrte an die Zimmerdecke. In diesem Moment blieb mir einfach nichts anderes übrig, als fest daran zu glauben, morgen zurück in meinem Leben zu sein. Endlich wieder mein eigenes, richtiges Leben, mit Internet und Handy! Eigenes, richtiges Leben? Das sieht gerade ziemlich mies aus, schon vergessen? Was, wenn Dagmar, die uralte Dagmar, den jetzigen Schrotthaufen von einem Café tatsächlich an diesen Dümpelmann verkauft? Und Mama mit mir wegzieht? Sie hatten beide verdammt ernst geklungen. Auch wenn alles klappte, ich würde raus aus dem einen Albtraum, rein in den nächsten springen. Na, stark! Na, dufte! Ich seufzte tief. O Mann, das durfte einfach nicht passieren!

»Du? Charly?«

Charles. Aber egal. »Was?«

»Ich bin ganz sicher, du schaffst es! Morgen früh bist du weg, ganz bestimmt! Und da ich dich dann ein paar Jahre lang nicht sehen werde, wollte ich dir noch sagen: Ich fand es doch ganz schön, dich kennengelernt zu haben.«

Plötzlich sah ich ihren Schatten vor mir, an meinem Bett. Ich setzte mich auf, erhob mich dann ganz. Vorsichtig umarmten wir uns. Sie war so warm, so zart.

»Also bis bald. Wir sehen uns …« Meine fünfzehnjährige Mutter klang, als ob sie gleich weinen würde.

»… in der Zukunft!«, antwortete ich. Wie dumm, jetzt stiegen mir doch tatsächlich auch ein paar Tränen in die Augen. O Mann, was für ein krasser Tag war das gewesen … Schnell schlüpfte ich zurück unter die Decke, auf einmal happy. Wir würden die Uhr am nächsten Morgen nicht wieder aus dem taunassen Gras fischen müssen, nein, ganz bestimmt nicht!

Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft

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