Читать книгу Das Rätsel im Hoppenlau - Stefanie Wider-Groth - Страница 6

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Der Samstag erfüllte, was das Wetter anging, sämtliche Hoffnungen, die im Vorabendprogramm des lokalen Fernsehsenders geweckt worden waren. Helmut Schropsnagel allerdings hatte weder einen Hut aufgesetzt noch sich flächendeckend eingecremt, wie es der Moderator der Wettersendung empfohlen hatte. Es mochte wohl sein, dass die Strahlen der Frühlingssonne heutzutage intensiver brannten als noch vor einigen Jahren. Dies jedoch stellte für Helmut keinesfalls eine ausreichende Begründung dar, sie einem bereits beim ersten Auftreten durch oberlehrerhafte Maßregelungen zu vergällen, was in seinen Augen auch nicht zu den Inhalten eines ordentlichen Wetterberichtes gehörte. Ebenso wenig, im Übrigen, wie Wetterrundreisen, Besuche bei Wetterwinzern, Wetterschäfern und Wetterbauern oder was noch alles heutzutage als nötig erachtet wurde, um aus ein paar simplen Informationen eine überflüssige Unterhaltungssendung auf Kosten des Gebührenzahlers zu machen. Der Tag war also frühlingshaft schön, und man hätte etwas Sinnvolles tun können, an einem solchen Tag. In der Königstraße nach reduzierten Herrenunterhosen suchen, beispielsweise, wie Melanie es ihm nahe gelegt hatte, oder mit Joe und Ottmar den ersten Eiskaffee im Freien genießen. Helmut jedoch hatte sich etwas vorgenommen und hielt den Tag für geradezu ideal, um mit seinem neuen Hobby anzufangen. Weshalb sie nun zu dritt auf dem Hoppenlau-Friedhof standen, Helmut mit einem Plan in der Hand, seine Freunde mit skeptischen Mienen.

„Da drüben“, sagte Helmut nach einigen prüfenden Blicken, die abwechselnd dem Plan und dem historischen, ein wenig verwahrlost wirkenden Gräberfeld galten. „Dort geht es los.“

Joe, heute nicht wie ein Koch, sondern eher wie ein Dandy gekleidet, betrachtete schweigend das Paar blitzsauberer Schuhe an seinen Füßen, während Ottmar sich verhalten räusperte.

„Bist du sicher“, fragte er in diplomatischem Tonfall, „dass dies das Richtige für dich ist?“

„Warum nicht? Der Mensch braucht eine Beschäftigung. Auch im Ruhestand.“

„Gewiss.“ Ottmar tauschte einen Blick mit Joe. „Wir, zum Beispiel, gehen jetzt öfter mal schwimmen. Oder spazieren.“

„Ich gehe eben lieber sammeln.“

„Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Wir dachten nur … du könntest auch etwas anderes sammeln. Briefmarken vielleicht. Bierfilze. Oder Tassen …“

„Nix“, warf Joe mürrisch ein. „Männer sammeln keine Tassen.“

„Keine Tassen“, stimmte Ottmar nachsichtig zu. „Modellautos. Was hältst du von Modellautos?“

„Die kosten ein Vermögen.“ Helmut machte eine verneinende Handbewegung. „Außerdem interessieren sie mich nicht. Und sie brauchen zu viel Platz. Melanie will nicht, dass ich die Wohnung mit Sammlerstücken fülle.“

„Nimm Filme“, schlug Joe vor und steckte sich bedächtig eine Zigarette an. „Filme auf DVD. Ganz klein und schmal. Kann man immer wieder schauen. Gibt so viele schöne Filme.“

„Ich weiß nicht, was ihr gegen Grabsteine habt.“

„Kein Mensch sammelt Grabsteine“, erklärte Ottmar in einer Art, die eine unumstößliche Tatsache auszudrücken schien. „Du wirst dich nie mit anderen Sammlern austauschen können.“

„Wer sagt, dass ich das will?“

„Du wirst Depressionen bekommen. Ständig den Tod vor Augen …“

„Irgendwann muss man anfangen, sich an ihn zu gewöhnen.“ Helmut zwinkerte vergnügt. „Jetzt regt euch ab, ich fotografiere sie doch bloß.“

„Man kann auch Blumen fotografieren. Oder Tiere …“

„Langweilig. Das machen alle.“ Helmuts Blick nahm einen träumerischen Ausdruck an. „Stellt es euch nur einmal vor: Wenn ich genügend Fotografien zusammen habe, kann ich einen Bildband daraus machen. Ruhestätten. Europas Schriftsteller und ihre Gräber. Oder ich mache gleich mehrere Bände. Schauspieler, Musiker …“

„Wer soll denn so was kaufen?“

„Ich will kein Geld damit verdienen.“

„Morbid nenne ich das.“ Ottmar vergrub die Hände in den Taschen. „Du hast einfach eine kranke Fantasie.“

„Keineswegs. Ich fange hier in Stuttgart an, später bereise ich den Zentralfriedhof in Wien, Père Lachaise in Paris oder auch nur die Friedhöfe in München. Wisst ihr, wie viele prominente Leute allein in München begraben sind?“

„Schickeria“, schnaubte Ottmar verächtlich und betrachtete missbilligend die etwas verwitterte Stele aus rotem Sandstein, vor der Helmut Position bezogen hatte. „Wer liegt denn da Berühmtes?“

„Gustav Schwab“, entgegnete Helmut, packte seine Kamera aus und machte sie funktionsfähig. „Sagen des klassischen Altertums. Kannte zu meiner Schulzeit jedes Kind.“

„Zu meiner auch.“

„Kunststück, Seggl. Es war ja die gleiche.“

Joe betrat vorsichtig, seine Schuhe schonend, den Rasen und umrundete die Stele.

„Kann man fast nix mehr lesen“, stellte er nach einem Blick auf den Sandstein emotionslos fest. „Alle Steine hier sind dreckig.“

„Der Friedhof ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Jetzt geh mir aus dem Bild.“ Helmut begann zu knipsen.

„Da kann man sehen“, meinte Ottmar, der auf dem gepflasterten Fußweg stehen geblieben war, „wie diese Stadt mit ihren Dichtern und Denkern umgeht.“

„Es liegen auch noch andere Leute hier. Politiker zum Beispiel.“

„Die haben es vielleicht verdient, dass man sie einfach so verwittern lässt.“

„Fertig.“ Helmut bugsierte die Kamera zurück in ihre Tasche. „Auf zu Wilhelm Hauff. Da ist alles voller Efeu, aber auf der Platte erkennt man noch etwas mehr.“

„Liegt weit weg? Wilhelm Hauff?“, fragte Joe mäßig interessiert und schnippte seine Kippe in hohem Bogen hinter die Stele Gustav Schwabs. „Wer ist das?“

„Ein Autor aus dem neunzehnten Jahrhundert“, erklärte Ottmar. „Wunderschöne Märchen hat er geschrieben und ist nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden … stimmt was nicht?“

Joe, dessen Blick seiner Kippe gefolgt war, schien nicht zuzuhören und machte ein schwer zu deutendes Gesicht.

„Frau“, sagte er einsilbig und deutete vage zwischen den Bäumen hinter der Stele hindurch.

„Was Frau?“ Helmut sah von seiner Kameratasche auf. „Wilhelm Hauff war doch keine Frau.“

„Frau auf Bank“, vervollständigte Joe seinen Hinweis.

„Ja, und? Das ist doch nichts Besonderes.“

„Vielleicht doch.“ Ottmar war mit den Augen Joes ausgestrecktem Arm gefolgt. „Die da drüben macht jedenfalls keinen gesunden Eindruck.“

„Dann geht doch nachsehen. Ich knipse so lange Wilhelm Hauff.“

Helmut Schropsnagel wandte sich ab und ging zu dem Stein, dessen Lage er von früheren Besuchen auf dem alten Friedhof kannte. Tatsächlich war es dieser von ihm seit Kindertagen hochverehrte Schriftsteller, der ihn auf die seltsame Idee gebracht hatte, Gräber für die Nachwelt festhalten zu wollen. Gräber, von denen zu befürchten war, dass der Zahn der Zeit ihre Inschriften löschen würde, während die darin ruhenden Toten nach und nach vergessen zu werden drohten. Wobei die Hauff’sche Platte aus schwerem Gusseisen noch zu den besser erhaltenen gehörte. Helmut lichtete sie sorgfältig aus allen Perspektiven ab, kontrollierte das Ergebnis im Display der Kamera und suchte gerade auf seinem Plan nach dem Stein von Christian Friedrich Daniel Schubart, als Joe näher kam.

„Hast du Telefon dabei?“

„Mein Handy? Ja, warum?“

„Frau auf Bank. Ist hoppenlausetod.“

★ ★ ★

Schon nach eineinhalb Stunden hatte Gabi sich einsichtig gezeigt.

„Warum sitzt du nicht irgendwo hin und trinkst ein Bier?“, hatte sie praktisch und zu Emmerichs Erbauung vorgeschlagen. „Ich erledige meine Besorgungen und komme nach.“

Ohne ein Wort des Widerspruchs hatte er sich dem gefügt und saß nun, zufrieden und mit sich im Reinen, in einem eleganten Korbstuhl vor dem Grand Café Planie. Für ein Weizenbier war es noch zu früh am Tag, doch der seltene Genuss eines Kännchens heißer Schokolade mit einer extra Portion Sahne entschädigte Emmerich voll und ganz für die erlittenen Strapazen. Träge beobachtete er die Passanten auf dem Karlsplatz, wo zwischen Altem und Neuem Schloss, Markthalle und Altem Waisenhaus die letzten Reste historischer Bausubstanz in der Stadt zu bewundern waren. Nicht mehr lange allerdings, wie Emmerich befürchtete, denn selbstverständlich gab es auch hier Pläne für den baldigen Bau eines ultramodernen, vollverglasten und überdimensionierten Konsumpalastes, der den beschaulichen Charakter des Platzes endgültig beseitigen würde. Wie das in Stuttgart eben so üblich war, dessen gewählte Repräsentanten, seit Emmerich denken konnte, von einem Virus infiziert sein mussten, der es ihnen nicht erlaubte, sich an Gewohntem oder Gewachsenem zu erfreuen, sondern sie zwang, ständig etwas abzureißen. Die entstehenden Brachen wurden mit Bauwerken gefüllt, die als zukunftsweisend und modern gelobt wurden, sich meist aber schon wenige Jahrzehnte später als dem dann nicht mehr aktuellen Zeitgeist geschuldete Scheußlichkeiten erwiesen. Weshalb alsbald wieder über ihren Abriss nachgedacht wurde. Noch aber waren unter den Kastanienbäumen die Stände des traditionellen, samstäglichen Flohmarkts aufgebaut, wie immer und fast überall in der Innenstadt roch es ein wenig nach den Abgasen des kaum zu bändigenden Straßenverkehrs, doch beides war nicht geeignet, Emmerichs Schokoladengenuss erheblich zu beeinträchtigen. Die Störung ging vielmehr von seinem Handy aus, das klingelte, bevor die zweite Tasse eingeschenkt war.

„Gitti hier“, meldete sich seine Kollegin aus dem Dezernat für Tötungsdelikte. „Hast du zufällig gerade etwas Zeit?“

„Wie man’s nimmt“, sagte Emmerich zurückhaltend. „Wofür?“

„Sie haben da eine Frau gefunden. Die Notärztin ist unsicher und hat den KDD geholt. Ich habe Rufbereitschaft, bin aber zu Besuch bei meiner Nichte. Wahrscheinlich dauert es nicht lange, es ist in der Innenstadt, nicht weit weg von dir …“

„Du meinst, ich solle mir die Sache ansehen? Falls ich zufällig gerade Zeit hätte?“

„Das war es, was ich fragen wollte. Natürlich nur, wenn es nicht ganz und gar unpassend für dich ist.“

„Mal sehen.“ Emmerich konsultierte seine Armbanduhr. Der Nachmittag hatte eben erst begonnen, Gabi hatte nicht den Eindruck erweckt, es eilig zu haben. „Wo müsste ich denn hin?“

„Hoppenlau-Friedhof. Das ist zwischen Universität und …“

„Ich weiß schon, wo das ist. Ein halbe Stunde, schneller schaffe ich es nicht.“

„Kein Problem. Ich darf den Kollegen also Bescheid geben, dass du unterwegs bist?“

„Unter einer Bedingung.“

„Die wäre?“

„Du rufst meine Frau an und richtest ihr aus, dass wir uns erst zu Hause wieder treffen. Auf dem Handy.“

„Was tut man nicht alles“, seufzte Gitti ergeben, aber zustimmend.

„Dann bin ich unterwegs.“

★ ★ ★

Ottmar, Helmut und Joe hockten nebeneinander auf der Mauer, die den jüdischen Teil des Hoppenlau-Friedhofs vom christlichen trennte.

„Das hat man jetzt davon“, murrte Ottmar unleidlich. „Von deiner blöden Schnapsidee. Warum bin ich bloß mit hierhergekommen?“

„Als ob ich etwas dafür könnte“, verteidigte sich Helmut lahm. „Hab ich die Frau etwa zuerst gesehen?“

„Ohne dich wären wir jetzt ganz woanders. Und du hast den Notruf abgesetzt.“

„Aber nur, weil Joe es wollte.“

„Hätten wir sie einfach liegen lassen sollen?“

„Sie liegt ja nicht. Sie sitzt.“

„Wir hätten weitergehen können. Joe hätte gar nicht erst …“

„Halt die Klappe.“

Joe reagierte nicht, rauchte still und schien das Geplänkel an seiner Seite zu ignorieren.

„Du brauchst nicht beleidigt zu sein“, sagte Ottmar nach einer kleinen Pause. „Es heißt nun mal mausetot. Nicht lausetot. Und schon gar nicht …“

„Lass ihn in Ruhe“, wies Helmut seinen Freund zurecht. „Du siehst doch, dass die Angelegenheit ihm zusetzt.“

„Ja, und ich frage mich warum. Eine wildfremde Frau. Das kann doch mal vorkommen. Dass so jemand stirbt. Wenn ich mir ’s recht überlege, sterben jeden Tag eine Menge Leute, die ich nicht kenne. Ohne dass ich in Trauer versinke.“

„Es ist nicht jeder so abgebrüht wie du.“

„Abgebrüht? Ich soll abgebrüht sein?“ Ottmar richtete sich entrüstet auf. „War es mein Vorschlag, dass wir uns ausgerechnet auf einem Friedhof herumtreiben sollen?“

„Halt die Klappe.“ Helmut Schropsnagel sah hinüber zu der Bank, wo die tote Frau immer noch saß. Sein Notruf hatte zunächst ein Team von Medizinern auf den Plan gerufen, wenig später war Polizei eingetroffen. Seine Freunde und ihn hatte man angewiesen, zu warten, was sie nun seit einer guten Stunde taten. Insofern brachte Helmut für Ottmars ersichtlich schlechte Laune Verständnis auf, doch war er sich selbst keiner wesentlichen Schuld daran bewusst. Sie hatten getan, was die Pflicht eines jeglichen ordentlichen Bürgers war, und die Warterei begann auch ihm langsam auf die Nerven zu gehen. Einzig Joe schien sie, sah man von seiner zutiefst bekümmerten Miene ab, mit Geduld zu ertragen.

„Warum fotografierst du nicht?“, wollte Ottmar nach ein paar weiteren Minuten bärbeißig wissen. „Du könntest die Bilder an einen privaten Fernsehsender verkaufen und dir ein ordentliches Hobby leisten.“

„Steig mir den Buckel runter.“ Helmut stupste den apathisch auf der Mauer hockenden Joe sanft in die Seite. „Ist dir nicht gut?“

„Doch“, sagte Joe einsilbig.

„Bist du beleidigt?“

„Ich streite mich nicht mit dem Arsch.“

„Ottmar ist kein Arsch. Er ist dein Freund.“

„Benimmt er sich so?“

„Ihr werdet doch jetzt nicht wegen zwei Buchstaben … zwei lächerlichen Buchstaben …“

„Verzeihung, die Herren.“ Eine junge Frau in Polizeiuniform hatte sich der Mauer genähert. Ottmar, Helmut und Joe saßen unwillkürlich stramm. „Sie sollen diese Frau gefunden haben?“

„Der da“, sagte Ottmar, zeigte auf Joe und hüpfte schwungvoll von der Mauer.

„Wir benötigen Ihre Personalien und müssen Ihnen eine Speichelprobe abnehmen. Reine Routine. Nur für den Fall …“

„Welchen Fall?“, fragte Joe.

„Na, für den Fall … Sie wissen schon.“

„Ist die Frau etwa ermordet worden?“, schnappte Ottmar ungehalten.

„Dazu kann ich Ihnen im Moment nichts sagen“, entgegnete die Polizistin unverbindlich. „Bitte kommen Sie mit mir hinüber zu dem Bus da hinten.“

„Womöglich wollen Sie auch noch meine Fingerabdrücke?“

„Wenn es Ihnen danach ist, sie uns zu geben …“

„Mir danach ist? Was soll das denn heißen?“

„Ottmar“, unterbrach an dieser Stelle Helmut streng. „Bitte jetzt kein Theater. Lass uns diese … Formalitäten hinter uns bringen und machen, dass wir wegkommen.“

„Das würde dir so passen, was?“, fauchte Ottmar erbost. „Jetzt, wo wir stundenlang hier gesessen haben, und es endlich interessant wird …“

„Ich komme mit“, verkündete Joe lapidar und setzte sich in Bewegung.

„Wenigstens einer ist vernünftig“, seufzte Helmut tief und lächelte die Polizistin entschuldigend an.

„Kannten Sie die Frau?“, fragte die ungerührt.

„Nein. Wieso denn? Wir sind einfach nur hier herumgestanden“, ereiferte sich Ottmar. „Versuchen Sie bloß nicht, uns etwas in die Schuhe zu schieben.“

„Herumgestanden?“, wiederholte die Polizistin fragend und mit süffisantem Unterton.

„Ja, herumgestanden. Weil der Herr hier Gräber fotografieren wollte.“

„Gräber fotografieren. So, so.“

„Schluss jetzt“, unterbrach Helmut energisch. „Ich kann fotografieren, was ich will.“

„Sonst haben Sie nichts geknipst? Vielleicht die Tote auf der Bank?“

„Weshalb hätte ich das tun sollen?“

„Weshalb knipst man Gräber?“

„Wollen Sie die Bilder sehen? Ich sammle Motive für einen Fotoband.“

„Nein, lassen Sie mal“, winkte die Polizistin ab und grinste. „Überreden Sie lieber Ihren Freund, zu unserem Bus zu gehen.“

★ ★ ★

Bei seinem Eintreffen auf dem Friedhof kamen Emmerich drei erregte Rentner entgegen, ansonsten hatten sich erfreulicherweise nur wenige Neugierige außerhalb des abgesperrten Bereiches eingefunden. Eine uniformierte Kollegin erkannte ihn, hob das weiß-rot-gestreifte Band ein wenig an und ließ ihn passieren. Die Notärztin stand ungerührt neben der Bank mit der Leiche und rauchte. Emmerich warf nur einen kurzen Blick auf die tote Frau. Mitte fünfzig schätzte er, unauffällig, in dunklen Farben gekleidet, Augen geschlossen. Sah man von ihrer unnatürlichen Blässe und der etwas eigenartigen Haltung ab, hätte man meinen können, die Frau halte lediglich ein kurzes Nickerchen.

„Sieht nicht wie ein Gewaltverbrechen aus“, meinte Emmerich daher auch an die Ärztin gewandt. „Wo ist das Problem?“

„Hier“, sagte die sachlich, ging zur Bank und zog den Kragen der dunklen Jacke auf der rechten Seite des toten Körpers ein wenig nach unten. „Wofür halten Sie das?“

Emmerich betrachtete den solcherart freigelegten Hals, an dem feine Fältchen auf ein etwas höheres Alter der Verblichenen schließen ließen, als er zuvor angenommen hatte.

„Blutergüsse?“

„Nicht ganz.“ Die Ärztin drückte mit dem Daumen gegen eine der violett verfärbten Stellen. Für einen Augenblick sah es so aus, als verschwinde diese. „Das sind Totenflecke. Sie bilden sich normalerweise an der Unterseite einer Leiche. Weil das verklumpende Blut und andere Körperflüssigkeiten …“

„Sie wollen sagen, dass in diesem Fall diese Flecke an dieser Stelle nichts zu suchen haben“, verkürzte Emmerich, an unappetitlichen Details wenig interessiert, die pathologischen Ausführungen seines Gegenübers.

„Nicht, wenn die Frau in derselben Haltung gestorben ist, in der sie hier vor Ihnen sitzt.“

„Hm“, machte Emmerich unschlüssig. „Sie müsste also gelegen haben? Auf der rechten Seite?“

„Zumindest eine Weile. Post mortem, natürlich.“

„Tote richten sich nicht von selbst wieder auf.“

„Ist mir in meiner beruflichen Praxis zumindest noch nie untergekommen“, erwiderte die Ärztin mit einem leichten Lächeln im Gesicht.

„Gibt es Hinweise auf Gewalteinwirkung von außen?“, wollte Emmerich wissen.

„Entdeckt hab ich noch keine.“

„Und was glauben Sie, wie lange sie hier schon sitzt?“

„Anhand der Ausprägung der Leichenstarre würde ich auf etwa fünf bis sechs Stunden tippen. Das kann allerdings nur eine ungefähre Schätzung sein.“

„Hm“, wiederholte Emmerich nachdenklich und winkte der Kollegin, die das Absperrband für ihn angehoben hatte.

„Was meinen Sie?“, fragte er in der Art eines polizeilichen Ausbilders im Praxissemester. „Halten Sie es für möglich, dass ein Passant … ein xbeliebiger Passant … eine Frau auf einer Bank liegen sieht, feststellt, dass die Frau nicht mehr lebt, sie aufrichtet und einfach weitergeht? Ohne jemanden anzurufen oder zu verständigen?“

„Ja“, entgegnete die Polizistin, ohne mit der Wimper zu zucken. „Helfen könnte der Passant ja sowieso nicht mehr. Wenn er es also eilig hatte, wenn er keine Lust auf Scherereien hatte, was auch immer … Ja, das halte ich für durchaus denkbar. Ich kann mir sogar vorstellen, dass gar nicht wenige Leute so reagieren würden.“

„Die Frau könnte also ohne weiteres eines ganz natürlichen Todes gestorben sein?“

„Ohne weiteres“, meinte die Ärztin. „Vielleicht aber auch nicht.“

„Hm“, räusperte sich Emmerich ein drittes Mal, betrachtete die Umgebung der Bank, erwog die Umstände sowie die Kosten eines Einsatzes der Spurensicherung und traf die Entscheidung, die offensichtlich von ihm erwartet wurde. „Wir gehen kein Risiko ein. Die Frau wird zur gerichtsmedizinischen Untersuchung überstellt, den Rest erledigt ihr.“

„Das volle Programm?“, fragte die Kollegin skeptisch.

„Das volle Programm“, bestätigte Emmerich. „Jetzt und sofort. Auf meine Verantwortung. Und wir hängen es noch nicht an die große Glocke.“

Das Rätsel im Hoppenlau

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