Читать книгу Der Fuß vom Monte Scherbelino - Stefanie Wider-Groth - Страница 10
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ОглавлениеDas Kennzeichen diktierte er wenig später Mirko Frenzel, dem er auch, versehen mit einer entsprechenden Erklärung, das kaputte Handy überreichte.
„Die Kollegen“, meinte Mirko mit einer vagen, den gesamten Platz umfassenden Armbewegung, „werden langsam stinkig und wollen wissen, wann es losgeht. Es ist kalt und der helle Tag ist kurz.“
„Ich weiß“, antwortete Emmerich und sah auf seine Armbanduhr. „Eigentlich wollte ich noch warten, bis die Schnecke kommt …“
„Die Schnecke?“
„Unsere Zeugin, Kimberley Schneckle. Wird aber noch ein bisschen dauern. Wir fangen einfach schon mal an. Bergauf orientieren, irgendwo da oben soll eine kleine Lichtung sein.“
„Das steilste Stück“, meinte Mirko nach einem kurzen Blick den Berg hinauf. „Irgendeine Begründung, warum wir ausgerechnet aufwärts sollen? Wir könnten auch zuerst das Tal ganz rechts durchsuchen.“
„Der obere Parkplatz. Das Handy. Ein Schuh mit Fuß rollt eher abwärts als waagrecht durch ein Tal. Wir haben keine echten Anhaltspunkte. Wenn dir noch was Besseres einfällt, sag es frei heraus.“
„Eher nicht.“
„Dann Hals- und Beinbruch. Ich warte hier auf meine Zeugin.“
„Sehr witzig“, knurrte Mirko ungehalten. Wenig später setzte sich die Kette der Kollegen in Bewegung, kurz darauf drangen erste Flüche aus dem Wald. Es war einer der Momente, in denen Emmerich tatsächlich froh war, nicht mehr zu den Jüngeren zu gehören. Mitten im Winter unwegsames Gelände nach einer Leiche abzusuchen war eine der unschönen Aufgaben, die der Polizeidienst bereithalten |36|konnte. In Angriff genommen werden mussten sie dennoch, diese Aufgaben. Wie so vieles andere auch, ohne dass irgendwer dafür eine Sonderprämie oder einen Risikozuschlag zahlte. Trösten konnte man sich damit, den Tag an der frischen Luft verbringen zu dürfen, und Bewegung galt ja schließlich als gesund. Emmerich luchste den Kollegen aus dem Kleinbus der Kriminaltechnik einen Becher heißen Kaffees ab, hörte sich ein paar schlechte Witze an und war dankbar, als endlich der Streifenwagen mit Kimberley Schneckle eintraf. Sie war ein dürres, groß gewachsenes, junges Mädchen in viel zu dünnen Jeans und einem viel zu kurzen Jäckchen.
„Ja, wir haben hier gehalten“, bestätigte sie fröstelnd. „Der Patrick ist dann rüber an das Häuschen da zum pi … also, zum … Sie wissen schon …“
„Wasser lassen“, ergänzte Emmerich, das steinerne Häuschen, von dem angenommen werden durfte, dass es Technik des örtlichen Energieversorgers enthielt, betrachtend.
„Ich bin mit dem Terry … das ist der Hund … ein paar Meter in den Wald hinein.“ Kimberley Schneckle zeigte mit einem knallrosa lackierten, spitzen Fingernagel auf den einzigen Weg, der vom Parkplatz fort, am Häuschen vorbei führte. „Der Terry hat dann auch … Sie wissen schon … und plötzlich war er weg. Links, den Berg hoch. Vielleicht fünf Minuten lang, wir sind zurück zum Auto. Wie er wiederkam, hatte er den Schuh im Maul. Erst wollte er nicht loslassen, ich hab dann dran gezogen und das Ding auch in die Hand bekommen. Aber nur, weil oben was herausgeguckt hat, was der Terry im Maul behalten und zerbissen hat.“ Sie hielt inne, zog das kurze Jäckchen enger zusammen und sah angewidert drein.
„Ein Knochen?“, vergewisserte sich Emmerich.
„Mann“, äußerte Kimberley Schneckle gequält und verschränkte frierend ihre Arme über der mageren Brust. „Ich weiß doch auch nicht … ja … ich glaub, es war ein Knochen. Verstehen Sie, mir war so kalt und es war dunkel. Ich hab nur ganz kurz hingesehen und den Schuh dahinten, wo das Schild steht, hingeschmissen. Ekelhaft hat sich das angefühlt, wir sind dann einfach weiter.“
|37|„Und auf dem Heimweg“, warf Gitti Kerner, die dem Gespräch an Emmerichs Seite folgte, fragend ein, „sind Ihnen Zweifel gekommen, ob das richtig war?“
„Ja, verdammt. Aber Patrick wollte nicht mehr umdrehen. Ich hätte zu viel Fantasie, hat er gemeint.“ Kimberley Schneckle zitterte nun sichtbar.
„Schön“, meinte Emmerich, um das Frieren seiner Zeugin abzukürzen. „Den Rest der Geschichte kennen wir. Weil Sie den Schuh berührt haben, brauchen wir noch schnell eine Speichelprobe von Ihnen. Dann sind Sie bis auf Weiteres entlassen.“
„Danke“, sagte Kimberley Schneckle.
„Nur noch eine Frage.“ Gitti hielt bereits das Wattestäbchen für die Speichelprobe in der Hand. „Wo genau hat Ihr Hund das Ding zerbissen? Das Ding, das Sie für einen Knochen hielten?“
„Unge … ge … fähr da … a“, schnatterte das dürre Mädchen und zeigte dorthin, wo der Kleinbus der Techniker stand, „wo jetzt der linke Hinterreifen ist.“ Gitti nickte, nahm die Speichelprobe und bedankte sich ihrerseits. Erst als Kimberley Schneckle wieder im Streifenwagen saß und davongefahren wurde, wandte sie sich mit einem spitzbübischen Grinsen an Emmerich.
„Was ist besser? Bergsteigen und Leiche suchen, oder den Kies vom Parkplatz sieben, bis wir Knochensplitter finden?“
„Herausfinden, was das für eine Geschichte mit dem Busfahrer sein soll“, entgegnete Emmerich nach einem kurzen Blick auf den Hinterreifen. Wenn es Knochensplitter gab, waren sie inzwischen vermutlich ziemlich fein zermahlen. „Ich fahre ins Büro zurück. Du kannst mitkommen, wenn du willst, so dringend werden wir hier nicht gebraucht.“
***
„Frau Kappel, Pfand“, schallte eine lautsprecherverstärkte Stimme durch den Supermarkt. Florina beeilte sich, den kleinen Pausenraum zu verlassen und den Automaten, der die leeren Plastikflaschen |38|schluckte, aufzusuchen. Meist galt es nur, die vollen Säcke, in denen diese Flaschen gesammelt wurden, gegen leere auszutauschen, zu verschließen und zur Abholung bereitzustellen. Gelegentlich hatte das Leergut sich auch verhakt, die Pfandannahme stockte, es bildeten sich Schlangen vor dem Automaten, die wiederum den steten Strom der Kunden, deren Laufwege heutzutage genauesten Berechnungen folgten, störten. Wie überhaupt ein solcher Supermarkt nicht einfach nur ein Laden war, sondern von der Präsentation der Waren über die Bestückung der Regale bis hin zu den Kühlketten oder dem Energieverbrauch ein hochkomplexes System. Es in seiner Gesamtheit zu verstehen, wie ihr das einst beim eigenen Tante-Emma-Laden noch gelungen war, schien Florina unmöglich zu sein. Wenn sie dann bedachte, dass dieser eine Supermarkt ein ziemlich kleiner und dazu nur einer von vielen tausend anderen war, wenn sie weiterhin bedachte, dass auch die vielen tausend anderen Märkte ebenso hochkomplexe Systeme bildeten, die wiederum vom reibungslosen Funktionieren übergeordneter, vermutlich noch komplexerer Systeme abhängig waren, dann wurde Florina regelmäßig mulmig. Manchmal malte sie sich aus, wie schon ein kleiner Fehler endlose Ketten weiterer Probleme auslöste, bis am Schluss – dann aber handelte es sich meist bereits um einen veritablen Alptraum – der völlige Zusammenbruch sämtlicher Systeme stand. Allein die schiere Menge der jeden Tag mit Plastikflaschen gefüllten Säcke reichte ihr aus, sich die Größe des im Pazifik treibenden Müllstrudels lebhaft vorstellen zu können. Was würde geschehen, wenn er einfach immer größer wurde, in den nächsten fünfzig Jahren? Gab es inzwischen noch mehr solcher Strudel als den bereits bekannten im Pazifik? Und was war mit den Müllhalden, die ganze Küsten Afrikas bedeckten und in denen kleine Kinder zwischen weggeworfenen Computerteilen nach Verwertbarem suchten? Bestand die Möglichkeit, dass noch zu ihren Lebzeiten das System des vielen Plastiks nicht wiedergutzumachende Schäden anrichtete, unter denen nicht nur afrikanische Kinder, die sich weit weg befanden, sondern auch sie persönlich würde leiden müssen? Florina wusste das nicht, wohl aber, dass solche Fragen |39|geeignet waren, ihr ein latentes Unbehagen zu verursachen. Gleichzeitig war ihr klar, dass zu viel Grübeln über solche Dinge ihrem Gemütszustand mehr schadete als nützte, also nahm sie sich ein Beispiel an dem Automaten, der ja schließlich auch nicht grübelte, und versah ihren Dienst in einem Modus ständiger Verdrängung. Eine Technik, in der sie mittlerweile recht geübt war, bestand zum Beispiel darin, jedes Mal, wenn sie zur Pfandrückgabe musste, an etwas völlig anderes zu denken. Insbesondere in den letzten Wochen gelang ihr das sogar ausgesprochen gut, denn Luggis spurloses Verschwinden, an das Frau Berg sie zudem gerade erst wieder erinnert hatte, beschäftigte sie sehr. Luggi, nicht Luigi, sondern mit zwei G, wie er sich Ende November grinsend bei ihr vorgestellt hatte, war ein netter Kerl. Gewesen, musste man inzwischen wohl dazu sagen, denn jetzt war Mitte Januar und der Kerl hatte sich seit Weihnachten nicht mehr bei ihr gemeldet. Was für Florina, die sich – nach einigen Jahren der nicht ganz freiwilligen Abstinenz – seit der Adventszeit schon beinahe wieder in einer festen Beziehung wähnte, ein schwer zu schluckender Brocken war. In ihren Augen gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Luggi war eben doch kein netter Kerl gewesen, sondern nur einer von zahlreichen anderen Idioten, die Reißaus nahmen, sobald es ernst wurde. Oder es war ihm tatsächlich etwas zugestoßen. Dafür sprach der Umstand, dass immer noch sein Bademantel, seine Reisetasche und sein Rucksack in Florinas Einbauschrank auf ihren Eigentümer warteten. Und außerdem die Tatsache, dass man Luggis Bus am Tag vor Heiligabend auf einem Parkplatz am Birkenkopf gefunden hatte. Ohne Luggi. Wobei dies an sich noch nicht allzu beunruhigend gewesen war, denn am Weihnachtsabend war eine SMS von ihm gekommen: Musste aus familiären Gründen dringend und kurzfristig verreisen. Melde mich nach Rückkehr. Frohes Fest. Zum Jahreswechsel, den Florina eigentlich gehofft hatte, mit dem neuen Partner zu verbringen, war dann erst einmal Enttäuschung aufgekommen, dazu ein gewisses Quantum Wut wegen Luggis Unzuverlässigkeit. Sein Handy blieb seit der letzten Botschaft abgeschaltet, wobei sie ihn ja auch nicht gut genug kannte, um zu wissen, wohin |40|seine Reise ihn geführt hatte. Vielleicht besaß Luggi ja Angehörige in irgendeinem völlig unzugänglichen Teil der Welt, einem, in dem ein mobiles Telefon keinen Empfang hatte, so etwas kam immerhin noch vor. Freunde von ihm, die man hätte fragen können, kannte Florina noch keine. Auch Holde, die ihr den netten Kerl als Übernachtungsgast vermittelt hatte, wusste von nichts und war im Übrigen selbst zwischen den Jahren verreist gewesen. Es war ihr daher gar nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, wobei sie zwischenzeitlich aber dazu neigte, die ganze Angelegenheit einfach aufzugeben. Lediglich der Umstand, dass Holde wieder für ein paar Tage bei ihr wohnte, war dazu geeignet, sich nochmals Gedanken über einen Mann zu machen, der Frauen ausnutzte und einfach sitzen ließ. Von dieser Sorte war Luggi beileibe nicht der Erste, auf den Florina hereingefallen war, sie kannte ihre Neigung, sich mit den Falschen einzulassen, inzwischen zur Genüge und auch den Selbsthass, den diese Neigung nach Beendigung der jeweiligen Affäre regelmäßig nach sich zog. Vielleicht gelang es, Holde noch ein paar Informationen über Luggi zu entlocken, vielleicht aber auch nicht. Dann würde man sich über die Bedeutung des Wortes Backoffice unterhalten und es wäre auch egal. Florina packte einen prall gefüllten Sack mit Plastikflaschen, beförderte ihn mit Schwung dorthin, wo schon andere, genauso prall gefüllte Säcke lagen, setzte mit einem Knopfdruck den Automaten wieder in Betrieb und ging zurück zu ihrer Kasse.
***
„Ach, wie schön, dass Sie schon wieder da sind“, sagte Frau Sonderbar und sah dabei Gitti Kerner an.
„Finde ich auch“, gab die, allenfalls leicht erstaunt, zurück. „Hier ist wenigstens geheizt.“
„Dann haben Sie vielleicht auch ein halbes Stündchen Zeit für mich?“, setzte Frau Sonderbar hoffnungsvoll hinzu und verhieß darüber hinaus eine heiße Tasse Tee für alle. Emmerich jedoch machte ihre Hoffnungen mit einem Satz zunichte:
|41|„Falls es um diesen Fragebogen geht, dann hat sie keine. Wir sind im Einsatz.“
„Wo ist das Problem?“, wollte Gitti wissen.
„Ein Fragebogen der Abteilung für …“, setzte Frau Sonderbar zu einer Erklärung an, während Emmerich im gleichen Atemzug „Firlefanz“ schnaubte, die Kollegin barsch anwies, in sein Büro zu gehen, und seine Sekretärin mit den Worten „Den Tee nehmen wir trotzdem“ brüskierte. Er hörte sie gerade noch empört „Also, wirklich …“ sagen, ehe er die Tür hinter sich schloss und seinen Rechner in Betrieb nahm, noch bevor er aus dem Mantel schlüpfte.
„Das war jetzt nicht besonders höflich“, kommentierte Gitti kritisch und setzte sich auf einen der Besucherstühle.
„Ist doch wahr“, brummte Emmerich, seinerseits hinter dem Schreibtisch Platz nehmend. „Als ob wir die Zeit hätten für blöde Fragebögen. Als ob wir Erhebungen anstellen könnten hinsichtlich eines eventuellen Migrationshintergrundes der Kollegen. Soll ich jetzt jeden fragen, ob er Vorfahren aus Dänemark, Afghanistan oder Tunesien hat?“
„Die Mutter vom Kollegen Schmitz ist, glaube ich, aus Südamerika. Brasilien oder Argentinien, ganz genau weiß ich es auch nicht.“
„Mirko hat Verwandte in der Schweiz. Und Kommissar Koslowskis Ahnen kamen sicherlich aus Polen, ich werde mich aber hüten, ihn zu fragen, wie viele Generationen das schon her ist.“
„Mein Urgroßvater war aus der Tschechoslowakei. Er hat den Todesmarsch von Brünn nach Wien mitmachen müssen, bevor es ihn ins Schwäbische verschlagen hat.“
„Einer von meinen kam aus Österreich, eine von den Urgroßmüttern sogar aus Ungarn. Ich wüsste nicht, was das heute, für meine Arbeit, noch für eine Rolle spielen sollte. Wenn man genauer hinsieht, hat doch fast jeder irgendeinen Migrationshintergrund.“
„Ich denke“, sagte Gitti mit gefurchter Stirn, „dass es mehr um Leute wie Polizeiobermeister Fahti Ünlü geht. Der jetzt gerade auf dem Birkenkopf herumkriecht, der arme Kerl.“
|42|„Das kann schon sein.“ Emmerich ergriff seine Maus und begann zu klicken. „Aber Menschen, die Polizeibeamte sind, haben die deutsche Staatsbürgerschaft und es ist mir ganz egal, wie sich ihr Stammbaum zusammensetzt. Wichtig ist mir nur, dass sie gute Arbeit leisten und sich an unsere Verfassung halten. Die eigentliche Diskriminierung geht dort los, wo man anfängt, dumme Fragen zu stellen. Das ist meine Meinung und jetzt kommen wir zur Sache.“
„Der vermisste Busfahrer?“
„Jawohl. Warum weiß ich nichts darüber?“
„Weil wir dafür nicht zuständig waren, nehme ich mal an. Die meisten verschwundenen Personen tauchen wieder auf und die Sache ist erledigt.“
„Was muss ich in dieses Programm eingeben, wenn ich weder einen Namen noch ein Datum und auch kein Aktenzeichen habe, um etwas über den Mann herauszufinden?“
„Versuch’s mit Stichworten. Birkenkopf … Busfahrer … Sportschuh … was weiß ich.“
Das Telefon begann zu klingeln, mit einem unwilligen Laut legte Emmerich die Maus zur Seite, hob den Hörer ab und lauschte. Nach ein paar knappen „Jas“, „Ahas“ und „Sosos“ sagte er: „Dann muss das wohl so sein“, legte wieder auf und sah Gitti an.
„Frenzel. Sie haben was gefunden. Soll nicht besonders appetitlich sein.“
„Hab ich nicht erwartet.“
„Was? Dass etwas gefunden wird?“
„Dass es appetitlich sein könnte.“
„Jedenfalls müssen wir sofort zurück zum Birkenkopf.“
„Wir beide?“ Gitti guckte konsterniert. „Wir sind doch gerade erst zurückgekommen. Wäre es nicht besser, wenigstens ich würde versuchen, die Sache mit dem Busfahrer zu recherchieren?“
„Das“, entgegnete Emmerich mit einem feinen Lächeln innerer Genugtuung auf den Lippen, „kann Frau Sonderbar genauso gut erledigen. Für überflüssige Fragebogen hat sie dann leider auch keine Zeit mehr.“