Читать книгу Der Fuß vom Monte Scherbelino - Stefanie Wider-Groth - Страница 8

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Frau Sonderbar drehte den Kopf nur leicht von ihrem Bildschirm weg, als Emmerich zurückkam.

„War es wichtig?“, wollte sie in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, dass eine bejahende Antwort nicht erwartet wurde, wissen. Emmerich, der davon ausging, dass der Inhalt der Discountertüte sich als schlichter Abfall entpuppen würde, gab entsprechend gleichgültig zurück:

„Eher nicht.“

„Frau Kerner hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie kann frühestens in einer halben Stunde hier sein. Die S-Bahn …“

„Das macht mir nichts.“

„Aber mir“, seufzte abgrundtief Frau Sonderbar, den Blick wieder auf ihren Bildschirm heftend.

„Weshalb?“ Emmerich war klar, dass ein solcher Seufzer eine Nachfrage erforderte. Frau Sonderbar zeigte anklagend auf den Bildschirm.

„Ausgerechnet heute, wo ich sie wirklich einmal gut gebrauchen könnte.“

„Vielleicht kann ich ja helfen?“, machte Emmerich höflichkeitshalber ein durchaus halbherziges Angebot.

„Ach nein, ich glaube nicht“, entgegnete Frau Sonderbar. „Sie sind ja ein Mann.“ Eine Bemerkung, die geeignet war, bei Emmerich immerhin einen Anflug von Neugier zu erwecken, auch wenn er überzeugt war, dass seine Kenntnisse und Fähigkeiten keine ernsthafte Hilfe bei der Erledigung von Sekretariatsarbeiten zuließen. Nicht weil er davon ausging, dass dies eine Geschlechterfrage war, mit dergleichen Themen pflegte er sich ohnehin nicht zu beschäftigen. Der Mensch im Allgemeinen, fand Emmerich, sollte das tun, was er |16|am besten konnte und wofür man ihn ausgebildet hatte. Wobei Frau Sonderbar nach seiner Auffassung und ohne, dass ihm große Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, zweifellos zu den Perlen ihrer Profession zählen musste, während er sich eher für einen durchschnittlichen Repräsentanten der Kriminalistik hielt. Abwartend blieb er einfach stehen.

„Das kommt vom Chef“, sagte Frau Sonderbar missvergnügt. „Ich soll es beantworten. Ein Fragebogen der Abteilung für individuelle Chancengleichheit von Frauen und Männern.“

„Der Abteilung für …“, wollte Emmerich sich vergewissern, dass er richtig verstanden hatte und musste im selben Moment feststellen, dass die genaue Bezeichnung dieser Abteilung die Leistungsfähigkeit seines Kurzzeitgedächtnisses überforderte.

„… individuelle Chancengleichheit von Frauen und Männern“, wiederholte Frau Sonderbar deshalb geduldig und scrollte auf ihrem Bildschirm ein Stückchen weiter nach unten. „Hier steht, dass diese Abteilung hilft, wenn man das Gefühl hat, wegen seines Geschlechts, seines Alters, der Religion, der sexuellen Orientierung oder Identität, der kulturellen Zugehörigkeit, einer Behinderung oder wegen seiner sozialen Herkunft benachteiligt zu werden. Man kann sich dann dort beraten lassen.“

„Das ist super. Und wir haben so was bei der Polizei?“

„Dieser Fragebogen ist jetzt von der Stadt.“

„Ich habe häufig das Gefühl, dass ich irgendwie benachteiligt werde.“

„Aber wohl kaum aus einem der genannten Gründe.“ Frau Sonderbar gab ein Geräusch von sich, das als verschlucktes Kichern interpretiert werden konnte. Womöglich, befürchtete Emmerich, befasste sie sich in ihrer Vorstellung bereits mit seiner sexuellen Identität oder stellte Überlegungen hinsichtlich seiner kulturellen Zugehörigkeit an. „Jedenfalls wollen sie zum Beispiel wissen, wie viele Personen mit Migrationshintergrund bei uns in welchen Positionen arbeiten und wie wir die Aufstiegsmöglichkeiten dieser Personen einschätzen. Insbesondere der weiblichen Personen.“

|17|„Das wissen Sie doch“, meinte Emmerich lakonisch. „Die Polizei bietet hervorragende Aufstiegsmöglichkeiten für alle. Eine Diskriminierung, ganz egal von wem, findet niemals statt. Frau Kerner kann Ihnen dazu auch nichts anderes sagen. Und selbst wenn sie könnte, heißt das noch lange nicht, dass Sie es in diesen Fragebogen schreiben dürften.“

„Mein Gott“, äußerte Frau Sonderbar ungehalten. „Ich dachte ja auch nur, ich frag sie mal. Schließlich ist sie eine weibliche Person.“

„Aber ohne Migrationshintergrund. Soweit ich weiß, zumindest.“

„Es geht ja wohl auch mehr um Gleichstellung. Bei diesem Fragebogen. Und es ist eine altbekannte Tatsache, dass diese erst vollzogen ist, wenn genauso viele unfähige Frauen auf gut dotierten Posten sitzen, wie es Männer heute schon tun.“

„Das soll eine altbekannte Tatsache sein?“

„Ja.“

„Sie gestatten, dass ich anderer Ansicht bin?“ Emmerich verspürte plötzlich wenig Neigung, das Thema weiter zu vertiefen. „Wozu müssen Sie sich überhaupt befassen mit dem Zeug? Ist das nicht eher Aufgabe der Personalabteilung?“

„Jedes Dezernat soll seine Daten selbst erheben.“

„Aber Frau Kerner ist nicht unfähig.“

„Das habe ich auch nicht behauptet. Sie drehen mir das Wort im Mund …“ Das Telefon begann zu dudeln, Frau Sonderbar unterdrückte das „Herum“, nahm den Hörer ab und lauschte. „Doktor Zweigle will Sie sprechen“, verkündete sie nach wenigen Sekunden und wies mit der freien Hand auf Emmerichs Büro. „Ich stelle durch.“

***

Just in dem Moment, in dem Florina den zurückgelassenen Bademantel aus ihrem Einbauschrank anprobierte, klingelte es an der Wohnungstür. Der Mantel, ein noch recht neues Exemplar aus einem flauschigen, dunkelgrauen Material war ihr nur ein klein wenig zu groß, die Ärmel eine Spur zu lang, was beim Tragen in den eigenen |18|vier Wänden aber keine Rolle spielen sollte. Es war gut drei Wochen her, dass sein Besitzer ihn samt der Reisetasche mit dem Zahlenschloss und dem Trekkingrucksack zurückgelassen hatte, immer noch verströmte das flauschige Material einen dezenten Geruch nach Mann. Keinen unangenehmen Geruch, der den ganzen Einbauschrank kontaminierte – auch das war bisweilen durch zurückgelassene Kleidungsstücke schon passiert – sondern mehr so eine leichte Ahnung einer körperlichen Präsenz des eigentlichen Mantelträgers, die aber natürlich nur in Florinas Vorstellung existierte. Bedauerlicherweise, wie man sagen musste, denn sie hatte gewisse Hoffnungen mit der Bekanntschaft dieses Mannes verbunden, die sich nun, nachdem sie schon so lange nichts mehr von ihm gehört hatte, nach und nach in Luft auflösten. Ein Umstand, der Florina, die die Dreißig überschritten hatte, wieder einmal mit der Frage konfrontierte, ob sie es überhaupt in ihrem Leben noch einmal zu einer stabilen Beziehung bringen würde. Ohne den Mantel abzulegen, öffnete sie die Wohnungstür. Eine schlanke Frau, nur wenig älter als sie selbst, in einer dunklen, dick wattierten Jacke wartete davor, ein Stirnband hielt ihr rötlich-braunes, glattes Haar davon ab, ihr ins Gesicht zu fallen. Neben ihr stand ein kleiner Reisetrolley.

„Sorry“, sagte die Frau, kaum dass sie des Bademantels ansichtig geworden war. „Es tut mir leid, ich bin zu früh. Du bist noch gar nicht angezogen.“

„Doch“, widersprach Florina und zog die Tür ganz auf. „Komm ruhig rein, ich probiere nur was aus.“

„Ich hab einen anderen Zug genommen.“ Die Frau griff nach dem Reisetrolley und schob ihn in die Wohnung. „Einen, der schon früher hätte fahren sollen, aber Verspätung hatte. Weil der, den ich normalerweise hätte nehmen wollen, noch später gefahren wäre.“

„Es ist wirklich kein Problem“, versicherte Florina. „Geh einfach durch, dein Zimmer ist schon fertig.“

„Natürlich hab ich jetzt noch Zeit, bis ich zu meinem Kunden muss. Eine Tasse Kaffee wäre super. Soll ich dich irgendwohin zum Frühstück einladen?“

|19|„Danke, ich bin gerade fertig mit dem …“

„Ich störe dich bei deiner Morgentoilette.“

„Nein, Holde. Ganz ehrlich, du störst mich überhaupt nicht.“ Florina zog den Mantel aus, darunter trug sie bereits Jeans nebst einem geringelten Pullover, und hängte ihn zurück in ihren Schrank. „Das da ist nicht einmal mein Mantel. Wenn du magst, dann mache ich uns noch einen schnellen Kaffee in der Küche. Anschließend muss ich auch los.“

„Großartige Idee. Ich liebe deine Küche“, erklärte die Besucherin und steuerte das Gästezimmer an. „Gleich bin ich bei dir und regle auch sofort die Sache mit dem Geld.“

„Das eilt nicht.“

„Wäre es okay für dich, wenn ich noch ein, zwei Nächtchen länger bliebe?“

„Auch das ist kein Problem“, sagte Florina. Sie mochte Holde Hirn, vielleicht nicht so, wie eine Frau ihre allerbeste Freundin mochte, aber doch immerhin genug, um ihre Anwesenheit mehrere Tage lang ohne Weiteres zu ertragen. Zudem mochte sie auch Holdes Geld, denn diese feilschte niemals oder versuchte Rabatte herauszuholen. Ihr Arbeitgeber ersetzte die Kosten für die Übernachtung durch eine Pauschale, von der Florina annahm, dass sie noch um einiges über dem von ihr verlangten Zimmerpreis angesiedelt war. Da es Holde aber freistand, mittels dieser Pauschale zu übernachten, wo immer sie wollte, so war weiters anzunehmen, dass auch sie, die sich auf diese Weise das Geld für ein teures Hotel oder Appartement ersparte, mit Florinas Zimmer ein gutes Geschäft machte. Während der Arbeitgeber vermutlich davon ausging, dass Holde mindestens in einem Vier-Sterne-Haus logierte. Die genauen Umstände gingen Florina allerdings nichts an, ihr genügte es, eine gewisse Summe Bares zu erhalten und darüber keine Quittung ausstellen zu müssen. Ebendies geschah einige Minuten später am Küchentisch. Florina zählte nach und hob die Brauen.

„Eine ganze Woche? Du willst eine ganze Woche bleiben? Auch das Wochenende?“

|20|„Wenn es dir nichts ausmacht.“

„Aber … was sagt dein Freund dazu?“

„Scheiß auf meinen Freund. Dreimal darfst du raten, warum ich übers Wochenende bleiben will.“

„Er hat eine andere?“

„Das glaub ich kaum.“

„Er hat dich verlassen?“

„Falsch.“

„Du hast ihn verlassen?“

„Bis jetzt noch nicht?“

„Wo ist dann das Problem?“

Holde Hirn machte ein Gesicht, als beiße sie in eine übersaure Essiggurke, holte Atem und stieß aus:

„Das glaubst du nicht, wenn ich’s dir sage. Ich war jedenfalls total schockiert.“

„Dann sag es halt, ich glaub dir schon.“

„Er hat mich Backoffice genannt.“

„Was?“ Florina, als gelernte Einzelhandelskauffrau und hauptberufliche Kassiererin in einem Supermarkt mit Büroanglizismen nicht vertraut, nahm an, dass es sich bei dem ihr unbekannten Ausdruck um etwas Beleidigendes handeln musste.

„Backoffice“, wiederholte Holde im Ton tiefster Verachtung. „Als wäre ich nicht seine Partnerin, sondern irgendeine Angestellte, verstehst du?“

„Ja“, schwindelte Florina und nahm sich vor, im Lauf des Tages irgendwie herauszufinden, was sich hinter dem offenbar so üblen Wort verbarg. „Willst du nun Kaffee?“

„Gerne. Würdest du dir so was bieten lassen?“

„Ich weiß nicht. Können wir heute Abend weiterreden?“

„Sicher.“ Holde setzte sich, nach wie vor erregt, auf einen von Florinas weiß lackierten Stühlen und schloss die Augen. „Du hast natürlich völlig recht. Ich muss mich mental auf meinen Kunden vorbereiten. Muss emotional herunterkommen. Eins, zwei, drei, vier.“ Sie begann, tief ein- und auszuatmen. „Erd … beer … bow … le.“

|21|„Erdbeerbowle?“

„Mein Mantra. Du musst regelmäßig atmen und ein Mantra wiederholen. Wenn du emotional herunterkommen willst.“

***

„Ich grüße Sie, mein Guter“, eröffnete Dr. Zweigle das Gespräch, um sogleich fortzufahren: „Da haben Sie mir ja was Hübsches schicken lassen.“

Emmerich verzichtete auf den Hinweis, dass er keineswegs der „Gute“ des Doktors aus der Pathologie des Robert-Bosch-Krankenhauses sei. Zweigle pflegte derartige Hinweise hartnäckig zu ignorieren, weshalb er sich auch die Bemerkung sparte, dass er potenzielle menschliche Überreste nicht für „etwas Hübsches“ hielt. Leute, die von Berufs wegen gerichtsmedizinische Untersuchungen vornahmen, benötigten wohl einen anderen Zugang zu solchen Dingen als gewöhnliche Sterbliche. Er selbst dagegen war auf die Ergebnisse dieser Untersuchungen natürlich angewiesen. Was seine Zusammenarbeit mit Dr. Zweigle anging, hatte Emmerich sich daher angewöhnt, stets sachlich zu bleiben.

„Die Tüte aus dem Wald?“, vergewisserte er sich deshalb in neutralem Ton. „Sie wissen schon, was drinnen ist?“

„Na, was denken Sie denn?“, erwiderte Dr. Zweigle mit verhaltener Begeisterung. „Ich habe natürlich alles andere stehen- und liegen lassen, als Ihr Kollege kam. Wo, sagten Sie, wurde das entdeckt?“

„Ich sagte gar nichts.“

„In der Tüte befand sich ein Sportschuh.“

„So weit war ich auch schon.“

„Im Sportschuh …“, setzte Dr. Zweigle an, hielt dann aber inne, vermutlich um die Spannung zu erhöhen. Emmerich unterdrückte einen Seufzer.

„Lassen Sie mich raten. Sie haben einen Fuß gefunden.“

„Ach.“ Zweigles Stimme drückte allenfalls eine winzige Enttäuschung aus. „Das hatten Sie bereits vermutet?“

|22|„Der junge Mann, der die Tüte bei uns abgeliefert hat“, bequemte Emmerich sich zu einer Erklärung, „der hat das vermutet.“

„Nun, da hatte er ganz recht, der junge Mann. Es handelt sich um einen linken Fuß, Schuhgröße 45, also höchstwahrscheinlich männlich. DNA-Tests liegen in der Kürze der Zeit natürlich noch nicht vor. Teilweise skelettiert, Spuren von Tierfraß sind vorhanden. Man sollte meinen, dass der Rest des Körpers in der Nähe liegen sollte. Von der Fundstelle des Fußes, oder?“

„Sollte man meinen, ja.“

„Sie werden selbstverständlich danach suchen lassen?“

„Es bleibt mir kaum was anderes übrig“, bestätigte Emmerich lapidar.

„Zufällig“, sprach Dr. Zweigle, „habe ich heute ausnahmsweise etwas Luft. Ich kann also mitkommen und vor Ort gleich die notwendigen Untersuchungen vornehmen.“

„Es hat keine Eile. Erstmal müssen wir was finden, das Sie untersuchen können. Ich muss Leute und womöglich auch noch Straßensperrungen organisieren.“

„Rufen Sie mich einfach, wenn es losgeht. Am besten auf dem Handy. Ich fahre schnell nach Hause und ziehe mir etwas Geeignetes an. Wo soll’s denn hingehen?“

„Sie hören von mir, wenn wir etwas haben“, wehrte Emmerich versiert auch den zweiten Versuch des Doktors ab, etwas Genaueres über den Ort, an dem der Fuß gefunden worden war, in Erfahrung zu bringen. Beim Birkenkopf handelte es sich nicht unbedingt um einen Berg, wie ihn etwa die Alpen anzubieten hatten, immerhin aber um die höchste Erhebung innerhalb des Stadtgebiets. Zumindest diese Information aus dem lange zurückliegenden Heimatkundeunterricht glaubte Emmerich noch im Kopf zu haben. Die Erhebung verdankte ihre Höhe nicht zuletzt den entsetzlichen Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg in Stuttgart angerichtet hatte, sie bestand zu einem guten Teil aus aufgeschütteten Trümmern und stellte eigentlich ein Mahnmal dar. Den nachfolgenden Generationen allerdings diente sie in erster Linie als Ausflugsziel und Aussichtspunkt, ein |23|Ort, den man darüber hinaus bevorzugt zum Jahreswechsel besuchte, weil man von dort einen besonders schönen Blick auf das Feuerwerk im Talkessel genießen konnte. Es war kaum anzunehmen, dass dabei heutzutage jemand einen Zusammenhang zwischen Böllern und Bomben herstellte, vielmehr war davon auszugehen, dass in einer solchen Nacht reichlich mitgebrachter Alkohol getrunken wurde. Weil er es so eilig gehabt hatte, sein Gespräch mit Zweigle zu beenden, hatte Emmerich vergessen, ihn danach zu fragen, wie lange wohl der Fuß schon im Wald gelegen haben könnte. Das neue Jahr aber war noch jung, die Temperaturen niedrig. Falls es sich bei dem zum Fuß gehörigen Körper um einen handelte, dessen Besitzer auf dem Birkenkopf gefeiert hatte und dann aus irgendwelchen Gründen den Heimweg nicht mehr gefunden hatte, so war nicht mit einem komplizierten Fall zu rechnen. Was wiederum bedeutete, dass die Kosten für die Aufklärung niedrig zu halten waren. Emmerich verließ sein Büro und bat Frau Sonderbar um ihre Meinung.

„Puh“, machte die, nachdem er ihr die Fakten vorgetragen hatte. „Das ist doch alles Wald da oben. Und teilweise sehr steil dazu. Mit Unterholz und Dickicht.“

„Ich kann das von hier aus nicht beurteilen. Dazu war ich schon zu lange nicht mehr dort.“

„Außerdem gibt’s Wildschweine. Die kommen heutzutage fast bis in die Stadt.“

„Wildschweine? Das sind Allesfresser, richtig?“

„Richtig. Zudem ist es wirklich nicht besonders lange hell. In dieser Jahreszeit.“

„Sie glauben also, es wird schwierig, dort überhaupt etwas zu finden?“

„Sicherlich nicht einfach.“

„Ja“, nickte Emmerich und kratzte sich am Kopf. „So eine Ahnung kam mir auch schon.“

„Eine Hundertschaft“, sagte Frau Sonderbar ohne sonderliche Rührung. „Darunter würde ich erst gar nicht anfangen.“

„Prost, Mahlzeit.“

|24|„Ich ruf den Chef an und sag ihm Bescheid.“

„Wenn ich Sie nicht hätte.“ Im Bewusstsein, sein eigentliches Ziel erreicht zu haben und in der Hoffnung, sich nicht selbst für einen derartigen Einsatz rechtfertigen zu müssen, wartete Emmerich noch ab, bis sie den Hörer in der Hand hielt, bevor er sich strategisch klug wieder in sein eigenes Büro zurückzog. Dort fingerte er den Zettel mit der Nummer von der Schnecke aus der Tasche und durfte feststellen, dass die Freundin des jungen Mannes tatsächlich mit Nachnamen Schneckle hieß. Emmerich schmunzelte, es war ein netter Name, der die Vorstellung einer dazugehörigen, irgendwie goldigen Person hervorrief. Bis er den Vornamen entdeckte: Der lautete tatsächlich „Kimberley“ und sorgte dafür, dass Emmerichs Mundwinkel umgehend wieder nach unten sanken. Es bedurfte mehrerer Versuche, bis sich unter der notierten Telefonnummer endlich jemand meldete. Eine Frauenstimme, die lustlos den Namen einer Backkette nebst zugehöriger Adresse der Filiale herunterleierte. Emmerich verlangte etwas widerstrebend Kimberley Schneckle.

„Bin ich“, sagte die Frauenstimme.

„Die Dame, deren Hund am gestrigen Abend einen Turnschuh aus dem Wald geholt hat?“

„Sind Sie von der Polizei?“

„Verzeihung.“ Emmerich holte seinerseits die Vorstellung seiner eigenen Person nach und kündigte an, Frau Schneckle demnächst mit einem Streifenwagen abholen zu lassen.

„Das geht gar nicht“, wies diese sein Ansinnen brüsk zurück.

„Das geht wohl“, korrigierte Emmerich. „Polizeiliche Ermittlungen dulden keinen Aufschub. Ich brauche Sie am Fundort, damit Sie mir die genaue Stelle zeigen können.“

„Ich bin alleine hier. Dann müsste ich ja die Filiale schließen.“

„Müssten Sie, jawohl.“

„Erklären Sie das meinem Arbeitgeber? Und garantieren Sie mir, dass ich dann meinen Job behalte?“

„Ähm …“

„Meine Kollegin kommt um zwei“, äußerte Frau Schneckle mit |25|einem flehentlichen Unterton. „Das muss doch reichen. Ich meine … so ein toter Fuß, der wird ja wohl nicht mehr lebendig. Da ist es doch egal, ob ich ein bisschen früher oder später dort bin.“

Im Prinzip war das natürlich richtig. Andererseits, allerdings ebenfalls ganz prinzipiell, galt es, schnell zu handeln. Emmerich sah auf seine Armbanduhr und bedachte die Zeit, die er benötigen würde, um Frau Schneckles Arbeitgeber, von dem angenommen werden durfte, dass es sich dabei um irgendeine Personalabteilung an einem unbekannten Ort handeln würde, zu besänftigen. Im Leben kam es immer wieder vor, dass ein Prinzip mit einem anderen kollidierte. Es galt dann, sorgsam abzuwägen und eines der Prinzipien aufzugeben. Was wiederum viel über den eigentlichen Charakter von Prinzipien sagte, aber das war ein anderes Thema. Emmerich traf eine Entscheidung.

„Dann stehen die Kollegen um Punkt zwei Uhr vor Ihrer Tür und bringen Sie … wohin noch mal genau?“

„Es ist ein Parkplatz. Unten, an dem Berg, auf dem die ganzen alten Steine liegen. Wenn Sie von Botnang aus stadteinwärts fahren, können Sie es nicht verfehlen. Auf dem Parkplatz ist ein Schild, irgendwas mit Müll abladen oder so. Ungefähr dort … aber … Moment …“ Frau Schneckle hielt inne, Emmerich hörte sie „Zweizwanzig, danke“ sagen, dazu das Geräusch einer Kasse, dann hatte er sie erneut am Ohr.

„Hören Sie“, sagte Frau Schneckle empört. „Das kann wohl nicht ihr Ernst sein.“

„Was kann nicht mein Ernst sein?“

„Dass ein Polizeiauto direkt vor meiner Filiale hält. In das ich dann auch noch einsteigen muss. Wenn mich da die Kundschaft sieht, was sollen die denn von mir denken?“

„Wir halten ein paar Häuser weiter.“

„Ich kann doch den Bus nehmen. Das dauert höchstens eine Stunde, vielleicht auch …“

„Es reicht jetzt mit den Extrawürsten“, unterbrach Emmerich seine Gesprächspartnerin resolut. „Wir stehen da, Sie steigen ein und fertig ist die Laube.“

Der Fuß vom Monte Scherbelino

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