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ZWEITES KAPITEL
DAS SOWJETISCHE SUPERGETREIDE Nikolai Iwanowitsch Wawilow, der die Russen satt machen wollte und den Hungertod starb
ОглавлениеNIKOLAI IWANOWITSCH WAWILOW kommt am 25. November 1887 als Sohn einer reichen Moskauer Kaufmannsfamilie zur Welt. Seinen Vater Iwan, ein bettelarmes Bauernkind, hatte man dank seiner wundervollen Stimme im Alter von zehn Jahren aus einem gottverlassenen Dorf in den endlosen Weiten Russlands nach Moskau geschickt, um in einem Kirchenchor zu singen. Damit begannen Aufstieg und Glück der Familie Wawilow. Obwohl Iwan Wawilow über keinerlei Bildung verfügt, macht ihn sein guter Geschäftssinn schon bald zum wohlhabenden Miteigentümer und Leiter einer der größten Textilfabriken des Landes. Seine beiden Söhne, die nach dem Wunsch des Vaters eigentlich in die Firma einsteigen sollen, werden berühmte Wissenschaftler. Nikolai, der Ältere, wird zu einem der Gründerväter der Pflanzengenetik und Sergei ein renommierter Physiker, der jahrzehntelang Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und Mitentdecker des Wawilow-Tscherenkow-Effekts ist, für den Tscherenkow 1958, sieben Jahre nach Sergei Wawilows Tod, den Nobelpreis für Physik erhalten sollte.
Nikolai Wawilows wissenschaftliche Laufbahn beginnt 1906: Mit einem Handelsschulabschluss in der Tasche schreibt er sich am Landwirtschaftlichen Institut in Moskau ein, einer der renommiertesten Hochschulen des Landes. Von Anfang an zeichnet er sich durch ein gewaltiges Arbeitspensum und außerordentliche Fähigkeiten aus: 1908 nimmt er an einer Forschungsreise in den Kaukasus teil, 1909 schreibt er eine Abhandlung über Darwins Abstammungslehre, und 1910 beschäftigt er sich in seiner Abschlussarbeit mit der Frage, wie man Nutzpflanzen vor Krankheitskeimen schützen kann. Und schon 1912 legt Wawilow seine bahnbrechende Forschungsarbeit Genetik und Agrarwissenschaften vor, in der er detailliert das Arbeitsprogramm entwickelt, an dem er sein Leben lang unbeirrt festhalten wird: nämlich mithilfe der Genetik die Eigenschaften von Nutzpflanzen zu verbessern. In den Jahren 1913 und 1914 rundet er sein Hochschulstudium schließlich durch Auslandsreisen ab, die ihn zu den angesehensten europäischen Forschungslaboren führen: nach Cambridge in Großbritannien, wo William Bateson sein Labor hat, nach Paris in das Institut Pasteur und nach Deutschland.
Besonders der Besuch bei Bateson, dem wir das Wort »Genetik« verdanken und der einer der Gründerväter der gerade aufkommenden Wissenschaft ist, beeindruckt Nikolai Wawilow nachhaltig und bestärkt ihn in der Überzeugung, dass man Nutzpflanzen mithilfe der Vererbungslehre wesentlich wirksamer verbessern könne als durch herkömmliche Zuchtmethoden. Der Agrarwissenschaftler Nikolai Wawilow ist der Erste, der die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Genetik erkennt und das revolutionäre Potenzial, das sie für die Landwirtschaft bereithält.
Seine Lebensaufgabe sieht Wawilow ab nun darin, neue genetische Nutzpflanzenvarianten mit außergewöhnlichen Eigenschaften zu entwickeln. Dabei geht es um mehr als bloße Leidenschaft: Er ist überzeugt davon, dass das Schicksal der UdSSR von Superpflanzen abhängt, die er hoffentlich entwickeln wird. Die russische Revolution hat die Landwirtschaft ins Chaos gestürzt. Die neue Sowjetunion, einst die Kornkammer Europas, kann sich nicht einmal mehr selbst ernähren.
Wawilows Plan ist ebenso einfach wie genial: Er will die besten Eigenschaften aller weltweiten Varianten der bedeutsamen Kulturpflanzen in einer Reihe von Superpflanzen vereinigen, die das Land ernähren werden. Er ist überzeugt, dass sich die besten Pflanzenmerkmale quasi wie in der Werkshalle zu Supervarianten montieren lassen: zu Obstbäumen, die gegen jeden Erreger resistent sind, oder zu Supergetreidesorten, die die Erträge von Flachlandvarianten mit der Frostbeständigkeit von Bergvarianten verbinden. Er steht somit vor einer Herkulesaufgabe, die viel Zeit und Geld erfordert. Denn die Arten mit den gewünschten positiven Eigenschaften sind vor Ort natürlich nicht alle verfügbar. Es sind also umfangreiche Forschungsreisen erforderlich, mit dem alleinigen Ziel, Pflanzenexemplare zu sammeln und ihre Samen in Russland zu konservieren.
Nikolai Wawilow auf einer seiner Forschungsreisen im Iran, wo er nach Getreidesamen suchte
Russische Bäuerinnen einer Kolchose marschieren in Richtung Arbeitsplatz. Sie ersetzen die Männer, die als sowjetische Soldaten gegen Weißrussland kämpfen.
Als man Wawilow 1916 in den Iran schickt, um herauszufinden, warum dort so viele russische Soldaten mit Vergiftungserscheinungen sterben, erkennt er schnell, dass das Getreide, das man dort zum Brotbacken verwendet, von Fusarium, einem Schimmelpilz, befallen ist. Und er nutzt die günstige Gelegenheit, um die Pflanzen zu erforschen, die man im Iran und in den Bergen von Turkmenistan und Tadschikistan anbaut. Bei seiner Rückkehr nach Russland hat er Zigtausende Pflanzenexemplare im Gepäck: die Grundlage seiner außerordentlichen Sammlung.
In den 1920er-Jahren bis Anfang der 30er-Jahre leitet Wawilow schließlich ein Expeditionsprogramm, um weltweit Nutzpflanzen zu erforschen. Er organisiert – und führt häufig selbst hoch zu Ross – hundertfünfzehn Expeditionen in vierundsechzig Länder, unter anderem in den Iran, nach Afghanistan, Taiwan, Korea, Spanien, Algerien, Palästina, Eritrea, Argentinien, Bolivien, Peru, Brasilien, Mexiko oder Kalifornien, Florida und Arizona in den Vereinigten Staaten. Bei seiner Pflanzensuche konzentriert er sich auf »Gegenden, in denen von alters her Landwirtschaft betrieben wird und eine autochthone Kultur entstanden ist«.
Auf der Grundlage der Erfahrungen, die er auf seinen zahlreichen Expeditionen gesammelt hat, kann Wawilow schließlich in seinem Werk Ursprung, Variation, Immunität und Kreuzung von Nutzpflanzen seine Theorie von den Ursprungszentren der Nutzpflanzen darlegen, die er 1926 weiter präzisiert: Das Ursprungszentrum einer Art ist die Region mit der größten Diversität. Diese Zentren liegen nach Wawilow in eng umgrenzten geografischen Regionen der Welt, vor allem in den Bergländern Asiens und Afrikas, entlang der Mittelmeerküste sowie in Mittel- und Südamerika. Wawilow entdeckt, dass ungefähr ein Drittel aller weltweiten Nutzpflanzenarten ursprünglich aus Südostasien stammt, die wichtigsten fruchttragenden Pflanzen in Asien und dem Mittelmeerraum beheimatet sind und Wurzel-, Knollenpflanzen und tropische Früchte vorwiegend aus Mittelamerika und den Anden kommen.
Die Ausbeute seiner Expeditionsreisen baut Wawilow zu einer riesigen Sammlung auf: Er lagert über fünfzigtausend Wildpflanzenarten und einunddreißigtausend Getreidesorten in einem gewaltigen unterirdischen Bunker seines Instituts in Sankt Petersburg. Und von jeder gesammelten Pflanze bewahrt er die Samen auf. Er weiß, dass das Samenkorn eine widerstandsfähige Überlebenskapsel ist, die nicht nur den Embryo der Pflanze, sondern auch dessen Nahrung enthält. Um das genetische Erbe zu bewahren, gibt es nichts Besseres als das Samenkorn.
Auch hier erweist sich Wawilow als Pionier. Er begreift, dass man mit einem Samenkorn das bewahren kann, was wir heute Biodiversität nennen, und baut als Erster eine riesige Samengutbank auf – die bis heute funktionstüchtig ist. Sein Beispiel findet in den folgenden Jahren zahlreiche Nachahmer: Überall auf der Welt entstehen Keimplasmabanken. Doch für Wawilow ist die Sammlung in Sankt Petersburg – damals Leningrad – nur der erste Schritt seines komplexen, aufwendigen Projekts, eine Generation von Superkulturen hervorzubringen.
Lenin ist von Wawilows Zukunftsvision der sowjetischen Landwirtschaft überzeugt und ernennt ihn zum Leiter der wichtigsten agrarwissenschaftlichen Institute des Landes. Schon bald hat Wawilow bedeutende Ämter inne: Präsident der Geografischen Gesellschaft der Sowjetunion, Leiter des Sowjetischen Instituts für Genetik, Leiter des Allumons-Instituts für Pflanzenzüchtung und schließlich das prestigeträchtigste Amt: Präsident des Lenininstituts für Agrarwissenschaften. Auf Wawilows Schultern ruht nun eine immense Verantwortung, und als Wissenschaftler verfügt er endlich über optimale Möglichkeiten, um sein ehrgeiziges Programm der genetischen Züchtung in die Praxis umzusetzen.
Die Züchtung neuer Pflanzensorten mit vorteilhaften Merkmalen hat bis dahin buchstäblich Jahrzehnte gedauert, wenn nicht gar Jahrhunderte. Und Wawilow ist klar, dass die Kenntnis der Vererbungsgesetze zwar eine wesentlich schnellere Arbeitsweise ermöglicht, sein Vorhaben aber selbst bei optimistischer Schätzung noch immer langwierig bleibt. Die Zeitfrage ist für Wawilow der entscheidende Punkt. Das sowjetische Volk stirbt vor Hunger; es ist Eile geboten.
Man arbeitet in rasender Geschwindigkeit: Expeditionen, Erforschung der Merkmale der mitgebrachten Pflanzen – in der ganzen Sowjetunion entsteht ein Netzwerk aus Versuchsstationen, an denen die Leistungsfähigkeit der neuen Sorten erprobt wird. Und zwar in nur wenigen Jahren. Wie Wawilows Mitarbeiter berichten, lautet ein Lieblingssatz von Wawilow: »Das Leben ist kurz, man muss sich beeilen.« Und da weiß er noch nicht, wie recht er behalten sollte.
Propaganda des Sowjetregimes: »Kommt zu uns in die Kolchose!«
Plakat, das zum Kampf gegen Nahrungsmittelspekulanten aufruft
Seit 1929 ächzt die Sowjetunion unter Josef Stalins Knute. Dem neuen russischen Führer mangelt es an jeglicher wissenschaftlichen Kenntnis; für Wawilow hegt er keinerlei Sympathien. Unter dem Einfluss seines Hof-Pseudowissenschaftlers Trofim Lyssenko ist Stalin der Meinung, die Ernteerträge ließen sich ausschließlich durch neue Techniken steigern. Er will nicht auf Wawilows Ergebnisse warten. Man hat ihm eingeflüstert, es gäbe keine Gene, was zähle, sei allein das Umfeld einer Pflanze. Diese Vorstellung passt erheblich besser in die marxistische Ideologie, für die die Abstammung bedeutungslos ist.
Schon bald wird die Genetik zu einer Erfindung der »westlichen bürgerlichen Propaganda« erklärt. Bedeutende sowjetische Genetiker verschwinden plötzlich von der Bildfläche.
In jenen Jahren zwingen mehrere katastrophale Ernten die Sowjetunion in die Knie. Stalin braucht einen Sündenbock. Wawilow, ein ungeliebter Konkurrent mit beneidenswerten wissenschaftlichen Erfolgen, wird von Lyssenko und seinen Mitarbeitern mehrfach denunziert. Bei einem Empfang im Kreml im März 1939 äußert Lyssenko gegenüber Stalin und Beria, dass seine eigene Arbeit zum Nutzen der sozialistischen Wirtschaft durch Wawilow behindert werde, und fordert entsprechende Konsequenzen. Damit ist Wawilows Schicksal besiegelt. Am 10. August 1940 wird er von Stalins Geheimpolizei NKWD in den Bergen der Ukraine, wo er gerade nach neuen Pflanzen sucht, verhaftet. Dasselbe Schicksal ereilt in den darauffolgenden Tagen seine engsten Mitarbeiter, die Wissenschaftler Karapatschenko, Lewitzki, Goworow und Kowalew.
Nach elf Monaten Untersuchungshaft und 1700 Stunden brutaler Verhörmethoden – mit mehr als 400 Verhören von teils über 13 Stunden – wird Wawilow im Juli 1941 vor dem Militärkolleg des Obersten Gerichtshofs angeklagt. Der Prozess dauert nur wenige Minuten und endet mit der Höchststrafe, dem Todesurteil, da Wawilow sich der »Beteiligung an einer rechten Verschwörung, der Spionage zugunsten Großbritanniens, der Sabotage der Landwirtschaft und der Beziehung zu weißrussischen Emigranten« schuldig gemacht habe. Die Todesstrafe wird später in zwanzig Jahre Haft umgewandelt, doch die Haftbedingungen im Gefängnis von Saratow sind unmenschlich: Ein Jahr lang darf Wawilow seine winzige Zelle ohne Waschgelegenheit nicht verlassen. Es gibt keine Toilette, er ist unterernährt.
Während Wawilow im Gefängnis um sein Leben kämpft, gerät auch sein wichtigstes Werk, die Samengutbank, in höchste Gefahr. Nach Hitlers Überfall auf Russland – dem sogenannten »Unternehmen Barbarossa« – wird Leningrad 1941 eingekesselt. Die riesige Sammlung wird zur begehrten Beute: für nationalsozialistische Vererbungsforscher wie Heinz Brücher, aber auch für die hungernde russische Bevölkerung. Noch ehe Hitlers Truppen die Stadt erreichen, ordnet Stalin die Auslagerung der Kunstsammlung aus der Ermitage und dem Winterpalast und von allem an, was er sonst in Leningrad für wertvoll hält. Die Samengutbank von Wawilow gehört nicht dazu. Sie gilt als Liebhaberei der »bürgerlichen Wissenschaften«.
Stalin mag den Wert der Samen nicht begreifen, die Deutschen kennen ihn aber sehr wohl. Die Frage der Lebensmittelautarkie beschäftigt Nazideutschland auf obsessive Weise, Wawilows Sammlung wäre eine wichtige Kriegsbeute. Die Eroberung der russischen Forschungszentren wurde schon vor Hitlers Russlandfeldzug von Wissenschaftlern des Kaiser-Wilhelm-Instituts, dem Vorläufer des jetzigen Max-Planck-Instituts, minutiös geplant. Die Botaniker folgen den vorrückenden Soldaten auf dem Fuße, und Anfang 1943 plündern deutsche Wissenschaftler ungefähr zweihundert Versuchsstationen in Russland und der Ukraine und bringen die Sammlungen nach Deutschland. Doch Wawilows Hauptsammlung sollte ihnen nicht in die Hände fallen. Dank des Heldenmuts von Wawilows wissenschaftlichen Mitarbeitern ist sie während der neunhundert Tage dauernden Belagerung Leningrads hinter den Institutsmauern sicher verwahrt.
Das Institut beherbergte damals Samen von ungefähr zweihunderttausend Pflanzensorten, viele davon für Menschen genießbar. Doch niemand rührte die Samen an. Die neun verbliebenen Forscher des Wawilow-Instituts – wie es nach der Rehabilitierung seines Gründers 1956 erneut hieß – verhungerten lieber, als von den kostbaren Samen zu essen, die man ihnen anvertraut hatte. Mithilfe der Samen, davon waren sie felsenfest überzeugt, könnte man, wenn dem zerstörerischen Wüten Hitlers erst einmal ein Ende gesetzt wäre, neue Pflanzen züchten und den Hunger endgültig besiegen.
Und niemand kann heimlich schummeln. Die Kontrollen sind streng: Kein Mitarbeiter darf sich allein in den Räumen der Sammlung aufhalten, die Schlüssel sind im Tresor eines Institutsleiters verwahrt, und der Inhalt der Samenbehälter wird wöchentlich kontrolliert. Aber wie die beiden einzigen Überlebenden, dank derer wir von dieser Heldentat wissen, erzählt haben, hätte sowieso keiner auch nur im Traum daran gedacht, sich an den Samen zu vergreifen.
Als Erstes stirbt im Januar 1942 der Erdnussexperte Alexander Schukin, an seinem Schreibtisch. Es folgen der Pflanzenmediziner Georgi Krijer, der Chef der Reissammlung Dimitri Iwanow und später Lilija Rodina, M. Steheglow, G. Kowaleski, N. Leontjewski, A. Malygina und A. Korzum. Als Leningrad am 18. Januar 1944 endlich befreit wird, liegt der Großteil der Sammlung längst an einem sicheren Ort im Uralgebirge, der nur nach einem langen, beschwerlichen Fußmarsch entlang eines freien Korridors über den zugefrorenen Ladogasee zu erreichen ist, über die »Straße des Lebens«.
Die Samen werden gerettet, nicht jedoch Wawilow. Der Mann, der die Sowjetunion mit aller Kraft und Leidenschaft vor dem Hunger bewahren wollte, stirbt nach langen, quälenden Monaten am 26. Januar 1943 im Stalin-Gefängnis von Saratow den Hungertod und wird in einem Massengrab verscharrt.
Und mit ihm stirbt die großartige Schule der russischen Genetik.