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1. Ein Brief aus Paris

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Im Sommer des Jahres 1894 stöhnte ganz England unter einer der heftigsten Hitzewellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die unerträglichen Temperaturen verwandelten die größeren Städte langsam in glühende Backöfen und lähmten die sonst so rege Geschäftigkeit ihrer Bewohner. Wer konnte, packte die Koffer, fuhr zu Freunden und Verwandten aufs Land oder an die Küste. Die Seebäder von Bournemouth, Brighton und Weymouth wimmelten von Ausflüglern und Kurgästen, die in den kühlen Fluten des Kanals Zuflucht suchten. Viele küstennahe Pensionen und Hotels waren restlos ausgebucht. Aufmerksame Leser der Times und des Daily Telegraph bemerkten in jenen Tagen die ungewöhnlich hohe Anzahl von Anzeigen, in denen nach allerlei Aushilfen für die Schankstuben, Cafés und Biergärten an den Stränden zwischen Christchurch und Lyme Regis gesucht wurde.

Ich arbeitete zu dieser Zeit für eine kleine Anwaltskanzlei in London. Vor nicht ganz zwei Jahren hatte ich mein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Exeter erfolgreich beendet und anschließend meine langjährige Verlobte Sophie geheiratet. Dem Rat meines Vaters folgend, waren wir kurz darauf nach London gezogen, wo ich, nach unzähligen Absagen, schließlich eine Anstellung bei der angesehenen Kanzlei Handson & Penncroft gefunden hatte.

Die Räumlichkeiten meines Arbeitgebers, dessen wohlklingender Firmenname nicht vermuten ließ, dass Mr Handson, ein begüterter Fabrikantensohn aus Manchester, nur stiller Teilhaber und sporadischer Geldgeber war, belegten die oberen zwei Stockwerke eines grauen Bürogebäudes am westlichen Ende der Fleet Street. Die günstige Lage in unmittelbarer Nähe zu den bedeutendsten Blättern der englischen Presse und Penncrofts ausgezeichnete Kontakte zur Londoner Finanzwelt versorgten das kleine Unternehmen mit einem stetigen Strom zahlungskräftiger Mandanten. Ich konnte mich über mangelnde Arbeit wahrlich nicht beklagen.

An jenem Tage, an dem die schicksalhafte Verkettung von Ereignissen begann, die mich meiner naiven Weltsicht berauben sollte, schrieb ich gerade an einigen Bemerkungen zu einem meiner letzten Fälle. Feine Sonnenstrahlen fielen durch die schweren, halb zugezogenen Vorhänge meines Arbeitszimmers und zeichneten leuchtende, geometrische Muster auf den Teppich vor meinem Schreibtisch. Die Geräusche klappernder Hufe und rasselnder Fuhrwerke drangen von der Straße herauf. Schon seit dem frühen Vormittag kämpfte ich mit einer quälenden Müdigkeit, die zweifellos eine Folge der ungewöhnlich hohen Temperaturen und meines damit verbundenen unruhigen Nachtschlafes war.

Resigniert legte ich den Bleistift aus der Hand und starrte auf das halb beschriebene Blatt Papier, das vor mir auf dem Tisch lag und die jämmerliche Ausbeute von knapp zwei Stunden Arbeit darstellte. Seit mehreren Tagen brütete ich nun schon über ein und demselben Absatz, ohne dabei nennenswert vorangekommen zu sein. Die gottlose Hitze raubte mir den letzten Funken Konzentration und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass auch diese Fassung am Ende des Tages wieder in den Papierkorb wandern würde. Frustriert stand ich auf und trat zum Fenster. Unter mir pulsierte das urbane Leben. Droschken und Omnibusse wetteiferten mit waghalsigen Radfahrern um den begrenzten Platz auf der Straße und die Bürgersteige wimmelten von gut gekleideten Passanten, dahineilenden Botenjungen und bepackten Dienstmädchen. Hier und dort ragten schreiende Zeitungsverkäufer aus der Menge hervor, von den dahin strömenden Menschenmassen umspült wie Steine in einem Flussbett. Darüber, jenseits des hektischen Treibens, hing flimmernd und schwer der schmutzig gelbe Dunst des industriellen Londons und ließ in der Ferne die Konturen der St. Paul’s Cathedral verschwimmen.

Mühsam unterdrückte ich ein Gähnen. Die Erschöpfung steckte mir in den Knochen. In der letzten Nacht hatte ich nur wenige Stunden geschlafen, ebenso wie in den Nächten zuvor. Ich dachte an die Berge von Akten, die sich auf meinem Schreibtisch türmten und durch die ich mich noch für meinen Abschlussbericht zu kämpfen hatte.

Ich blickte zur Kaminuhr. Die Zeiger schienen an diesem Vormittag besonders träge über das Zifferblatt zu kriechen. Bis zum Lunch blieben noch fast zwei Stunden. Ich wusste, wenn ich nicht bald einen klaren Kopf bekäme, würde mich mein an Apathie grenzender Zustand bis zum Ende der Woche unweigerlich unter Bergen von unerledigtem Papierkram begraben haben. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. In der Frühe hatte Mrs Chadwick, Penncrofts Sekretärin, wie üblich eine große Kanne Schwarztee gebrüht. Ich hoffte, drei bis vier Tassen würden ausreichen, meinen trägen Geist soweit zu beleben, dass ich wenigstens den Abschlussbericht zum Bradshaw-Fall beenden konnte.

Ich verließ mein Büro und machte mich auf den Weg in die Küche, wo ich hoffte, mit etwas Glück auch noch einige genießbare Sandwiches vom Morgen vorzufinden. Als ich kurze Zeit später kauend mit einer Tasse Tee und einem Teller Käsesandwiches in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, hatte Mrs Chadwick bereits mit der täglichen Postverteilung begonnen und meinen mit Akten und Schriftstücken übersäten Schreibtisch um einen weiteren ansehnlichen Stoß bereichert. Vorsichtig schob ich den vordersten Dokumentenstapel beiseite, stellte das Tablett mit dem Essen ab und ließ mich in den Sessel fallen. Vor mir lag die ungeöffnete Post des Tages.

Erfreut über diese willkommene Abwechslung, verschlang ich hastig meine Mahlzeit, spülte den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluck Tee hinunter und machte mich frohen Mutes daran, die frisch eingetroffenen Papiere durchzusehen. Beim ersten Dutzend Briefe handelte es sich zunächst nur um herkömmliche Kanzleikorrespondenz, die sich auf eine Reihe laufender oder abgeschlossener Verfahren bezog. Zwei weitere Kuverts enthielten ermüdende Reklameschreiben für Büromöbel und Schreibmaschinen, die zwar normalerweise von der peniblen Mrs Chadwick aussortiert wurden, aber ihr diesmal offenbar entgangen zu sein schienen. Der Gedanke, nicht der Einzige in der Kanzlei zu sein, dem die Hitze zu schaffen machte, beruhigte mich irgendwie. Neugierig öffnete ich weitere Umschläge. Seitenweise ergossen sich Urkunden, Gutachten und Mandantenschreiben in das Chaos auf meinem Schreibtisch. Frustriert wollte ich schon den Rest der ungeöffneten Post in einer Schublade verschwinden lassen, als mein Blick auf einen fleckigen, braunen Umschlag fiel. Zunächst war mir nicht ganz klar, warum er mir, abgesehen von seinem bemitleidenswerten Äußeren, so ins Auge stach, bis ich bemerkte, dass er einen französischen Poststempel trug. Interessiert betrachtete ich ihn von allen Seiten. Seltsamerweise war er nicht, wie sonst üblich, an die Kanzlei adressiert, sondern an mich persönlich. Einen Absender konnte ich nicht entdecken. Mein Name und die Anschrift waren mit schwarzer Tinte in schwungvollen Buchstaben auf die Vorderseite geschrieben worden. Die ganze Angelegenheit wurde noch rätselhafter, als ich feststellte, dass mir die Handschrift irgendwie vertraut vorkam. Ich fragte mich, warum man mir ein anonymes Schreiben zukommen lassen sollte. Handson & Penncroft vertraten oft die Interessen bekannter Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, jener Klientel also, die eine gewisse Verschwiegenheit bei ihren Geschäftspartnern durchaus zu schätzen wusste. Vielleicht, so vermutete ich zunächst, ersuchte jemand aus diesem Umfeld in einer delikaten Angelegenheit um Rechtsbeistand und wollte es zunächst vermeiden, namentlich in Erscheinung zu treten. In diesem Falle hätte ich allerdings erwartet, dieser Jemand würde sich mit seinem Anliegen eher an ein juristisches Schwergewicht wie Penncroft wenden, anstatt Rat bei einem jungen, unerfahrenen Anwalt wie mir zu suchen. Oder aber, so grübelte ich weiter, es handelte sich dabei um eines jener unflätigen Schreiben, welche häufig von enttäuschten Mandanten verfasst wurden, deren Fall zu ihren Ungunsten entschieden worden war und die nun die Schuld dafür bei ihrem Anwalt suchten. Allerdings hatte unsere Kanzlei in den vergangenen zwei Jahren keinen einzigen Prozess verloren und die Wahrscheinlichkeit, dass nach so langer Zeit noch ein derartiges Schreiben auf meinen Schreibtisch flatterte, war verschwindend gering. Wie auch immer, ich hielt des Rätsels Lösung in meiner Hand. Ohne weiter Zeit zu verlieren, machte ich mich daran, den mysteriösen Umschlag zu öffnen. Zum Vorschein kamen ein Dutzend eng beschriebener Seiten, die mit Hilfe eines Seidenbandes zu einem Päckchen verschnürt waren. Hastig suchte ich in den Taschen meiner Weste nach dem kleinen Klappmesser, das ich stets bei mir trug, zerschnitt damit den Knoten und entfaltete ungeduldig das leicht zerknitterte Papier.

Schon ein flüchtiger Blick auf die ersten Zeilen genügte, um mich in helle Aufregung zu versetzen. Nein, das war weder das Bittschreiben eines verzweifelten Gentlemans noch die taktlose Beschwerde eines enttäuschten Mandanten. Dieser Brief stammte von Nicholas! Ich musste schmunzeln. Nicholas Isaac Halford, leidenschaftlicher Kricketspieler, zweitbester Absolvent des Jahrganges 1892, juristische Fakultät der Universität von Exeter, und darüber hinaus einer meiner engsten Freunde, gab auf seine typisch unkonventionelle Art endlich wieder ein Lebenszeichen von sich.

Nicholas und ich kannten uns bereits seit der Schulzeit. Wir hatten damals die West Buckland School in Barnstaple besucht, wo wir uns von Zeit zu Zeit über den Weg gelaufen waren und einige flüchtige Worte miteinander gewechselt hatten. Später waren wir uns auf dem Campus der Exeter Universität wieder begegnet und hatten mit Belustigung festgestellt, dass wir für denselben Studiengang eingeschrieben waren. In den folgenden Monaten hatten wir immer mehr Zeit miteinander verbracht. Wir hatten auf dem Kricketplatz konkurriert und beim Kartenspiel, des Weiteren versucht, uns gegenseitig bei den Prüfungen zu übertreffen, und gemeinsam, vertieft in nächtelangen Diskussionen, die ein oder andere Flasche Portwein geleert. Hin und wieder waren wir sogar Urheber einiger ganz respektabler Streiche gewesen, die wir unseren Professoren gespielt hatten und die uns, wären wir erwischt worden, in nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten gebracht hätten. Es war eine wilde, aufregende Zeit gewesen. Kurz nach dem Studium hatten wir uns allerdings aus den Augen verloren. Zum letzten Mal hatte ich Nicholas bei meiner Hochzeit mit Sophie gesehen, wo er es sich nicht hatte nehmen lassen, mein Trauzeuge zu sein. In der folgenden Zeit hatten dann verschiedenste Umstände ein erneutes Wiedersehen verhindert. Nicholas musste seinen Vater häufig auf Geschäftsreisen durch England begleiten und ich war vollauf damit beschäftigt, mir in London eine feste Anstellung zu verschaffen. Einige Monate später, Sophie und ich hatten uns mittlerweile einigermaßen in London eingelebt, schrieb ich Nicholas, um ihn in unsere neue Wohnung nach Holborn einzuladen. Aber wie ich von seiner Mutter erfahren musste, hatte er sich bereits mit seinem Vater auf eine längere Reise quer durch Europa begeben. Zunächst enttäuschte mich die Tatsache, dass Nicholas es anscheinend nicht für nötig befunden hatte, mich davon in Kenntnis zu setzen, aber schon wenige Tage später stimmte mich ein Brief, den er mir aus Paris sandte, wieder versöhnlich. In der folgenden Zeit schrieb er dann regelmäßig. Nahezu wöchentlich erreichten uns farbenfrohe Reiseberichte aus fernen Städten wie Rom, Madrid, München oder Athen, deren vergnügliches Studium oftmals die einzige Abwechslung war, die Sophie und ich uns während der ersten Zeit in London leisten konnten. Später wurden seine Briefe immer spärlicher. In seinem letzten Brief kündigte er an, er wolle mit seinem Vater einige ausgedehnte Exkursionen in die Dolomiten unternehmen und sei dadurch nicht länger in der Lage, weiterhin regelmäßig zu schreiben. Er versicherte mir aber, alles Aufregende und Ungewöhnliche, das ihm auf seinen Reisen widerfahren würde, zu notieren und mir später zukommen zu lassen. Anscheinend war dies nun endlich der Fall. In freudiger Erwartung nahm ich noch einen Schluck Tee, lehnte mich entspannt zurück und begann zu lesen.

Paris, 16. Juli 1894

Mein lieber Alan,

bitte verzeihe mir, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe, aber die letzten Monate waren für mich eine ungewöhnlich turbulente und atemberaubende Zeit voller neuartiger Eindrücke und abenteuerlicher Erlebnisse. Unsere ausgedehnten Wanderungen durch die unberührte Natur, fernab von den als so selbstverständlich erachteten Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens, erwiesen sich als ausgesprochene Wohltat für meinen vom grauen Geschäftsalltag vernebelten Geist. Die frische Luft der Wälder, das leise Rauschen der Bergflüsse und vor allem unser tägliches Pensum an körperlicher Betätigung sorgten oftmals dafür, dass wir am Abend, nach einer kurzen Mahlzeit, frühzeitig unter unsere warmen Wolldecken krochen und schnell in einen tiefen, erholsamen Schlaf fielen. Wie Du Dir sicher vorstellen kannst, ist es mir unter diesen Bedingungen selten gelungen, etwas zu Papier zu bringen, das ich Dir hätte schicken können. Wenn ich dann doch einmal die Zeit fand, einige Zeilen an Dich zu verfassen, war ich gezwungen, diese so lange mit mir herumzutragen, bis wir wieder in Gegenden kamen, die ein halbwegs vertrauenswürdiges Postamt vorweisen konnten. Vertrauenswürdig deshalb, weil Du Dir einfach keine Vorstellung davon machen kannst, wie stiefmütterlich die Briefbeförderung in vielen Teilen Europas gehandhabt wird. Ich für meinen Teil habe mir seitdem hoch und heilig geschworen, nie wieder ein böses Wort über unser zuverlässiges, britisches Postwesen zu verlieren, geschweige denn unseren armen Briefträger Mr Bartlett noch einmal mit Vaters Hunden zu ärgern, wobei ich, ehrlich gesagt, über den letzten Punkt noch einmal nachdenken werde. Zumindest wirst Du jetzt nachvollziehen können, warum ich irgendwann damit begonnen habe, meine Briefe an Dich zu nummerieren. Ich bin weiß Gott gespannt darauf, zu erfahren, wie viele von ihnen – bei Nummer 13 rechne ich übrigens mit Totalverlust – letztendlich London erreicht haben.

Aber genug der Ausflüchte. All diese Umstände rechtfertigen natürlich nicht im Geringsten mein beharrliches Schweigen während der letzten Monate und ich erwarte deshalb nicht von Dir, dass Du Dich, nach so langer Zeit, von mir mit diesen hastig zusammengeschriebenen Zeilen abspeisen lässt. Aber bitte glaube mir, Alan, mittlerweile bin ich mir meiner Nachlässigkeit unserer Freundschaft gegenüber durchaus bewusst. Schon seit meiner Ankunft hier in Paris zerbreche ich mir ununterbrochen den Kopf über eine adäquate Wiedergutmachung. Wie ich von Mutter erfahren habe, hattet ihr, Sophie und Du, bisher keine Gelegenheit, Eure Hochzeitsreise anzutreten. Nun, ich kann Euch zwar keine Weltreise bieten, aber zumindest sollte es mir gelingen, Euch für ein paar Tage vom Londoner Großstadtmief zu erlösen, indem ich Euch einlade, einige Zeit im Ferienhaus meiner Eltern zu verbringen. Ich glaube mich zu erinnern, Dir schon einmal von dem Haus erzählt zu haben. Es liegt in der Grafschaft Cumberland, zirka fünf bis sechs Meilen südwestlich von Penrith. Mein Vater nutzte es in den letzten Jahren vorwiegend als Unterkunft bei seinen Angelausflügen zum Ullswater. Ich werde natürlich dafür sorgen, dass Euch bei Eurer Ankunft ein Einspänner, Fahrräder und eine reichlich gefüllte Speisekammer zur Verfügung stehen. Darüber hinaus hat Vater sicher nichts dagegen, wenn Du seine Angelausrüstung benutzt.

Was mich betrifft, so werde ich es mir als Gastgeber natürlich nicht nehmen lassen, Euch einige Tage dort oben in Cumberland Gesellschaft zu leisten, bevor mich meine Pflichten wieder nach London zurückrufen. Nach meiner Abreise werdet Ihr dann das ganze Haus für Euch allein haben, was sicher sehr reizvoll sein dürfte. Ich kann jetzt nur noch hoffen, dieses Angebot erreicht Dich nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn, wie Du mir sicherlich zustimmen wirst, wäre es sehr bedauerlich, wenn wir uns diese einmalige Gelegenheit auf ein baldiges Wiedersehen entgehen ließen. Sollten sich keine weiteren Verzögerungen ergeben, werde ich voraussichtlich zu dem Zeitpunkt, an dem Dich dieser Brief erreicht, wieder englischen Boden unter den Füßen haben. Meine Pläne sehen vor, bei meinen Eltern in Exceter ein bis zwei Tage zu verschnaufen und dann weiter Richtung Penrith zu reisen. Du solltest mich dann dort ab dem Dreiundzwanzigsten telegrafisch erreichen können. Die genaue Adresse habe ich Dir weiter unten notiert. Teile mir bitte so schnell wie möglich Deine Entscheidung mit, damit ich im Falle einer positiven Zusage alles Weitere arrangieren kann! Um Dir die Zeit bis zu unserem Wiedersehen zu verkürzen, habe ich Dir eine kurze Zusammenfassung der interessantesten Ereignisse meiner letzten Reiseetappe beigelegt. Vieles von dem, was Du dort lesen wirst, wurde von mir allerdings erst im Nachhinein mit Hilfe meiner Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben. Vergib mir also bitte die kleinen Ungenauigkeiten, die sich eventuell hier und dort eingeschlichen haben. Aber mit etwas Glück werde ich Sophie und Dir bald alles persönlich erzählen können. In der Hoffnung, Euch demnächst gesund und munter in die Arme schließen zu können, verbleibe ich mit herzlichen Grüßen und wünsche Euch noch eine nicht allzu hektische Zeit in London.

Dein treu ergebener Freund Nicholas

Wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und riss dabei beinahe das Tablett mit dem Tee vom Tisch. Aufgeregt begann ich im Zimmer auf und ab zu laufen. Meine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Nicholas hatte sich mit diesem Einfall wieder einmal selbst übertroffen. Nicht nur, dass mich die Aussicht, die nächste Zeit inmitten der grünen Wiesen und schattigen Wälder von Cumberland verbringen zu können, wahrhaft euphorisch stimmte, nein, auch der Zeitpunkt seiner Einladung kam für mich in Anbetracht meiner angegriffenen Psyche in einem denkbar günstigen Augenblick. Immer wieder überflog ich seine Zeilen, als fürchtete ich, mein übermüdeter Verstand könnte mir einen Streich gespielt haben. Ich konnte es kaum erwarten, Sophie von dieser freudigen Angelegenheit zu berichten. Ich sah sie bereits vor mir, wie ihre Augen bei der Erwähnung von Cumberland anfangen würden zu strahlen, und sie dies wieder zum Anlass nähme, Geschichten von ihrem Onkel William aus Keswick zu erzählen, der sie als kleines Mädchen oft in seinem Ruderboot hinaus zum Angeln auf den Derwent Water mitgenommen hatte. Aber zunächst einmal musste ich mich vergewissern, dass sich unseren Reiseplänen keine unvorhergesehenen Hindernisse in den Weg stellten. Ich wusste, Penncroft plante die Kanzlei gegen Ende der Woche für einige Zeit zu verlassen, um seinem Bruder an der Küste einen Besuch abzustatten. Da sich die meisten unserer Klienten während der heißen Sommermonate selten in London aufhielten, hatte seine Abwesenheit während dieser Zeit zwar keinen negativen Einfluss auf den Kanzleibetrieb, setzte mich aber unter nicht unerheblichen Zeitdruck. Aus Erfahrung wusste ich nämlich, dass sich Penncrofts Stellvertreter Mr Akhurst selten dazu hinreißen ließ, kurzfristige Urlaubsanträge zu bewilligen. So war ich wohl oder übel gezwungen, innerhalb der nächsten drei Tage bei Penncroft vorzusprechen, wenn mein Anliegen nicht auf Akhursts taube Ohren stoßen sollte. Schon allein dieser Gedanke löste ein gewisses Unbehagen bei mir aus, das sich umso mehr verstärkte, je länger mein Blick über die hoch aufragenden Papierberge meines Schreibtisches wanderte. Ich machte mir keinerlei Hoffnungen, von Penncroft auch nur angehört zu werden, solange ich ihm nicht ein beträchtliches Pensum erledigter Aufgaben präsentieren konnte. Aber vielleicht war dies genau die Motivation, die ich brauchte. Ich würde an den folgenden Tagen einfach früher in die Kanzlei kommen, meine Mittagspause verkürzen und jeden Abend an Penncrofts Tür klopfen, um ihm einen neuen Stapel fertiggestellter Berichte vorzulegen. Ich war überzeugt, eine derart übertriebene Zurschaustellung emsigen Tatendranges musste Penncroft dazu veranlassen, meiner Bitte um ein paar freie Tage ohne größere Umschweife zu entsprechen. Und so machte ich mich an die Arbeit.

Bestärkt durch die Aussicht, dem heißen, stickigen London bald den Rücken kehren zu können, nahm meine Produktivität ungeahnte Ausmaße an und ich stellte mit Erstaunen fest, zu welchen Leistungen ein Mensch doch imstande war, wenn er nur ausreichend motiviert wurde. Ich schrieb wie im Fieber und gegen Abend hatte ich nicht nur den Bradshaw-Bericht fertiggestellt, sondern auch ein halbes Dutzend weiterer Schriftstücke, die schon seit einigen Wochen in meiner Ablage verstaubten.

Als ich endlich die Kanzlei verließ, stellte ich mit Überraschung fest, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Die Sonne war bereits hinter den Dächern versunken und der fahle Schein der Gaslaternen breitete sich flackernd in den Straßen aus. Mir wurde bewusst, dass Sophie schon seit Stunden auf mich wartete. Zügig lenkte ich meine Schritte Richtung Holborn.

In der Farringdon Road kam ich an einem kleinen Buchladen vorüber, der überraschenderweise zu dieser späten Stunde noch geöffnet hatte. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich betrat das Geschäft und erkundigte mich beim Verkäufer, ob er Prospekte oder Broschüren jedweder Art über Cumberland im Angebot hatte. Tatsächlich führte er eine kleine Auswahl von Bildbänden, Wanderkarten und Reiseführern unterschiedlichster Qualität. Ich entschied mich für ein gebundenes, reich bebildertes Exemplar von Dixon’s »Cumberland Guide«, legte die Einladung von Nicholas zwischen die ersten beiden Seiten und ließ es vom Verkäufer in Geschenkpapier einschlagen. Ich hoffte, dieses kleine Mitbringsel würde Sophie für meine späte Ankunft entschädigen und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf originelle Art und Weise auf Nicholas' Brief lenken. Letztendlich stellten sich aber meine Bedenken hinsichtlich meiner Verspätung als gegenstandslos heraus. Da uns die finanziellen Möglichkeiten zum Unterhalt einer Haushälterin fehlten, war Sophie oft auf sich allein gestellt und an manchen Tagen bis in die Dämmerung hinein unterwegs, um Besorgungen zu machen, wie auch an diesem Abend. Als ich in unserer Wohnung eintraf, standen Taschen und Körbe mit allerlei Hausrat im Flur. Sophie war in der Küche und räumte soeben Lebensmittel in den großen Schrank neben der Tür, als ich eintrat und meine Aktentasche auf die Flurkommode warf. Überrascht kam Sophie aus der Küche gelaufen. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte, überreichte ich ihr das Päckchen aus der Farringdon Road. Misstrauisch wiegte sie es für einen Augenblick in ihren Händen. Schließlich zerriss sie das Seidenpapier und holte den Reiseführer daraus hervor. Neugierig begann sie, darin zu blättern. Es dauerte nicht lange und sie entdeckte Nicholas' Brief zwischen den Seiten. Kaum hatte sie den Inhalt überflogen, da sprang sie auch schon freudig in meine Arme, küsste mich und sagte mir, wie sehr sie sich darauf freute, endlich wieder mit mir verreisen zu können. Zärtlich erwiderte ich ihren Kuss, erklärte ihr aber daraufhin mit gespieltem Ernst, dass sie wohl allein fahren müsse, da ich, bekäme ich nicht bald etwas Warmes zu essen, bis dahin mit Sicherheit an Entkräftung gestorben sei. Mit einem Lächeln verschwand sie wieder in der Küche.

Nach dem Abendessen machten wir es uns dann im Wohnzimmer gemütlich, öffneten eine gute Flasche Wein und schmiedeten aufgeregt bis weit nach Mitternacht Urlaubspläne. Dabei leistete uns der von mir mitgebrachte Reiseführer hervorragende Dienste. Je länger wir in ihm blätterten, desto faszinierender und verlockender schienen uns die idyllischen Landschaften, die er uns zeigte, und nur allzu bereitwillig nahmen wir seine zahlreichen Empfehlungen in die Liste der von uns favorisierten Ausflugsziele auf. Am Ende mussten wir allerdings feststellen, dass wir, um alle von uns notierten Sehenswürdigkeiten zu bereisen, sicherlich mehr als einen Monat benötigt hätten. Ich erklärte Sophie, es sei schon schwierig genug, überhaupt ein paar freie Tage von Penncroft zu ergattern, und selbst wenn es mir gelänge, könnten wir uns glücklich schätzen, sollten es mehr als zwei Wochen am Stück werden. Sophie meinte daraufhin, ganz gleich, wie viele Tage ich dem alten Penncroft auch abringen würde, sie freue sich auf jeden einzelnen, den sie zusammen mit mir im wundervollen Cumberland verbringen könne. Und vielleicht, so fügte sie aufgeregt hinzu, wäre es ja sogar möglich, ihren Onkel in Keswick zu besuchen. Ich schmunzelte über diese nicht ganz unerwartete Bemerkung, befürchtete aber, Sophie könnte um so enttäuschter sein, sollten sich meine Bemühungen als erfolglos erweisen. Schließlich einigten wir uns beim zu Bett gehen darauf, mit unserer Reiseplanung noch so lange zu warten, bis ich mit Sicherheit wusste, dass Penncroft meiner Bitte entsprechen würde. Denn immerhin, so gab ich Sophie zu bedenken, gäbe es nichts, was den alten Rechtsverdreher davon abhalten könnte, meinen Urlaubsantrag abzulehnen und mir für die Zeit seiner Abwesenheit noch mehr Arbeit aufzuhalsen. Sophie erwiderte zunächst nichts auf meine schwarzmalerischen Äußerungen und schaute mich stattdessen nur nachdenklich an. Schließlich küsste sie mich mit einem geheimnisvollen Lächeln auf die Schläfe, hauchte mir ein »Viel Glück« ins Ohr und legte dann ihren Kopf auf meine Brust. Ich löschte das Licht und zog sie nahe an mich heran. Ihr gleichmäßiger Atem und der kaum wahrnehmbare Geruch ihres Parfüms wiegten mich schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es sollte der erholsamste Schlaf seit Wochen werden.

An den darauffolgenden Tagen unterwarf ich mich dann rigoros einer seit meinem Studium nicht mehr zelebrierten Arbeitsdisziplin. Ich betrat im Morgengrauen die Kanzlei, aß in den wenigen Pausen, die ich mir gönnte, hastig meine Mahlzeiten und vergrub mich ansonsten bis tief in die Nacht fanatisch schreibend in meinem Büro. Ich kam gut voran, und während ich dabei zusah, wie die Aktenberge auf meinem Schreibtisch schrumpften, zerstreuten sich allmählich auch die letzten Zweifel, die ich hinsichtlich des Erfolges meiner Anstrengungen hegte. Und dann war es geschafft! Am Nachmittag des 26. Juli hatte ich schließlich alle Berichte abgearbeitet. Jetzt endlich hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, in Penncrofts Büro zu spazieren und ihm mein lang gehegtes Anliegen vorzutragen. Aufgeregt, wie ein Schuljunge vor einer Klassenarbeit, klemmte ich mir den gerade fertig gestellten Stapel Berichte unter den Arm und war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen, als Mrs Chadwick mit gehetztem Gesichtsausdruck hereinstürmte und mir im Vorbeigehen einen unförmigen Gegenstand in die Hand drückte. Sie plapperte irgendetwas von »... gerade für Sie abgegeben worden ...« und »... keine Zeit ...« und hatte, noch ehe ich eine Bemerkung machen konnte, den Raum schon wieder verlassen. Irritiert starrte ich auf ein braunes Päckchen in meiner Hand und lauschte dabei den sich entfernenden Schritten Mrs Chadwicks. Nachdem ich meine Gedanken wieder einigermaßen beisammen hatte, ging ich zurück an meinen Schreibtisch, legte die Akten ab und machte mich daran, die merkwürdige Sendung zu untersuchen. Wieder einmal konnte ich keinerlei Absender entdecken und wieder einmal war ich der direkte Adressat. Darüber hinaus hatte ich beträchtliche Schwierigkeiten, die krakelige Schrift zu entziffern. Ungeduldig zerriss ich das Packpapier. Zum Vorschein kam ein graues, fest verschnürtes Stoffbündel, an dem mit einem Gummiband ein Zettel befestigt war. Ich entfaltete ihn und begann zu lesen:

»Alan, seltsame Dinge geschehen nachts in den Wäldern von Cumberland. Ich kann noch nichts Näheres sagen, aber offenbar scheint es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer von mir kürzlich beobachteten Erscheinung und diesem merkwürdigen Objekt zu geben, das ich heute Morgen im Wald nahe dem Haus gefunden habe. Trotz einer ausführlichen Untersuchung war ich nicht in der Lage, seine Herkunft oder dessen Verwendungszweck zu ergründen. Sogar das Material, aus dem es besteht, scheint ungewöhnlich zu sein. Ich stehe vor einem Rätsel. Aber es gibt da jemanden, der mir weiterhelfen könnte. John Davidson, ein alter Freund meines Vaters, ist ausgebildeter Chemiker. Er besitzt mehrere Drogerien in London und wohnt irgendwo im Westen der Stadt. Du wirst seine Adresse ohne Schwierigkeiten in jedem aktuellen Branchenverzeichnis finden. Bitte bringe ihm das Objekt. Er soll es untersuchen und feststellen, was es damit auf sich hat. Sobald Davidson die Analyse abgeschlossen hat, nimmst Du das Stück wieder an Dich und bringst es mir. Ich erwarte Dich dann am Freitag gegen Mittag am Bahnhof von Penrith. Alan, ich zähle auf Deine Hilfe!

Nicholas«

Immer wieder überflog ich die eigenartige Botschaft. Es bestand kein Zweifel, diese Nachricht stammte von Nicholas. Es war eindeutig seine Handschrift und sogar einen gewissen Davidson hatte er mir gegenüber schon einmal erwähnt. Ich wendete den Zettel, um zu sehen, ob es noch mehr Text gab. Aber da war nichts, nur diese seltsam verworrenen Zeilen auf der Vorderseite. Ein Blick auf den Poststempel verriet mir, dass das Päckchen am 24. Juli aufgegeben worden war. Demnach erwartete mich Nicholas schon morgen in Penrith. Aber worum zum Teufel ging es hier? Die Nachricht war konfus und verwirrend. Welcherart Erscheinung wollte er beobachtet haben? Und was für seltsame Dinge sollten sich seiner Meinung nach in den Wäldern von Cumberland abspielen? Wollte er mir etwa einen Streich spielen? Immerhin gab es da noch dieses Objekt, das ich von Davidson analysieren lassen sollte. Ich nahm das Stoffbündel zur Hand und schnitt es vorsichtig auf. Zum Vorschein kam ein höchst seltsames Gebilde. Es war eine schimmernde, kristallene Masse von der ungefähren Form und Größe eines Hühnereies. Das stumpfe Ende dieses Objektes steckte in einer Art metallener Fassung, an deren hinterem Ende so etwas wie ein kompliziertes Kugelgelenk angebracht war, aus dem drei lange, Furcht einflößende Krallenfinger hervorragten, die mit kleinen, spitzen Widerhaken versehen waren. Ich konnte nur raten, was ich hier vor mir hatte. Meine Vermutungen reichten von einer seltenen, antiken Waffe über ein Gerät zum Fischfang bis hin zu einem religiösen Kultgegenstand. Aber letztendlich konnte ich mir keinen Reim auf dieses abstoßend hässliche Ding machen. Nur eines wusste ich mit ziemlicher Sicherheit, meine Reisepläne hatten sich soeben geändert.

Die Dämonen vom Ullswater

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