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2. Das Artefakt

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Sophie saß schweigend neben mir, als sich unser Hansom stockend seinen Weg durch das allmorgendliche Verkehrsgetümmel auf der Charing Cross Road bahnte. Ich saß nach vorne geneigt, die Hände auf meinen Spazierstock gestützt, und beobachtete mit wachsender Unruhe die wimmelnde Masse aus Droschken und Menschen, die sich träge durch die staubigen Straßen von London wälzte und ein schnelles Vorankommen unseres Gefährtes verhinderte. Es war einfach lächerlich. Noch vor wenigen Tagen döste ich in meinem Arbeitszimmer übermüdet vor mich hin und zählte die Stunden bis zum Büroschluss. Nun lief mir die Zeit davon. In einer knappen halben Stunde sollte mein Zug von Euston Station aus in Richtung Penrith gehen. Aber meine Reise schien unter keinem guten Stern zu stehen. Schon zu Beginn hatte sich unser Aufbruch um mehrere Minuten verzögert, als es mir nicht gleich gelang, eine unbesetzte Droschke zu ergattern. Zu allem Überfluss war dann auch noch in einer der belebten Seitenstraßen, die zur Gower Street führten, ein Brauereiwagen umgekippt und versperrte mit seinen auslaufenden Fässern nahezu die gesamte Fahrspur. Es schien, als hätte sich an diesem Morgen ganz London gegen mich verschworen. Weitere unangenehme Überraschungen konnten meine angespannten Nerven nicht mehr verkraften.

Plötzlich durchschnitt ein kurzer, lauter Knall den Lärm der Straße. Ein Ruck ging durch unser Cab und die schlagartig einsetzende Beschleunigung drückte uns unsanft in die Polster. Der Kutscher hatte offenbar im Gewühl eine freie Schneise entdeckt und gab dem Pferd die Peitsche. Ich hatte ihm einen großzügigen Bonus versprochen, falls er es schaffen sollte, uns in Rekordzeit zum Bahnhof zu bringen, und es schien ganz so, als wollte er sich diesen nicht entgehen lassen. Das Zugtier, ein schwarzer, kräftiger Hackney, machte einen Satz nach vorne und zog unser leichtes Gefährt wie ein Spielzeug hinter sich her. Das Cab schwang heftig schlingernd herum, schleuderte auf die Gegenspur und kam dabei einer entgegenkommenden Droschke gefährlich nahe. Für einen kurzen Augenblick starrte ich in das schreckerfüllte Gesicht ihres Kutschers, der verzweifelt versuchte, sein Gefährt so schnell wie möglich auf die rechte Straßenseite zu lenken, um eine Kollision mit uns zu vermeiden. Seine Droschke machte einen Satz zur Seite und gewann im allerletzten Moment den nötigen Raum, um uns gefahrenfrei zu passieren. Als dann schließlich unsere beiden Wagen, mit nur wenigen Inches Abstand, aneinander vorbeischrammten, konnte ich hören, wie der von uns in Bedrängnis gebrachte Kutscher in schwerem Cockney-Akzent eine ganze Reihe markerschütternder Flüche zu uns herüberbrüllte. Und Recht hatte er, denn schließlich bezahlte ich den Kerl auf dem Kutschbock nicht dafür, uns ins Jenseits zu befördern, sondern so schnell wie möglich zum Bahnhof zu bringen. Ich wollte gerade mit meinem Stock protestierend an das Dach des Cabs hämmern, als ich bemerkte, dass sich das waghalsige Manöver unseres Chauffeurs offenbar auszahlte. Wir nahmen zügig Fahrt auf und kurze Zeit später eilten wir mit hohem Tempo die Gower Street hinunter. Halbwegs besänftigt lehnte ich mich wieder zurück und sah in Erwartung eines strafenden Blickes zu Sophie hinüber. Doch sie starrte scheinbar geistesabwesend auf die Straße hinaus und schien von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen zu haben. Besorgt griff ich nach ihrer Hand, nur um mich zu vergewissern, dass alles mit ihr in Ordnung war. Doch Sophie legte sie wie beiläufig auf den Rand der Cabtür. Es war die unmissverständliche Geste einer Frau, die mir damit zeigen wollte, dass sie offenbar noch immer über die Umstände meines plötzlichen Aufbruches und meinen Entschluss, sie nicht mit nach Penrith zu nehmen, verärgert war. Ich konnte sie verstehen.

In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten sich die Ereignisse nahezu überschlagen. Am Vortag, kurz nach Erhalt jener ominösen Sendung aus Penrith, hatte ich mich ohne zu zögern in Penncrofts Büro begeben, um meinen, jetzt noch dringender denn je, benötigten Urlaub einzufordern. Dabei kam mir sehr entgegen, dass Penncroft, dank unserer geschwätzigen Mrs Chadwick, bereits von dem Päckchen erfahren hatte. Gleich zu Beginn unseres Gespräches wollte er wissen, ob meine plötzliche Bitte um Urlaub vielleicht damit zusammenhinge. Ich griff diese sich mir bietende Gelegenheit sofort beim Schopf und tischte ihm eine Geschichte über eine angeblich problematische Situation in meinem Elternhaus auf, deren Klärung meiner sofortigen Anwesenheit bedurfte. Penncroft, offenbar aufgrund seines bevorstehenden Ausfluges an die Küste bester Laune, warf einen kurzen, abschätzenden Blick auf die von mir bearbeiteten Akten und willigte daraufhin sofort ein, mir für die folgenden vierzehn Tage freizugeben. Schon eine knappe halbe Stunde später hatte ich alle meine laufenden Tagesgeschäfte einem sichtlich überraschten Mr Akhurst übergeben, unserer hochgeschätzten Mrs Chadwick zwei geruhsame Wochen gewünscht und eine Droschke Richtung Euston Station bestiegen. Ich erwarb eine Fahrkarte für die zweite Klasse in einem der frühen Züge nach Norden und machte mich dann sofort auf den Weg zu Davidson.

Wie Nicholas schon richtig vermutet hatte, war es kein Problem gewesen, die Adresse des Mannes in Erfahrung zu bringen. Er bewohnte eine großzügige Stadtwohnung in Kensington am südlichen Ende des Kensington Gardens. Er selbst präsentierte sich mir als ein grauhaariger Gentleman fortgeschrittenen Alters mit einem wild abstehenden Backenbart und einer Nickelbrille auf der Nase. Nachdem ich mich ihm vorgestellt und mein Anliegen vorgetragen hatte, geleitete er mich sofort hinunter in den Keller, wo sich sein opulent ausgestattetes Privatlaboratorium befand. Ich war sichtlich beeindruckt. Nicholas hatte zwar erwähnt, Davidson sei Chemiker, aber der Ausstattung seines Labors nach zu urteilen, war dieser Mann scheinbar auch in vielen anderen Fachgebieten heimisch. Die hohen Regale an den Wänden waren überfrachtet mit dickleibigen Büchern, losen Schriftstücken, Formelsammlungen und wissenschaftlichen Abhandlungen zu allen nur erdenklichen Themen. Die Menge an Dokumenten war beachtlich und hätte wahrlich jeder Universitätsbibliothek zur Ehre gereicht. Mein Gastgeber führte mich in einen Bereich seines Labors, der offenbar praktischen Versuchen diente. An den Wänden standen nun schwere, zernarbte Holztische, auf denen sich allerlei wissenschaftliches Gerät drängte. Davidson trat einige Schritte zur Seite und betätigte einen kleinen Schalter an der Wand. Plötzlich erstrahlte der ganze Raum im hellen Schein elektrischer Lampen. Er öffnete einen Schrank und holte eine Flasche samt Gläsern hervor. »Kann ich Ihnen einen Brandy anbieten?«

Ich nahm dankend an und wir setzten uns auf ein paar klapprige Holzstühle. Mein Gegenüber wartete ab, bis ich an meinem Glas genippt hatte, und beugte sich dann ungeduldig zu mir herüber. »Nun denn, Mr Walden. Zeigen Sie mir doch mal, was Sie da haben.«

Ich holte Nicholas' Fundstück hervor und wickelte es vorsichtig aus dem grauen Leinentuch. Kaum hatte Davidson das seltsame Objekt erblickt, stieß er einen leisen Pfiff aus und musterte es mit der für einen Gelehrten üblichen Faszination.

»Erlauben Sie?«, fragte er und streckte begierig seine Hände danach aus.

»Sicher«, entgegnete ich und reichte ihm mein bizarres Mitbringsel.

Davidson hob das Objekt vorsichtig mit den Fingerspitzen aus dem Tuch und trug es zu einem seiner Arbeitstische hinüber. »Und wo noch mal, sagten Sie, hat Mr Halford dieses ungewöhnliche Stück gefunden?«

»In einem Waldstück bei Penrith«, antwortete ich. »So stand es jedenfalls in dem beiliegenden Schreiben.«

»Höchst interessant«, murmelte er und beugte sich mit einer Lupe über das Gebilde.

Während ich langsam weiter meinen Brandy trank, sah ich dabei zu, wie mein Gastgeber aufgeregt vor seinem Arbeitstisch hin- und hersprang und das Objekt neugierig von allen Seiten beäugte.

»Können Sie schon sagen, was es ist?«, wollte ich wissen.

Davidson drehte sich um und schaute mich vorwurfsvoll über den Rand seiner Brille hinweg an. »Junger Mann, einmal davon abgesehen, dass es mit Ihrer Geduld nicht zum Besten bestellt zu sein scheint, müssen Sie mir schon die notwendige Zeit zugestehen, dieses Objekt angemessen zu untersuchen. Wissenschaft, Mr Walden, die Suche nach der Wahrheit, ist keinesfalls ein Wettrennen, auch wenn es Leute gibt, die da anderer Meinung sind.«

»Bitte vergeben Sie mir«, ich hob beschwichtigend die Hände, »ich wollte Sie auf keinen Fall ...«

»Schon gut, schon gut«, winkte Davidson ab. »Ich weiß, die Zeit sitzt Ihnen im Nacken, also lassen Sie uns zügig an die Arbeit gehen und herausfinden, was es mit diesem bemerkenswerten Objekt auf sich hat. Übrigens, junger Mann, wo wir schon einmal dabei sind, verfügen Sie über eine einigermaßen saubere Handschrift?«

Ich bejahte und so verbrachten wir die folgenden Stunden damit, den von mir mitgebrachten Gegenstand auf das Genaueste zu untersuchen. Dazu betrachtete Davidson zunächst jedes Detail des Objektes sorgfältig unter dem Mikroskop, erfasste seine Maße und stellte bis auf die zehntel Unze genau sein Gewicht fest. Anschließend führte er eine Reihe chemischer Tests an dem eiförmigen Kristall und dem Material der Fassung durch. Zuletzt versuchte er noch, eine Probe vom metallenen Teil des Artefaktes zu erhalten, was ihm aber trotz Einsatzes eines Diamantschneiders nicht gelingen wollte. In der Zwischenzeit notierte ich auf Davidsons Geheiß alle gewonnenen Erkenntnisse in ein Notizbuch.

Als die Untersuchungen abgeschlossen waren, erhob sich mein Gastgeber und begann unschlüssig im Labor auf und ab zu gehen. Dabei machte er immer wieder vor einem seiner Bücherregale halt, zog ein Buch daraus hervor, blätterte darin, schüttelte den Kopf und stellte es enttäuscht wieder zurück. Nachdem er auf diese Weise ungefähr ein Dutzend Werke zurate gezogen hatte, setzte er sich wieder auf einen der alten Holzstühle, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Brandyglas und blickte nachdenklich zu mir herüber. »Wissen Sie, junger Mann, Sie werden gerade Zeuge von etwas, dem bisher nicht viele Menschen in meiner Umgebung beigewohnt haben: Sie erleben mich absolut ratlos.«

Verwundert blickte ich Davidson an.

»Sehen Sie, Mr Walden, anfangs glaubte ich noch, dieses Artefakt könnte indischen Ursprunges sein, eine Art Zepter oder zeremonielle Waffe aus der Harappa- oder Maurya-Dynastie, bis zu mehrere Tausend Jahre alt. Doch dann stellte ich diverse Merkwürdigkeiten fest, die mich an dieser Theorie zweifeln ließen. Haben Sie bemerkt, dass das Objekt, in Anbetracht des Materials, aus dem es zu bestehen scheint, eigentlich viel zu leicht ist?«

Ich überlegte einen Moment, musste mir aber eingestehen, dass mir nichts dergleichen aufgefallen war. »Nein, das ist mir leider entgangen. Aber Sie wirkten irritiert, als Sie es wogen.«

Davidson lächelte nachsichtig. »Nun, zumindest haben Sie das bemerkt, junger Mann.«

Er erhob sich, ging zum Labortisch und nahm das Artefakt in die Hand. »Dieser Teil hier«, erklärte er und tippte mit dem Finger an das Kristallei, »ist hart und säurebeständig wie Diamant, jedoch weitaus leichter. Ebenso verhält es sich mit dem Material, aus dem die Fassung, das Kugelgelenk und diese seltsamen, krallenartigen Fortsätze bestehen. Sie haben selbst erlebt, wie ich es den stärksten Säuren ausgesetzt habe, ohne den geringsten Effekt zu erzielen. Nicht einmal der Diamantschneider hat Spuren darauf hinterlassen.«

Davidson drehte das Artefakt vor meinen Augen hin und her. Er übertrieb nicht im Geringsten. Trotz der vorangegangenen Versuche war die Oberfläche des Objektes noch immer völlig glatt und makellos. Noch nie hatte ich ein derart widerstandsfähiges Material gesehen.

»Wie um alles in der Welt war jemand in der Lage, so etwas herzustellen?«, fragte ich.

Davidson zuckte die Achseln und legte das Artefakt zurück auf den Tisch. »Genau das ist hier die Frage, Mr Walden. Sehen Sie«, setzte er zögerlich hinzu. »Vielleicht könnte ich mich noch dazu durchringen, dieses Kristallei als das Produkt eines begnadeten Edelsteinschleifers anzuerkennen, als den fulminanten Höhepunkt einer langen Handwerkertradition. Nicht so aber den Rest dieses Objektes. Das Material, aus dem die Fassung und diese eigenartigen Krallen bestehen, ist mir ein absolutes Rätsel. Es ist leicht und hart zugleich. Die leichtesten Metalle, die ich kenne, sind Magnesium und Aluminium. Beide hätte ich ohne Probleme mit dem Fingernagel einritzen können. Dieses hier jedoch widersteht dem härtesten Material, das uns zur Verfügung steht – Diamant. Niemand hätte so eine Legierung vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren herstellen können.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Sie meinen also, dieses Objekt wurde erst vor Kurzem gefertigt, aus neuartigen Materialien, mit Hilfe moderner Werkzeugmaschinen?«

Davidson schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, Mr Walden, eben nicht! Auch heutzutage sind wir nicht in der Lage, so etwas zu fertigen. Dieses Metall hier«, dabei deutete er auf den Schaft mit der Kralle, »würde, wäre es in großem Maßstab verfügbar, ohne Zweifel den modernen Maschinenbau revolutionieren!«

Ungläubig starrte ich auf das seltsame Gebilde auf dem Labortisch. Es war mir einfach unbegreiflich, wie etwas, das entfernt Ähnlichkeit mit einem antiken Kristallleuchter hatte und zufällig im Wald gefunden worden war, solch fantastische Eigenschaften aufweisen konnte. Seltsam fasziniert ließ ich meine Fingerspitzen über die Konturen des Artefaktes gleiten. »Wenn dieses Objekt wirklich so außergewöhnlich ist, wie Sie behaupten, und selbst die modernsten Werkstätten Englands nicht in der Lage wären, es zu reproduzieren, ja, wo zum Teufel soll es denn Ihrer Meinung nach hergekommen sein?«

Davidson nahm seine Brille ab und rieb sich die Schläfen. »Ich weiß es nicht, Mr Walden. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht stammt es aus dem sagenumwobenen Atlantis«, fügte er mit einem gequälten Lächeln hinzu und setzte seine Brille wieder auf. »Aber im Ernst, fragen Sie Mr Halford. Vielleicht verrät uns der Fundort des Artefaktes mehr über seine Herkunft. Ich bin mit meinem Latein leider am Ende.«

Sichtlich ermattet schlurfte er zur anderen Seite des Labors, entzündete eine Petroleumlampe und schaltete die elektrische Beleuchtung aus. »Kommen Sie, Mr Walden, lassen Sie uns oben noch einen kleinen Imbiss einnehmen, bevor ich das Schriftstück für Mr Halford aufsetze. Meine Frau macht vorzügliche Gurkensandwiches.«

Ich wollte meinem Gastgeber gerade die Treppe hinauffolgen, als mir einfiel, dass das Artefakt noch auf dem Labortisch lag. Nicholas hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass ich es nach der Analyse wieder an mich nahm. Durch das Halbdunkel des Labors schaute ich zum Tisch hinüber. Im ersten Moment glaubte ich, meine vom vielen Schreiben übermüdeten Augen spielten mir einen Streich. Aber es gab keinen Zweifel. Von dem Artefakt ging ein schwaches, bläuliches Leuchten aus! Ich stürzte zur Treppe und rief Davidson zurück. Der Chemiker kam aufgeregt die Stufen heruntergepoltert und blickte mich fragend an. »Was ist denn los, Mr Walden? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«

Wortlos deutete ich auf die Lichtquelle. Davidson kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt in das Halbdämmern. »Was in Gottes Namen ...!«

Gebannt starrten wir einige Augenblicke auf das gespenstisch blaue Leuchten, das aus dem Inneren des Kristalls zu kommen schien. Davidson, als Chemiker mit derartigen Erscheinungen weitaus vertrauter als ich, erlangte als Erster seine Fassung zurück. Er ging zum Labortisch, stellte die Lampe ab und beugte sich vorsichtig über das Artefakt. Dabei näherte er sich dem Objekt so weit, dass seine Nasenspitze beinahe den Kristall berührte und der bläuliche Schein seinem Gesicht ein groteskes, koboldhaftes Aussehen verlieh.

»Phosphoreszenz würde ich sagen, vielleicht sogar Elektrolumineszenz. Sehr, sehr ungewöhnlich«, murmelte er leise vor sich hin.

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, kommentierte ich Davidsons Bemerkungen.

Der Chemiker blickte kurz zu mir herüber und wandte sich dann wieder dem Artefakt zu. »Solcherart Erscheinungen können verschiedene Ursachen haben, Mr Walden. Entweder enthält der Kristall fluoreszierende Phosphorverbindungen oder elektrische Entladungen in seinem Inneren sind dafür verantwortlich.«

Ich glaubte zu verstehen. »Es handelt sich dabei also um ein natürliches Phänomen?«

Davidson richtete sich auf. »In diesem Fall würde ich nicht darauf wetten, junger Mann. In Anbetracht der zahlreichen Merkwürdigkeiten, auf die wir im Laufe der Untersuchung gestoßen sind, halte ich es durchaus für möglich, dass dieses Leuchten irgendwie künstlich herbeigeführt worden ist. Aber lassen Sie mich zunächst noch etwas versuchen.«

Davidson nahm das Artefakt und spannte es in eine Art Haltevorrichtung. Dann rollte er fingerdicke Stromkabel auf dem Laborboden aus und verband sie auf der einen Seite mit der Haltevorrichtung und auf der anderen mit einem elektrischen Transformator. Fasziniert betrachtete ich das Treiben des alten Mannes, dessen Müdigkeit plötzlich wie weggeblasen schien. Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit installiert hatte, packte er meinen Arm und zog mich hinter das Transformatorengehäuse. »Geben Sie jetzt Acht, Mr Walden.«

Davidson drehte an einem großen Handrad und beobachtete dabei abwechselnd das Artefakt und zwei kleine Zeigerinstrumente, die am Transformator angebracht waren. Noch immer war mir nicht ganz klar, was er eigentlich vorhatte. Mein Gastgeber schien jedoch meine Irritation bemerkt zu haben und fühlte sich genötigt, ein Wort der Erklärung abzugeben. »Sehen Sie«, und dabei deutete er auf die Stromleitungen, die sich quer durch sein Labor schlängelten. »Ich entnehme Elektrizität aus dem städtischen Stromnetz und speise sie in diesen Transformator ein. Mithilfe dieser Stellräder hier bin ich in der Lage, Stromstärke und Spannung beliebig zu variieren. Die so umgespannte Elektrizität leite ich dann direkt in die Spitze des Kristalls.«

Davidsons Ausführungen klangen einleuchtend, aber dennoch konnte ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass der Mann, anstatt seriöse Forschung zu betreiben, nur seinem Spieltrieb frönte. Aber vielleicht verkannte ich ihn. Vielleicht war dies sein letzter, verzweifelter Versuch, dem seltsamen Objekt doch noch seine Geheimnisse zu entreißen. Ich hoffte nur, er wusste, was er tat. Davidson, der meinen skeptischen Gesichtsausdruck scheinbar nicht bemerkt hatte, setzte unbekümmert seine Erläuterungen fort.

»Wenn nun die Leuchterscheinung, die wir hier beobachten, auf herkömmliche Phosphoreszenz zurückzuführen ist, dann dürfte nach dem Anlegen einer Spannung keinerlei Veränderung zu beobachten sein. Sollte sich jedoch die Intensität des emittierten Lichtes verändern, können wir davon ausgehen, dass wir es hier mit Elektrolumineszenz zu tun haben. In diesem Falle wäre anschließend die Frage zu klären, woher der Kristall die elektrische Energie bezieht, um eigenständig zu leuchten. Aber lassen Sie uns einen Schritt nach dem anderen machen.«

Davidson betätigte eines der Stellräder an der Vorderseite des Transformators. »Ich erhöhe jetzt langsam die Spannung.«

Die Zeiger der Strom- und Spannungsmessgeräte erwachten zitternd zum Leben und begannen, träge über ihre Skalen zu kriechen. Gespannt blickte ich zu dem Artefakt hinüber, das zunächst aber keinerlei Veränderung zeigte. Davidson drehte das Stellrad weiter. Nichts passierte. Noch immer glomm der Kristall mit gleichbleibender Helligkeit. Ich schaute zu meinem Gastgeber, der meinen fragenden Blick sofort mit einer beschwichtigenden Geste quittierte. »Nicht ungeduldig werden, junger Mann. Beobachten Sie nur ruhig weiter unser Versuchsobjekt. Ich habe noch nicht einmal ein Viertel der mir zur Verfügung stehenden Leistung durch die Kabel gejagt.«

Mit diesen Worten drehte er das Stellrad bis zum Anschlag. Ein tiefes, bösartiges Brummen drang aus dem Transformatorengehäuse und ich trat erschrocken einige Schritte zurück. Davidson bedachte mich mit einem mitleidigen Lächeln und konzentrierte sich danach wieder auf seine Armaturen. Im selben Moment geschah etwas mit dem Artefakt. Das bisher schwache, blaue Leuchten aus dem Inneren des Kristalls nahm sichtbar an Intensität zu und schwoll innerhalb von Sekunden zu einem blendend hellen Schein. Während Davidson mit einer Hand seine Augen abschirmte, wühlte er mit der anderen aufgeregt in einer Schublade. Zum Vorschein brachte er ein Paar Schutzbrillen mit getönten Gläsern, von denen er mir ein Exemplar reichte.

Durch die dunklen Gläser der Brille geschützt, schaute ich mich um. Das ganze Labor war vollständig von einem grellem Strahlen erfüllt und schwere, dunkle Schlagschatten zeichneten sich gespenstisch an den Wänden ab. Davidson stand wie gebannt in diesem Meer aus Licht und starrte fasziniert zu der kleinen Sonne hinüber, die er in seinem Labor entzündet hatte. Mich hingegen erfreute dieser Anblick weitaus weniger. Denn in der Zwischenzeit hatte das Brummen des Transformators eine derart ohrenbetäubende Lautstärke erreicht, dass ich glaubte, das Gerät müsste jeden Augenblick explodieren. Mittlerweile roch es verdächtig nach verschmortem Kautschuk und von überall drang das beunruhigende Knistern elektrischer Entladungen an meine Ohren. Es bestand kein Zweifel, mein experimentierfreudiger Gastgeber verlor langsam die Kontrolle über seine Apparaturen.

»Davidson!«, brüllte ich durch den Lärm. »Schalten Sie ab, bevor uns hier alles um die Ohren fliegt!«

Der Chemiker reagierte nicht. Er schien völlig gefangen von dem, was sich dort vor seinen Augen abspielte. Ich griff nach seinem Arm und versuchte Davidson zur Besinnung zu bringen. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis er endlich reagierte. Langsam drehte er sich zu mir herum. Seine Mundwinkel zuckten vor Verzückung. »Unglaublich, nicht wahr? Dieses Licht, dieses überirdische Licht, es strahlt heller als die Sonne!«

Ich deutete aufgeregt auf den Transformator. »Um Himmels Willen, Davidson, hören Sie denn nicht diesen infernalischen Lärm? Schalten Sie endlich den verdammten Transformator ab!«

Davidson schaute mich einen kurzen Moment verständnislos an. Dann schien er zu begreifen. »Ich, ich ... Mein Gott, was tue ich hier nur!«

Er griff nach dem Stellrad und wollte es in die Nullposition drehen. Aber das Rad bewegte sich nicht. Davidson packte beidhändig zu und stemmte sich stöhnend dagegen. Nichts geschah. Mit hochrotem Kopf blickte er in meine Richtung. »Schnell, Mr Walden, packen Sie mit an! Der hohe Stromfluss hat wahrscheinlich die verdammten Kontakte verschweißt.«

Gemeinsam zerrten wir an dem Stellrad. Ohne Erfolg. Es bewegte sich keinen Inch. Panisch blickte Davidson zu dem grell leuchtenden Kristall hinüber, dessen abnorme Helligkeit sich mittlerweile sogar durch die dicken, nachtschwarzen Gläser unserer Schutzbrillen fraß.

»In Gottes Namen, verschwinden Sie hier, Mr Walden! Es hat keinen Zweck mehr. Ich kann den Strom nicht mehr abschalten.«

Davidson packte meinen Arm und wollte mich gerade aus dem Raum zerren, als ich eine Eingebung hatte. »Warten Sie! Die Kabel! Trennen Sie die Kabel, die vom Hausanschluss in den Transformator führen!«

Davidson zögerte einen Moment, nickte mir dann aber verstehend zu. Im Laufschritt durchquerte er das Labor und kehrte Augenblicke später mit angelegten Gummihandschuhen und einer kleinen Handaxt zurück. Mit kurzen, gezielten Hieben durchtrennte er die Stromkabel kurz vor der Wandeinspeisung. Schlagartig verstummte das beängstigende Brummen des Transformators. Gespannt blickten wir zu dem Artefakt hinüber. Zwar hatte sich die enorme Helligkeit, die von ihm ausging, merklich vermindert, dennoch strahlte das Kristallei noch immer ein blaues, geheimnisvolles Licht aus.

Noch während wir uns fragten, woher das Artefakt trotz durchtrennter Stromkabel die Energie nahm, um derart intensiv zu leuchten, wurden wir Zeuge einer weiteren Veränderung.

Als schließe man das Ventil einer Gaslaterne, verlor das Licht plötzlich an Intensität und verwandelte sich innerhalb von Sekunden in ein schwaches, kaum wahrnehmbares Glimmen. Dann, im nächsten Augenblick, flammte es wieder auf, nur um daraufhin erneut zu verlöschen. Das Licht aus dem Kristall begann zu pulsieren wie ein Leuchtfeuer. Dabei veränderte es seine Farbe von Blau nach Rot und ein eigenartig singender Ton breitete sich im Labor aus, dessen Tonhöhe im Takt des Pulsierens auf- und abschwang.

Davidson und ich sahen uns verblüfft an. Was hier geschah, war nicht mit normalen physikalischen Gesetzen erklärbar. Aber für Spekulationen blieb uns keine Zeit. Die Frequenz, mit der das Kristallei pulsierte, und auch die Tonhöhe des Begleitgeräusches nahmen rapide zu.

»Ich fürchte, die Sache ist noch nicht ausgestanden«, schrie der Chemiker und zerrte mich wieder hinter den Transformator.

»Was zum Teufel haben Sie da nur losgetreten!«, fluchte ich und zog mir entnervt die Schutzbrille vom Gesicht. Mein Gastgeber ignorierte meine Bemerkung und blickte über den Rand des Transformatorengehäuses. Das Pulsieren des Kristalls war mittlerweile in ein gleichmäßiges, rotes Glühen übergegangen, begleitet von einem hohen, durchdringenden Kreischen.

»Dort, sehen Sie«, überschlug sich plötzlich Davidsons Stimme, »die Krallen, oh Gott, sie bewegen sich!«

Deutlich konnte ich erkennen, wie die mit Widerhaken besetzten Krallen, die aus dem Kugelgelenk unterhalb des Kristalleies herausragten, zu unnatürlichem Leben erwachten. Der Anblick war beängstigend und ekelerregend. Wie die Glieder einer Knochenhand wanden sich die dünnen, spitzen Krallenfinger im rötlichen Schein elektrischer Entladungen, so, als wollten sie nach irgendetwas greifen. Angewidert wandte ich mich ab. Doch Davidson ließ nicht locker.

»Um Himmels willen, Mr Walden! Sehen Sie doch hin! Das Licht, es verändert sich. Oh, warten Sie! Wie kann das sein? Ich glaube, es schwebt!«

Ich blickte wieder zum Artefakt hinüber. Es war einfach unglaublich. Das rot leuchtende Kristallei war nun von einem orangefarbenen Ring aus purem Licht umgeben, der langsam auf und ab wanderte. Ich befürchtete, dass über kurz oder lang die enorme Hitze, die von diesem Phänomen abgestrahlt wurde, das Labor in Brand setzen würde. Ich musste etwas unternehmen.

»Davidson, schnell, geben Sie mir die Axt!«

»Was zum Teufel haben Sie vor?«

Ich deutete auf das Kristallei. »Ich werde dem Spuk jetzt ein Ende bereiten.«

Davidson packte mich schmerzhaft am Arm. »Nein, das können Sie nicht tun! Dieses Objekt ist für die Wissenschaft unersetzlich.«

»Und ob ich das kann«, entgegnete ich scharf. »Das Ding dort drüben wird immer größer und in ein paar Minuten das gesamte Haus in Brand setzen. Wollen Sie das riskieren?«

Mein Gastgeber warf einen abschätzenden Blick zu dem Artefakt hinüber. In den dunklen Gläsern seiner Schutzbrille spiegelten sich die orangefarbenen Entladungen, die knatternd aus dem Kristallei schlugen. Schließlich lockerte sich sein Griff und er reichte mir die Axt. »Also gut. Aber warten Sie.« Er zog sich hastig die schwarzen Gummihandschuhe aus und reichte sie mir. »Hier! Ziehen Sie die gefälligst über und setzten Sie Ihre verdammte Schutzbrille wieder auf! Ich habe keine Lust, meine Gurkensandwiches nachher alleine zu essen.«

Ich quittierte seine Bemerkung mit der Andeutung eines Lächelns und nahm die Axt. Langsam arbeitete ich mich zu dem Artefakt vor. Der orangefarbene Lichtring, der noch immer flimmernd auf und ab wanderte, hatte mittlerweile einen Durchmesser von fast eineinhalb Fuß erreicht und wuchs weiter. Eine unglaubliche Hitze strahlte von ihm ab und mir war sofort klar, dass ich mir schwerste Verbrennungen zufügen würde, sollte ich ihm zu nahe kommen. Ich wartete ab, bis der wabernde Lichtring an die tiefste Position gewandert war und das Artefakt offen vor mir lag. Dann holte ich aus und schlug mit aller Kraft auf die Spitze der Struktur. Zu meiner Überraschung blieb der Kristall intakt, zeigte aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Rissen. Knackend und knirschend breiteten sich die Risse schnell über die gesamte Oberfläche des Objektes aus. Helles Licht brach zwischen den Bruchstellen hervor. Obwohl ich spürte, dass es nun höchste Zeit war, in Deckung zu gehen, beobachtete ich seltsam fasziniert, was mit dem Kristall geschah. Schließlich brachte mich Davidsons Gekreische zur Besinnung.

»Gottverdammt, Mr Walden! Auf was warten Sie noch? Kommen Sie da weg!«

Ich schnellte herum, rannte durch das Labor und sprang hinter das Transformatorengehäuse. Kaum hatte ich mich hinter die schützende Metallverkleidung geduckt, zerbarst auch schon der Kristall mit einem ohrenbetäubenden Knall. Ein Hagel von Splittern fegte wie eine Sturmbö durch das Labor und zertrümmerte Reagenzgläser, Messbecher und anderes Gerät. Nicht wenige Fragmente schlugen mit der Wucht von Schrapnellen in die Rückwand des Transformators ein und ich dankte in diesem Moment dem Himmel dafür, dass ich auf Davidson gehört hatte. Einen Augenblick später war der ganze Spuk vorbei und Stille breitete sich im Labor aus. Noch immer hinter dem Transformator kauernd, zogen wir uns langsam die Schutzbrillen vom Gesicht und lauschten auf verdächtige Geräusche. Als wir nichts dergleichen hörten, richteten wir uns auf und schauten uns um. Der Tisch, auf dem sich die Halterung mit dem Artefakt befunden hatte, lag in Trümmern. Zahlreiche Geräte und Behälter auf den umliegenden Arbeitsflächen waren zerstört.

Davidson deutete auf die Wand in seiner Nähe, aus der mehrere verdrehte Metallsplitter ragten. »Sie wären glatt durchsiebt worden, mein Lieber.«

Ich nickte und versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen. Mein Gastgeber durchquerte den Raum und betätigte den Lichtschalter. Offenbar waren die Stromleitungen trotz der vorangegangenen Überbelastung intakt geblieben und bis auf eine Glühlampe, die von umherfliegenden Splittern zerstört worden war, flammte das elektrische Licht ohne Probleme auf. Davidson warf einen kritischen Blick in die Runde. Angesichts der Zerstörungen, die nun offenbar wurden, drückte ich ihm mein Bedauern über die entstandenen Schäden aus. Aber Davidson klopfte mir nur beschwichtigend auf die Schulter und meinte: »Die Wissenschaft fordert nun einmal Opfer, junger Mann. Und wenn es sich dabei nur um etwas zerbrochenes Glas und verdrehtes Metall handelt, umso besser.«

Mit einem Lächeln pflichtete ich ihm bei. Wir wandten uns wieder dem Chaos um uns herum zu. Davidson schlug vor, das Labor nach versteckten Brandherden abzusuchen. Nach einer gründlichen Inspektion machten wir uns daran, die Reste des Artefaktes zusammenzusuchen. Mit Verwunderung stellten wir fest, dass von dem seltsamen Objekt nur noch daumengroße Trümmerstücke übrig geblieben waren. Sorgsam sammelten wir alle Kristall- und Metallfragmente, deren wir habhaft werden konnten, ein und legten sie in eine abschließbare Kassette.

Als wir schließlich das Labor verließen, bat mich Davidson, die Bruchstücke einem befreundeten Wissenschaftler zur weiteren Untersuchung übergeben zu dürfen. Ich stimmte zu, denn das Artefakt, so außergewöhnlich es auch gewesen sein mochte, war nun einmal zerstört und ich sah keinen Sinn darin, Nicholas bei meiner Ankunft in Penrith einen Haufen Kristallscherben und Metallsplitter in die Hand zu drücken. Mein Gastgeber nahm die Kassette an sich und schloss sie unter der Versicherung, sie sei bei ihm gut aufgehoben, in den Tresor seines Arbeitszimmers. Anschließend kredenzte uns Mrs Davidson die versprochenen Gurkensandwiches, an denen wir allerdings nur abwesend herumkauten, da unser Geist noch völlig von dem gefangen war, was wir gerade im Keller erlebt hatten. Einzig und allein der Brandy erfreute sich bei uns eines regen Zuspruches, was aufgrund unserer angegriffenen Nerven auch wenig verwunderlich war. Diskussionen kamen hingegen kaum auf. Wir wussten nur allzu gut, dass nichts von dem, was wir dort unten im Labor gesehen hatten, eine Entsprechung in einem modernen Physikbuch fand. Abschließend verfasste Davidson noch ein Schreiben für Nicholas, welches allerdings weitaus mehr Mutmaßungen enthielt, als es Fragen beantwortete. Ich steckte das Dokument zusammen mit einem Kristallsplitter, den ich vorsorglich für mich behalten hatte, in meine Tasche und ließ mich dann von Davidson zur Tür bringen. Mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben, verabschiedete ich mich von meinem Gastgeber und machte mich auf den Weg zurück nach Holborn.

Zuhause angekommen, verschwendete ich keine Zeit und erzählte Sophie sofort von dem seltsamen Päckchen aus Penrith und meinen haarsträubenden Erlebnissen bei Davidson. Wie zu erwarten, glaubte sie mir kein einziges Wort und unterstellte mir stattdessen, betrunken zu sein. Obwohl ich noch immer Davidsons Brandy auf der Zunge schmeckte, bestritt ich dies natürlich vehement. Ich versicherte ihr, dass alles, was ich ihr berichtet hatte, den Tatsachen entspräche und ich nicht die geringste Ahnung hätte, was dort oben in Penrith vor sich ginge. Und außerdem, so fügte ich hinzu, sei ich absolut überzeugt davon, dass es sich hierbei nicht um einen von Nicholas' berüchtigten Späßen handele, denn das Objekt, das Davidson und ich untersucht hatten, war absolut real gewesen.

Trotz meiner Beteuerungen schien Sophie noch immer an meinen Worten zu zweifeln und verlangte, das Artefakt zu sehen. Noch einmal erklärte ich ihr, es sei bei seiner Untersuchung in Davidsons Labor zerstört worden, und als Beweis präsentierte ich ihr den Kristallsplitter, den ich vorsorglich eingesteckt hatte. Sophie war schließlich überzeugt und schlug daraufhin vor, so schnell wie möglich nach Penrith aufzubrechen, um Nicholas unverzüglich über die infernalische Natur jenes Fundstückes in Kenntnis zu setzen und zu ergründen, woher dieses vermaledeite Ding stammte. Ich wollte ihr gerade zustimmen, als mir schlagartig bewusst wurde, dass ich ihr noch nichts von meinen geänderten Reiseplänen erzählt hatte. Ich griff in die Seitentasche meines Sakkos und zog die kürzlich erworbene Fahrkarte daraus hervor. Sophie starrte mich nur ungläubig an. Mit ruhiger, sachlicher Stimme versuchte ich ihr zu erklären, dass mir die ganze Angelegenheit bezüglich jenes Artefaktes und der verwirrenden Nachricht aus Penrith zu gefährlich schien, um sie zu diesem Zeitpunkt darin verwickelt zu sehen. Sollte sich alles nur als ein schlechter Scherz erweisen, fuhr ich fort, würde uns Nicholas zumindest ein opulentes Abendessen schulden. Aber wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass mein alter Studienfreund in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, und meiner Meinung nach deuteten die Umstände darauf hin, wäre es besser, zunächst allein nach Cumberland zu reisen. Darüber hinaus bezog sich die Nachricht unzweifelhaft auf mich – »Alan, ich zähle auf deine Hilfe!«, hieß es dort. Verärgert riss mir Sophie die Fahrkarte aus der Hand und suchte nach dem Abreisedatum. Ich wusste, was jetzt kam. Eine leichte Röte legte sich auf ihre Wangen und ihr Gesicht verhärtete sich. Sie war zwar keine Frau, die hysterisch wurde, aber sie scheute sich auch nicht davor, ihrem Unmut lautstark Luft zu machen. Sie warf mir vor, ich würde maßlos übertreiben und sie nicht wie eine erwachsene Frau behandeln. Die ganze Woche hätte sie sich schon auf die Reise nach Cumberland gefreut und weder ich noch ein wild gewordener Kristallleuchter könnten sie davon abhalten, mich nach Penrith zu begleiten. Ich versuchte, Sophie zu besänftigen, indem ich ihr versicherte, unser gemeinsamer Urlaub würde sich vielleicht nur um ein bis zwei Tage verzögern. Schon morgen um diese Zeit, mutmaßte ich, wäre die Angelegenheit wahrscheinlich aufgeklärt und meine Bedenken hätten sich als Produkt meiner übersteigerten Fantasie erwiesen. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was mich in Penrith erwarten würde. Wie ich bald merkte, musste meine Argumentation für Sophie recht widersprüchlich und unglaubhaft klingen, aber ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen, als ihr schonend begreiflich zu machen, dass ich es besser fände, wenn sie fürs Erste hier in London bliebe. Ich versprach hoch und heilig, ihr sofort nach Klärung der Angelegenheit ein Telegramm zu senden, damit sie sich gleich am nächsten Tag auf den Weg nach Penrith begeben könne. Wie nicht anders zu erwarten, quittierte Sophie meinen Vorschlag mit Ablehnung und zog sich wortlos mit einem Buch für den Rest des Abends in eine abgelegene Ecke unseres Wohnzimmers zurück. Als mir klar wurde, dass sie für eine weitere Argumentation in der nächsten Zeit nicht zugänglich sein würde, kramte ich meine alte, abgewetzte Reisetasche hervor und begann zu packen. Zum Schluss schob ich noch den alten Militärrevolver, den mir mein Vater bei unserem Umzug nach London gegeben hatte, zusammen mit einer Schachtel Patronen zwischen die schon verstauten Kleidungsstücke. Als ich schließlich kurz vor Mitternacht mein Arbeitszimmer verließ, um meine gepackten Sachen für den folgenden Tag griffbereit im Flur zu deponieren, bemerkte ich noch Licht im Wohnzimmer. Ich hoffte, Sophie hatte sich mittlerweile einigermaßen beruhigt und wagte daraufhin einen letzten Versuch, noch einmal mit ihr zu sprechen. Aber das Zimmer war verwaist. Sophie war ohne mich zu Bett gegangen und schlief bereits beziehungsweise gab vor zu schlafen, als ich das abgedunkelte Zimmer betrat. Ich beschloss, es dabei zu belassen, ging zu Bett und wälzte mich für den Rest der Nacht in einem unruhigen, dämmrigen Halbschlaf.

Am nächsten Morgen schwebte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durch die Wohnung und ich hörte, wie Sophie geschäftig mit dem Frühstücksgeschirr klapperte. Entgegen meinen Erwartungen fühlte ich mich relativ ausgeruht und voller Tatendrang. Fest davon überzeugt, unser Streit vom Vorabend sei beigelegt, kleidete ich mich zügig an und begab mich frohen Mutes in das Wohnzimmer. Schon bald bemerkte ich jedoch, dass sich an unserer angespannten Situation nichts geändert hatte. Sophie setzte offenbar am Frühstückstisch ihren am Vorabend begonnenen, lautlosen Protest fort und schien mich weitestgehend zu ignorieren. Nur der Umstand, dass ich gedanklich schon bei meinem Treffen mit Nicholas war, ließ mich dieser Tatsache zunächst keine weitere Beachtung schenken. Selbst als wir kurz danach hektisch das Haus verließen und uns auf den Weg zum Bahnhof machten, kamen nur die nötigsten Bemerkungen über ihre Lippen. Später, als wir dann den Euston Square passierten und es nur noch eine Frage von wenigen Minuten war, bis der Bahnhof in Sicht kommen würde, begann ich mir langsam Gedanken über unseren bevorstehenden Abschied zu machen. Ich hatte kein Verlangen, mich mit quälenden Gewissensbissen in ein unbekanntes Abenteuer zu stürzen, bevor ich mit Sophie nicht ins Reine gekommen wäre.

Unser Cab stoppte und ich wurde abrupt in die Wirklichkeit Londons zurückgerissen. Vor uns ragte das mächtige Säulenportal der Euston Station auf. Ich war erleichtert. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich noch genug Zeit hatte, bequem meinen Zug zu erreichen. Ich bezahlte den Kutscher und verkniff mir dabei einen bissigen Kommentar bezüglich seiner Fahrweise. Sophie war bereits ausgestiegen und wartete in einiger Entfernung mit unbeweglicher Miene vor dem Eingang der Bahnhofshalle. Ich konnte nur raten, was in ihr vorging. Womöglich war sie immer noch darüber verärgert, dass ich sie nicht mitnahm. Warum wollte sie nicht verstehen, dass es so besser für sie war, dass ich sie nur vor unnötigen Gefahren schützen wollte? Resignierend musste ich mir eingestehen, dass ich trotz der vielen Jahre, die ich sie nun schon kannte, vor einem Rätsel stand. In diesen Momenten wünschte ich mir, ich würde die komplizierte Psyche der Frauen besser verstehen. Aber was die Gründe auch waren, ich war einem für mich zu diesem Zeitpunkt weitaus größeren Rätsel auf der Spur, einem Rätsel, das sich durch ein Päckchen aus Penrith manifestiert hatte und von dessen Lösung mich, so glaubte ich damals, nur noch eine mehrstündige Bahnfahrt trennte.

Entschlossen griff ich meine Reisetasche, nahm Sophie bei der Hand und setzte, ohne ihre Reaktion abzuwarten, meinen Weg Richtung Bahnhofshalle fort. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich bemerkte, dass sie keine Anstalten machte, sich meinem Griff zu entziehen. Vielleicht konnte ich in dieser Angelegenheit doch noch mit ihrem Segen rechnen. Als wir den Bahnsteig erreichten, wartete dort schon mein Zug. Kofferträger und Bedienstete verluden gerade die letzten Gepäckstücke in die Waggons, und an den offenen Abteilfenstern und Einstiegen verabschiedete man sich bereits von seinen Angehörigen und Freunden. Am hinteren Ende der Bahnhofshalle wedelte ein korpulenter Schaffner ungeduldig mit den Händen und drängte die letzten Passagiere zum Einsteigen. Der Bahnsteig begann sich allmählich zu leeren und jeden Moment konnte das Signal zur Abfahrt gegeben werden. Ich wuchtete meine Reisetasche in den nächstgelegenen Einstieg und drehte mich voller Erwartung zu Sophie herum. Zunächst versuchte sie meinen Blicken auszuweichen, doch schließlich blickte sie auf und schaute mir in die Augen. Als sich unsere Blicke trafen, stiegen in mir wieder jene Schuldgefühle auf, die mich bereits seit unserer Auseinandersetzung in der letzten Nacht verfolgten. Ich versuchte, mich davon frei zu machen, indem ich mir immer wieder die makaberen Ereignisse in Davidsons Labor ins Gedächtnis rief. Aber vielleicht war meine Vorsicht übertrieben. Was hätte es geschadet, wenn ich sie mitgenommen hätte. Mir wurde klar, in diesem Moment wünschte ich mir von ihr nichts weiter als Verständnis, ja vielleicht sogar Vergebung für mein ungestümes, kindsköpfiges Handeln. Hilflos stand ich vor ihr, schaute in ihre dunklen Augen und hoffte sehnsüchtig auf ein Zeichen. Als dann schließlich das unverkennbare Geräusch sich schließender Waggontüren die baldige Abfahrt meines Zuges ankündigte, erlosch in mir der letzte Funke Hoffnung auf Versöhnung.

Enttäuscht wollte ich bereits in den Waggon steigen, als ein kleines Wunder geschah. Sophies Züge entspannten sich und der Hauch eines Lächelns begann, ihre Lippen zu umspielen. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie. Mir war es egal, was die anderen Leute dachten. Sie erwiderte meinen Kuss und flüsterte mir ins Ohr, ich solle auf mich aufpassen. Ich versprach ihr, keine unnötigen Risiken einzugehen und so bald wie möglich zu telegrafieren. Ich wollte ihr noch mehr sagen, aber in diesem Moment hatte sich bereits der korpulente Schaffner neben uns aufgebaut und nötigte mich mit strenger Miene zum Einsteigen. Ich gab Sophie noch einen flüchtigen Kuss und beeilte mich, in den Waggon zu klettern. Beinahe wäre ich dabei über meine Reisetasche gefallen, die ich kurz zuvor am Einstieg abgestellt hatte. Mein Missgeschick entlockte dem Schaffner lediglich ein missmutiges Kopfschütteln, bevor er seine Kelle hob und dem Lokführer freie Fahrt gab. Sekunden später ging eine sanfte Erschütterung durch den Waggon und der Zug nahm langsam Fahrt auf. Durch das geöffnete Fenster in meinem Abteil konnte ich Sophies zierliche Gestalt erkennen. Ich hob meine Hand und winkte ihr zum Abschied zu. Unsicher und zögerlich erwiderte sie meine Geste. Ich bedauerte, sie jetzt zurücklassen zu müssen. Die letzten Stunden mussten hektisch und enttäuschend zugleich für sie gewesen sein. Aber ich war fest entschlossen, alles wieder gut zu machen. Doch zunächst musste ich klären, was dort in Cumberland vor sich ging. Unwillkürlich begannen meine Gedanken wieder um das merkwürdige Artefakt zu kreisen. In der Zwischenzeit dampfte der Zug mit stetig wachsender Geschwindigkeit weiter Richtung Norden. Ich jedoch stand gedankenversunken am Fenster meines Abteils und bemerkte nicht einmal mehr, wie Sophies Gestalt langsam in der Ferne verblasste und die Euston Station allmählich im grauen, anonymen Häusermeer Londons versank.

Die Dämonen vom Ullswater

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