Читать книгу Staub und Regenbogensplitter - Stella Delaney - Страница 7
ОглавлениеOrange: Durch den Nebel
„Es begab sich, dass einst vor vielen Jahren ein junger Mann in unser Dorf kam. Ein Fremder, von weit her. Sprühend vor Leben, vor Ungeduld. Als er eintraf, brach gerade die Dunkelheit herein, und so verbrachte er die Nacht in unserer Mitte. Er wärmte sich an unserem Feuer, trank unseren Wein und lauschte unseren Geschichten.
Am nächsten Morgen wollte er aufbrechen. Er müsse weiter nach Norden, so schnell wie möglich. Doch wir sahen den Nebel um unser Dorf heraufziehen, und hielten ihn zurück. Luden ihn ein, noch ein paar Stunden bei uns zu bleiben, oder eine weitere Nacht. Warnten ihn. Flehten ihn an. Doch seine Ohren waren taub, seine Augen blind, sein Herz wie aus Stein. So sind die Fremden. Sie können nicht sehen, sie wollen nicht sehen. Und sie weigern sich zu glauben.“
*
Ich mag blind gewesen sein, als ich zum ersten Mal einen Fuß auf dieses Land setzte. Aber dann habe ich schnell verstanden, dass hier vieles anders ist. Die Sprache. Die Menschen. Und ganz besonders die Wälder. Die Bäume wachsen nicht einfach gerade in den Himmel, sie verbinden sich und formen dichte dunkle Hallen, die riesigen Tempeln gleichen, heiligen Stätten für fremde Götter. Die Gesetze der Natur scheinen hier nicht zu gelten, sogar die Zeit verläuft außerhalb der üblichen Bahnen, wenn man diese Heiligtümer durchquert.
Doch sind fremde Welten nicht letztlich dazu da, erobert zu werden? Bin ich nicht aus genau diesem Grund hier? Um allen zu beweisen, dass es sehr viel mehr braucht, um mich davon abzuhalten? Sicherlich mehr als die Kindergeschichten, die der Dorfälteste letzte Nacht im Schein des Feuers zum Besten gegeben hat. Wie du ihn dabei angesehen hast. Mit weit offenen Augen, voller Ehrfurcht, voller Bewunderung.
„Der Nebel ist der Schleier, den die Göttin trägt. Ein Schleier zwischen den Welten. Er ist alt, der Nebel, älter als die Bäume, älter als die Felsen. Er schwebte bereits über allem, als die Welt noch ihre Form annahm. Man muss ihm mit Ehrfurcht begegnen, wie der Göttin selbst. Sie duldet keinen Hochmut.
Doch unsere Worte verhallten ungehört. Der Fremde lachte nur, und trat hinaus in den Nebel. Wir sahen ihn nie wieder. Aber wir hörten Geräusche hinter dem grauen Schleier. Unsägliche Geräusche.“
An dieser Stelle habe ich laut aufgelacht. Vielleicht ein bisschen zu verächtlich. Die Blicke der anderen sind mir egal gewesen, aber deiner hat sich mir in die Seele gebrannt. Dieses Land, dein Land, ist wie du. Anders. Wunderschön. Und stolz.
Es ist schon immer einfacher gewesen, ein Land zu erobern als die Herzen seiner Bewohner. Doch ich habe mich entschieden. Nun liegt das Dorf bereits weit hinter mir, und ich folge dem ausgetretenen Pfad, immer tiefer in den Wald.
Der Nebel umfängt mich wie eine weiche Decke, wie eine Umarmung. Legt sich wie ein Umhang um meine Schultern. Ein magischer Umhang, der meinen Blick trübt, aber gleichzeitig meine Sinne schärft. Was für ein kindischer Gedanke. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht.
Es ist so still hier draußen. Mein einziger Begleiter ist das Rascheln der toten Blätter unter meinen Füssen, gleichmäßig, wie der Rhythmus meiner Schritte. Doch selbst dieser Klang scheint unwirklich, als würde der Nebel ihn dämpfen. Oder ersticken.
Natürlich könnte ich mich jederzeit einfach umdrehen, und –
Mein Blick fliegt über meine Schulter wie der eines aufgeschreckten Rehs. Das Dorf hinter mir ist längst verschwunden, verschluckt vom Nebel. Aber das macht nichts. Das macht gar nichts. Ich muss doch einfach nur den Weg zurückgehen, den ich gekommen bin. Nichts einfacher als das. Ein kleines Kind würde es schaffen.
Gegen meinen Willen werden meine Schritte schneller und schneller.
„Der Nebel ist ein Schleier, den die Göttin trägt.“
Ein Schleier? Eher ein Leichentuch. Dein Volk glaubt auch an Dinge, die im Nebel wandeln. Jagen. Namenlose, unvorstellbare Dinge. In der Sicherheit der Hütte, im warmen Feuerschein, ist es so leicht gewesen, über diese Dinge zu lachen.
Und wieder sehe ich dein Gesicht vor mir. Deine Augen, in einem Moment erfüllt vom gold-orangen Lodern der Flammen, als wären sie deren Ursprung und nicht deren Spiegel, im nächsten hart und kalt wie Glas. Oder wie Edelsteine im Antlitz eines Götterbildes.
Ein klagender Schrei zerreißt die Stille. Was war das? Und vor allem, wo war es?
„Wir hörten Geräusche aus dem Nebel an diesem Tag. Eines davon klang wie ein Wolf, und doch klang es anders.“
Mein Atem geht schwer. Der Nebel presst sich gegen mein Gesicht wie nasses Leinen. Er scheint noch dichter geworden zu sein. Die Umarmung, die ich am Anfang gespürt habe, ist fester geworden, wie die Umklammerung einer ertrinkenden Geliebten.
Bäume treten mir aus dem dichten Weiß entgegen und verschwinden wieder. Sind das dieselben Bäume, oder sind es andere? Wie weit bin ich gegangen? Ich sollte das Dorf längst wieder erreicht haben. Oder nicht?
Ich laufe weiter. Drehe mich um. Laufe zurück. Stundenlang. Eine Ewigkeit lang. Ich habe jeden Sinn für Zeit oder Richtung verloren.
Jetzt bloß keine Panik. Ich muss mich konzentrieren. Aber ich kann nicht. Blätterlose Büsche ragen aus dem Boden wie tote Hände. Blasse, kalte Finger drücken gegen meine Augen, in meinen Kopf.
Da ist der klagende Schrei wieder. Näher als zuvor. So viel näher. Ich drehe mich um mich selbst, starre in die formlose Dichte, die mich umgibt, gehetzt wie ein fliehendes Reh. Wohin?
Schemen bewegen sich hinter dem Nebel. Gestalten, Körper. Ich höre brechende Zweige, Schnauben. Nur noch einen Herzschlag, bis sich der Nebel teilt. Noch einen Herzschlag, bis die Kreatur direkt vor mir steht. Glühende Augen, struppige Haare, Zähne wie Messer. Noch einen Herzschlag, bis ich den Verstand verliere. Doch ich warte nicht ab. Ich renne.
Zweige schlagen mir ins Gesicht und treiben mir die Tränen in die Augen. Blinder als blind stolpere ich vorwärts. Nur weg hier. Nur weg.
Irgendetwas greift nach meinem Bein. Ich verliere den Halt, schwanke, falle, schlage auf dem Boden auf. Das letzte bisschen Luft weicht aus meinen Lungen.
Dann liege ich auf dem kalten modrigen Boden. Außer Atem, fast taub, fast blind, hilflos. Ich kann förmlich spüren, wie sich der Nebel um mich verdichtet. Leuchtet dort nicht etwas? Rotorange, gefährlich, unnatürlich. Höre ich nicht ein Hecheln, ein Knurren? Es kommt näher. Immer näher.
Mit letzter Kraft schließe ich die Augen. Ich versuche, dein Gesicht vor mir zu sehen, doch das Bild verschwimmt immer wieder.
Auf einmal begreife ich, dass ich mehr verlassen habe als nur das Dorf, mehr verloren als nur die Orientierung. Wie konnte ich nur so dumm sein?
Tödliche Stille umgibt mich. Sollte ich beten? Um Gnade flehen? Ich weiß nicht einmal, wie. Oder zu wem.
Wenn es dich gibt, lass mich nicht so sterben.
Und plötzlich höre ich etwas. Ungläubig und benommen richte ich mich auf und lausche in den Nebel. Für einen Moment ist da nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und ich habe Angst, endgültig den Verstand zu verlieren. Aber dann –
Ich kämpfe mich zurück auf die Füße, laufe, stolpere vorwärts.
Da! Da ist es wieder. Ein feines, melodisches Klingen.
Der alte Baum in der Nähe des Dorfes. Die Bewohner halten ihn für heilig und schmücken ihn mit bunten Bändern und kleinen Metallstückchen, die sich beim geringsten Lufthauch bewegen und gegeneinander schlagen. Wie Glöckchen.
Ich strauchele, fange mich auf und schleppe mich weiter. Nebel, nichts als Nebel, und für einen Moment scheint der zarte Klang zu verstummen, als habe er nie existiert. Ich fühle mich wie in einem Fiebertraum.
Doch dann teilt sich der Schleier. Vor mir erhebt sich der alte Baum mit all seinen Verzierungen. Und zu seinen Füssen steht jemand in einem langen Umhang, klein und zerbrechlich gegen den riesigen Stamm.
Die Gestalt dreht sich um, und ich sehe in diese unglaublich blauen Augen, die mich immer an einen perfekten Sommerhimmel erinnern. Nichts kann ihr Leuchten dämpfen, nicht einmal der Sog dieses überirdischen Nebels, der jedes Licht und jede Farbe zu verschlingen scheint.
Da bist du ja, scheint dein Lächeln zu sagen. Und nicht zum ersten Mal frage ich mich, wer hier wen gesucht und gefunden hat. Ich dich, du mich, oder wir uns?
Jetzt, da die Strahlen der Herbstsonne den grauen Schleier durchstoßen und schließlich vollkommen zerreißen, ist es so leicht, das Erlebte zu verdrängen. Es war nur eine Geschichte. Nur ein Traum. Doch meine Sicherheit hat Sprünge bekommen. Dein Land verändert die Menschen, die es betreten.
Stumm reichst du mir ein dünnes Band aus Stoff. Leuchtendes Orange, wie die Flammen des Feuers, wie die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Nur ein Zufall, oder hast du meine Gedanken gelesen?
Ich trete an den Baum heran, greife nach einem der Äste. Atme tief ein. Früher hätte ich mich gefragt, was zum Teufel ich hier tue. Jetzt knote ich das Band sorgfältig fest und konzentriere mich auf meine stille Dankbarkeit. Und auf meinen Wunsch. Dann trete ich zurück und lausche dem feinen Klingen, das in der Luft schwebt.
Du nimmst meine Hand, und ich schließe meine Finger fest um die deinen. Für die anderen mag ich nur ein Fremder sein, einer, der nicht sehen will und der sich weigert zu glauben. Ich mag so vieles nicht wissen, so vieles nicht verstehen, aber was macht das schon? Ich sehe, dass du hier bist. Dass ich hier bin. Dass wir zusammen sind. Ich glaube an uns. Und ich hoffe – nein, ich weiß - dass du das auch tust.